Einleitung
In diesem Beitrag werden die Wirtschaftswachstumsperspektiven Ostdeutschlands im Zeitraum 2020 bis 2060 betrachtet. Wirtschaftswachstum ist zwar kein ökonomisches Ziel an sich; aber die Möglichkeiten, Bedürfnisse nach Konsum, Gesundheit, Freizeit usw. zu befriedigen, hängen von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ab. Ein wichtiges Maß für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist das reale Bruttoinlandsprodukt je Einwohner.
Im Folgenden wenden wir uns in Abschnitt 2 zunächst den Wachstums- und Konvergenzperspektiven Ostdeutschlands vor dem Hintergrund des Konvergenzprozesses in den 30 Jahren nach der Deutschen Einheit zu. Der Abschnitt 3 ist den wirtschaftspolitischen Möglichkeiten zur Förderung des Wirtschaftswachstums in Ostdeutschland gewidmet. Der Beitrag schließt mit einem Fazit in Abschnitt 4.
Wirtschaftswachstums- und Konvergenzperspektiven Ostdeutschlands
Determinanten der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
Im Jahr 2020, 30 Jahre nach der Deutschen Einheit, lag die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Ostdeutschlands, gemessen anhand des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts je Einwohner, bei etwa 76% des Niveaus in den westdeutschen Bundesländern (ohne Berlin), betrachtet man nur die ostdeutschen Flächenländer ohne Berlin, bei etwa 69%.
Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit lässt sich in folgender Formel abbilden:
Y/N = Y/L x L/E x E/N
Das preisbereinigte Bruttoinlandsprodukt (Y) je Einwohner (N) kann in die drei Komponenten Arbeitsproduktivität (preisbereinigtes Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen), Erwerbstätigenquote (Erwerbstätige je Erwerbspersonen) und Anteil der Personen im erwerbsfähigen Alter (Erwerbspersonen) an der gesamten Bevölkerung zerlegt werden:
Dabei bezeichnet L die Erwerbstätigen und E die Personen im erwerbsfähigen Alter.
Der maßgebliche Treiber langfristigen Wirtschaftswachstums ist die Arbeitsproduktivität, denn die Erwerbstätigkeit wird durch die Bevölkerungsentwicklung langfristig beschränkt, auch wenn kurzfristig noch eine Steigerung der Erwerbstätigkeit bei gegebener Bevölkerung möglich scheint, unter anderem weil das Renteneintrittsalter schrittweise auf 67 Jahre steigt. Die Arbeitsproduktivität hängt von der Kapitalausstattung eines Arbeitsplatzes (der Kapitalintensität) und der totalen Faktorproduktivität ab. Letztere ist eine Restgröße: sie beschreibt, welcher Anteil des Wirtschaftswachstums nicht auf den Einsatz zusätzlicher Produktionsfaktoren (Arbeit und Kapital) zurückgeht (Solow 1956, 1957).
Die 1990er Jahre waren dadurch geprägt, dass die Kapitalintensität in Ostdeutschland deutlich gesteigert wurde. Dies geschah sowohl durch Investitionen in die Modernisierung und Erweiterung des Kapitalstocks (Bauten, Maschinen, Fahrzeuge, sonstige Anlagen) als auch durch Entlassung von Arbeitskräften. Kurz nach der Milleniumswende erreichte die ostdeutsche Wirtschaft die Kapitalintensität, die Westdeutschland bereits zehn Jahre zuvor aufwies. Die Arbeitsproduktivität hatte jedoch noch nicht das Niveau erreicht, das in Westdeutschland bei gleicher Kapitalintensität Anfang der 1990er Jahre herrschte. Im Jahr 2018 (neuere Daten für den Kapitalstock liegen derzeit nicht vor) besteht sowohl noch eine Lücke zwischen der Kapitalintensität in Ost- und Westdeutschland also auch zwischen der Arbeitsproduktivität bei identischer Kapitalintensität, also der totalen Faktorproduktivität.
Projektion des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner
In welcher Größenordnung wäre eine weitere Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Ost- und Westdeutschlands in den kommenden Jahren zu erwarten, wenn die Trends der vergangenen Jahre andauern würden? Dieser Frage soll nun mit einem Simulationsmodell nachgegangen werden. Dazu nehmen wir an, dass die Arbeitsproduktivität Westdeutschlands mit der durchschnittlichen Wachstumsrate in den Jahren 2000-2019 zunimmt (Abbildung 1a) und dass sich die ostdeutsche Arbeitsproduktivität mit der durchschnittlichen Geschwindigkeit in diesem Zeitraum weiter an die westdeutsche Arbeitsproduktivität angleicht (Abbildung 1b). Die Anzahl der Erwerbstätigen wird aus der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung für Deutschland (Variante G2-L2-W2, moderate Entwicklung der Fertilität, Lebenserwartung und Wanderung) abgeleitet. Demnach wird die Bevölkerung langfristig schrumpfen, in Ostdeutschland auf 80% des Niveaus von 1991 (Abbildung 1c).