Das Thema einer ostdeutschen Identität bleibt umstritten. Während die Einen 'Ostdeutschsein' als Normalität oder als Widerstand gegen die "westdeutsche Dominanz" bekräftigen und feiern, stellen andere – aus Ost und West – nicht nur die Existenz einer ostdeutschen Identität grundsätzlich in Frage, sondern erkennen im Beharren auf dieser Identität ein wesentliches Hindernis für die Vollendung der Vereinigung (Koch 1998; Ganzenmüller 2020).
Nach 2015, im Zusammenhang mit der politischen Migrationskrise und den Wahlerfolgen der Alternative für Deutschland (AfD), lebte die Debatte erneut auf. Dabei sind es nicht nur Ältere, die sich zu Wort melden, sondern auch Jüngere, die – wie z.B. Valerie Schönian, Johannes Nichelmann oder Daniel Kubiak – neue journalistische oder wissenschaftliche Positionen artikulieren.
Im Folgenden soll das hartnäckige Problem ostdeutscher Identität nicht nur mit Blick auf die letzten drei Jahrzehnte, sondern auch auf die Zukunft unserer Gesellschaft aufgeklärt und kritisch diskutiert werden. Aus pragmatischen Gründen werden hier Bürgerinnen und Bürger als Ostdeutsche bezeichnet, die bis 1990 in der DDR oder nach 1990 in den neuen Bundesländern und Ostberlin geboren und/oder dort wesentlich aufgewachsen sind und leb(t)en.
Soziale Identität – was ist das eigentlich?
Beim Thema menschlicher Identität geht es um komplexe Prozesse der Grenzziehung, Selbst- und Fremdbestimmung sowie der sozialen Konstruktion von und zwischen Individuen und sozialen Gruppen (Abels 2017).
Neben der personalen Identität, die sich auf die organismische wie psychische Identität einzelner Menschen bezieht, gibt es in menschlichen Gesellschaften soziale Identitäten, von denen jeder Mensch mehrere besitzt (wie Frau, Sächsin, Ingenieurin, Fußballspielerin, FDP-Mitglied). Es handelt sich hierbei um individuenübergreifende Identifikationsprozesse, die sich vom Einzelwesen ablösen und eine mindestens abstrakte Gruppe mit ähnlichen Lebensbedingungen, Lebensführungen oder Handlungsorientierungen konstituieren sowie Zugehörigkeiten stiften (können). Exemplarisch kann auf berufliche Tätigkeiten verwiesen werden. Wer ich (nicht) bin, definiert sich heute in hohem Maße über Anforderungen, Einkommenschancen und das Ansehen von Erwerbstätigkeit und Beruf. Generell stellen soziale Rollen – neben Berufs– etwa auch Familienrollen (z.B. Kinder oder Großeltern) – typische soziale Identitäten dar, die sich als gesellschaftlich generierte normative Erwartungsbündel und deren Umsetzung in sozio-kulturellen Praktiken begreifen lassen.
Kollektive Identitäten bezeichnen soziale Identitätsmuster, die sich neben dem Normengehalt durch einen Gemeinschaftsanspruch und Wir-Gefühle auszeichnen. Mitglieder sozial integrierter Gruppen (sog. in-groups) tauschen sich nicht nur intensiver untereinander aus und unterstützen sich selbstverständlich(er) als sie das mit Angehörigen von out-groups praktizieren; sie prägen damit auch das Denken und Handeln der Individuen in hohem Maße.
Gibt es eine ostdeutsche Identität? Eine empirische Erkundung
Eine empirische Antwort auf diese Frage lässt sich zunächst mit Einstellungsdaten gewinnen. Danach wird seit den frühen 1990er Jahren durch die Bevölkerung der fünf östlichen Bundesländer und Ostberlins eine beachtliche allgemeine Verbundenheit mit "Ostdeutschland" artikuliert (Tab. 1), die als guter Indikator für eine soziale Identifikation angesehen werden kann.
Tabelle 1: Verbundenheit mit Ostdeutschen/Ostdeutschland (1992-2020)*
1992 | 1997 | 2000 | 2003 | 2006 | 2009 | 2011 | 2014 | 2020 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|
69** | 80 | 77 | 73 | 67 | 70 | 69 | 66 | 77** |
Tabellenbeschreibung
Erläuterungen:
Fußnote: * Anteile der Antworten "ziemlich stark" und "stark" oder "ziemlich" und "sehr verbunden" jeweils in v.H.
Fußnote: ** Während die Daten für 1997-2014 einer Umfrageserie entstammen (Sozialreport), verdanken sich dies Werte zwei weiteren und unterschiedlichen Befragungen (siehe Neller 2006, Deutschland-Monitor 2020) und sind daher nur bedingt mit den anderen Werten vergleichbar.
Quellen: Neller 2006: 23; Sozialreport 2014: 31-33; Deutschland-Monitor 2020: 38.
Es sind durchgehend mindestens zwei Drittel der erwachsenen Wohnbevölkerung, die für sich eine (ziemlich) starke Verbundenheit mit dem ostdeutschen Landesteil markieren, wobei sich nach einem Aufschwung (bis 1997) ein leichter Abschwung erkennen lässt, der zuletzt (2020) wieder umgekehrt wurde. Differenziert man die Befunde soziodemographisch, zeigt sich, dass die Verbundenheit mit Ostdeutschland etwa bei Arbeitslosen deutlich höher und bei höher Gebildeten und besser Verdienenden eher geringer ausgeprägt war und ist. Hinsichtlich der Altersgruppen ist auffällig, dass die über 60-Jährigen schon seit Mitte der 1990er Jahre klar überdurchschnittliche Verbundenheit artikulierten (mit einem Plus von 10 bis über 15 Prozent), wohingegen die unter 30-Jährigen noch deutlicher unterdurchschnittliche Verbundenheit zeigten (minus 20-25 Prozent) (z.B. Sozialreport 2014: 31ff.).
Mit Blick auf konkurrierende Identitäten lassen sich diese Umfragedaten noch einmal schärfen, insbesondere soweit Priorisierungen erbeten werden, etwa zwischen den Verbundenheiten mit Ostdeutschland, Westdeutschland und Gesamtdeutschland. Hier lässt sich ein klarer Trend der zunehmenden Identifikation der Ostdeutschen mit Deutschland erkennen – von etwa einem Drittel Anfang der 1990er Jahre auf bis zu zwei Drittel 2020 bei gleichzeitiger Abnahme der prioritären Verbundenheit mit Ostdeutschland von über 65% auf ca. 30% der Befragten (Forschungsgruppe Wahlen 2020).
Seit Anfang der 1990er Jahre lässt sich also eine soziale Identität als Ostdeutsche in der Bundesrepublik Deutschland empirisch nachweisen, da ein zwar abnehmender, aber bis heute relevanter Teil der Bevölkerung der östlichen Bundesländer diese sozialräumliche oder gruppenbezogene (Primär-)Identität in Umfragen behauptet. Warum, wie und mit welchen Folgen gibt es aber diese ostdeutsche Identität?
DDR-Gesellschaft, Gesellschaftstransformation und (ostdeutsche) Identität
Soziale Identitätsformationen in Ostdeutschland seit 1989/90 können ohne die Berücksichtigung der DDR-Gesellschaft kaum angemessen erklärt werden. Bereits der Umstand, dass eine deutliche Mehrheit der heute in den neuen Bundesländern Lebenden vor 1975 geboren und daher wesentlich in der DDR primärsozialisiert wurde, plausibilisiert dieses Erfordernis. Diese mittlerweile mindestens 47 Jahre alten Menschen eigneten sich essenzielle soziale Bindungs- und Identitätsmuster noch in der DDR an. Das gilt etwa für familiäre Rollen, das Verständnis von Freundschaft und Heimat oder die Auffassungen von Kollektiven und der Rolle des Individuums darin; es betrifft aber auch explizit politisch-kulturelle oder gesellschaftspolitische Auffassungen, z.B.: Wer gehört zum Volk? Was darf und soll der Staat leisten? Insgesamt wurden die aus der DDR stammenden Ostdeutschen in ihren sozialen Identitäten, Mentalitäten und Habitus, also grundlegenden Wahrnehmungs-, Denk- und Urteilsschemata, wesentlich von und durch die DDR-Gesellschaft sowie die konkreten sozialen Um- und Mitwelten ihres dortigen Aufwachsens geprägt (Engler 1999; Neller 2007).
Darüber hinaus beeinflusste sie die Periode des 1989 begonnenen gesellschaftlichen Umbruchs. Gesellschaftstransformationen wie die ostdeutsche (Enders/Kollmorgen/Kowalczuk 2021) öffnen Zeit- und Handlungsräume exzeptioneller 'Identitätsarbeit'. Je bruchhafter und revolutionärer die Transformation realisiert wird, desto stärker ergreifen diese Zeit- und Handlungsräume alle Ebenen und Formen menschlicher Identitäten, wobei das noch einmal gesteigert für Kinder und Jugendliche gilt (z.B. Lettrari et al. 2016). Hervorzuheben sind drei identitätsbezogene Folgen transformativer Umbrüche:
Sie führen zu Verunsicherungen, Erschütterungen oder Auflösungen sozialer Zugehörigkeiten, Identitätsmuster und Gemeinschaften – wie Berufsbilder oder dem Ansehen und Selbstverständnis sozialer Milieus und Kollektive (von der "sozialistischen Intelligenz" bis zum "Betriebskollektiv").
Ein Reaktionsmuster darauf ist ein Rückgriff auf tradierte, Handlungssicherheit, soziale Bindung und Wir-Gefühl versprechende soziale Identitäten, was vielfach den Bezug auf vermeintlich 'natürliche' Gemeinschaften (Familie, Region, Ethnie, Nation) oder eine retrospektive Verklärung der gerade untergegangenen Gesellschaft – Stichwort "Ostalgie" (Neller 2007) – beinhaltet. Zugleich erfuhr aber 'das Volk' als handlungsmächtiges Kollektivsubjekt in der Friedlichen Revolution eine Aufwertung.
Der Sog einer Identitäts(re)formierung
Interner Link: wird von den neuen (Deutungs-)Eliten (einflussreiche Intellektuelle zwischen Politik, Kultur und Massenmedien) zur Fundierung der Transformation bedient und genutzt.
Ostdeutsche Identität als Ergebnis der deutschen Vereinigung?
Trotz der Relevanz der DDR- und Transformationsgeschichte bis 1990 sind die konkreten Ausrichtungen und Inhalte (Wahrnehmungen, Stereotype) ostdeutscher Identität ohne den Bezug auf die Vereinigung und deren Folgen nicht gehaltvoll erklärbar. Insofern ist die – dabei heterogene und sich anhaltend entwickelnde – ostdeutsche Identität das Ergebnis des deutschen Vereinigungsprozesses (Engler 1999; Engler/Hensel 2018; Kubiak 2020). Das soll in vier Schritten kurz entwickelt und dargestellt werden.
Beitrittsmodus und Folgen
Der Vollzug der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 auf dem Wege des "Beitritts" (nach Art. 23 des alten Grundgesetzes) bedeutete zunächst, dass die Ostdeutschen nicht länger souverän über ihr Schicksal im eigenen Staatswesen entscheiden konnten. Mit dem Beitritt wurde Ostdeutschland nicht nur institutionell in die Bundesrepublik "inkorporiert" (Karl Ulrich Mayer). Vielmehr wurden die Ostdeutschen – mit ca. 17 Prozent Bevölkerungsanteil, als fünf von sechzehn Bundesländern und als Wirtschaftsregion mit einem Anteil von zunächst unter 10 Prozent des gesamtdeutschen Bruttosozialproduktes – zu einer Minderheit, genauer: einer Minderheit mit unterdurchschnittlicher ökonomischer Leistungskraft, mithin struktureller Abhängigkeit vom Westen, sowie politischer, sozialer und kultureller Unerfahrenheit. Mehr noch, der unter breiter Zustimmung der Bevölkerung vollzogene Beitritt beinhaltete das Programm einer Vereinigung durch Anpassung des Ostens und seiner Bürger*innen an den Westen. Schon dieser Basismodus der Vereinigung musste nach den herrschenden Regeln sozialer Anerkennung die Ostdeutschen im vielfachen Sinne als 'mindere Brüder und Schwestern' erscheinen lassen, also gegenüber den Durchschnittswestdeutschen abwerten: Die (durchschnittlichen) Ostdeutschen waren weniger, besaßen weniger, leisteten weniger und wussten weniger. Zeitgleich wurden den Ostdeutschen mit Blick auf ihr Selbstverständnis und ihr Zugehörigkeitsgefühl zugemutet, in der neuen Bundesrepublik schnellstmöglich anzukommen, sich anzupassen und in ihr kulturell aufzugehen – trotz der getrennten gesellschaftlichen Entwicklungen und ganz eigener Lebensläufe sowie individueller Erfahrungsräume zwischen 1945 und 1990 (Kollmorgen 2011).
Die diskursive Subalternisierung der Ostdeutschen
So wirkmächtig diese mit dem Beitritt gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen und Dynamiken auch waren, die Wahrnehmung Ostdeutschlands und die Identität der Ostdeutschen sind dadurch allein nicht hinreichend zu erklären. Sie sind auch und wesentlich ein Produkt der hegemonialen, d.h. der seit Anfang der 1990er Jahre herrschenden und von der Masse der Menschen anerkannten Diskurse.
Analysiert man exemplarisch die massenmedialen Diskurse bis Mitte der 2000er Jahre (Kollmorgen/Hans 2011), wird neben einer fast kontinuierlichen Abnahme der Befassung mit dem Gegenstand sowie einer zunehmenden Platzierung des Themas in den Bereichen Feuilleton und Unterhaltung (also einer tendenziellen Entpolitisierung) einerseits die Exotisierung der Ostdeutschen, d.h. die Thematisierung ihrer vermeintlichen Besonderheiten, Abweichungen und Anomalien gegenüber Westdeutschland, erkennbar. Anderseits wurden ostdeutsche 'Idiosynkrasien' und Transformationsprobleme häufig skandalisiert, d.h. der öffentlichen Erregung, Lächerlichkeit, aber auch distanzierenden Belehrung preisgegeben. Die wichtigsten skandalträchtigen Themen waren "Vergangenheitsbewältigung" ("DDR-Herrschaftsregime", "SED"- oder "Stasi-Seilschaften", "Dopingpraxis" usw.), Transferproblematik ("Daueralimentierung des Ostens”, "Milliardengrab Ost" oder Rentenhöhen im Osten), Politik und Personal der Partei PDS, später Die Linke sowie rechtsextremistische Vorfälle, Bewegungen und Parteien ("ostdeutsche No-Go-Areas", "Dunkeldeutschland"). Ostdeutschland und Ostdeutsche erschienen damit zwischen Anfang der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre in den hegemonialen, die gesamtdeutsche Öffentlichkeit wesentlich gestaltenden Massenmedien vor allem:
als geschichtlich, insbesondere durch das negativ bewertete "Herrschaftsregime der DDR" (aus-)gezeichnete Bevölkerungsgruppe,
als besondere, näher als exotische, zurückgebliebene und abgeschlagene Peripherie, die gegenüber den westlichen Regionen einen deutlichen Nachhol- und Anpassungsbedarf zeigt,
als passive, abwartende, (er)leidende (jammernde), zugleich aber auch zunehmend fordernde regionale Bevölkerungsgruppe,
als längerfristig hilfebedürftige und damit die bundesrepublikanische Gesellschaft (vor allem in ihrem Massenwohlstand) belastende Region,
als Region, für die negative Zukunftsaussichten bestehen,
und insgesamt als das Andere der westdeutschen Normalität.
Zusammenfassend handelte es sich in dieser Periode um eine diskursive Subalternisierung der Ostdeutschen und Ostdeutschlands, die eine Subjekt- und eine Objektebene umfasst. Zum einen geht es darum, worüber (nicht) und wie über Ostdeutschland gesprochen wird, wobei alles Unpassende – die Erfolge und Vorteile des Ostens, aber auch: das Rückständige und Problematische im Westen (etwa der Strukturwandel im Ruhrgebiet oder der westdeutsche Rechtsextremismus) – tendenziell ausgeblendet wird. Zum anderen handelt es sich darum, wer und wie darüber legitimerweise sprechen darf. Ostdeutsche (mit DDR-Herkunft) waren nur zu bestimmten Themen (wie Oppositionelle zur DDR-Geschichte) und in bestimmten Rollen (harte/r Kritiker/in oder Komödiant/in) gefragt, befanden sich sonst aber in der zweiten Reihe und konnten im Regelfall nicht autonom bestimmen, was und wie berichtet wird.
Bedrohte und bedrohende ostdeutsche Identität
Da in den 1990er Jahren nicht nur in den Massenmedien, sondern auch in den Diskursfeldern der Politik und selbst in den Geschichts- und Sozialwissenschaften der "Osten" subalternisiert wurde, erfuhren viele Ostdeutsche unter Hinweis auf ihre Geschichte im "falschen" System der DDR wie auf ihre Gegenwart als "verlorene" Region, Arbeitskräfte oder Generation eine soziale Identitätsbedrohung. Westdeutsche Deutsche konnten, sollten und wollten sie nicht werden; Ostdeutsche wollten sie zwar sein – freilich nicht so, wie die westdeutsche Öffentlichkeit sie (überwiegend) zeichnete. In Reaktion darauf wurden nicht nur der Machtkonstellation weitgehend entsprechende Stereotypen gegenüber den Westdeutschen entwickelt. Vielmehr betonten gerade ältere und sich als Verlierer der Einheit begreifende Bürgerinnen und Bürger im Bewusstsein einer geteilten, nicht zuletzt Bedrohungs- und Abwertungserfahrung im Vereinigungsprozess widerständig ihre ostdeutsche Identität. Die Abwertungserfahrungen kondensierten in der Selbstwahrnehmung eines "Bürgers zweiter Klasse", die in den 1990er Jahren von bis zu drei Vierteln und zuletzt noch von 40 bis über 60 Prozent der Ostdeutschen geteilt wurde (Kollmorgen 2011; Deutschland-Monitor 2020).
Aus der Wahrnehmung bedrohter Identität konnte aber auch eine bedrohende Identität werden. Auf Grundlage langfristig gewachsener regionaler Mentalitäten, bestimmter politisch-kultureller Traditionen der DDR (etwa ethnisches Volksverständnis, Fremdenangst) sowie unter Aktivierung populistischer Abwehr- und Protesteinstellungen, die zwischen 1989 und 1991 formiert wurden, entstanden ostdeutsche Identitätsformationen und regionale Bewegungen, die nicht nur aggressiv gegenüber allen (unbekannten) Westdeutschen vorgingen, sondern auch gegen alle und alles, das fremd erschien und sich den von diesen Gruppen erklärten ostdeutschen Normalitätsvorstellungen verweigerte – worunter "Ausländer" und "Asylanten" ebenso fielen wie "Ausländerfreunde", Außenseiter und liberale oder linke Jugendliche. Der Übergang zum – vielfach durch westdeutsche Kader geleiteten – organisierten Rechtspopulismus (etwa in Gestalt der AfD) und Rechtsextremismus war und ist fließend (Kollmorgen 2021; Lühmann 2021).
Ostdeutsche Identität(en) zwischen Eigensinn, Autonomie und Avantgarde
Nicht nur die bedrohende Identität, sondern auch der hegemoniale Identitätsdiskurs blieb nicht unwidersprochen. Schon seit den frühen 1990er Jahren wird von vor allem kritischen Ostdeutschen problematisiert, wie den diskursiven und materiellen Subalternisierungen der Ostdeutschen progressive Alternativen entgegengesetzt werden können (Koch 1998). Diese Bewegung hat durch die Beteiligung der jungen Generationen – darunter der Initiative "Dritte Generation Ost" (Lettrari et al. 2016) – an Dynamik und Einfluss gewonnen (Engler/Hensel 2018; Kubiak 2020; Lühmann 2021; Schönian 2020). Wichtige Zielpunkte sind die Ablehnung einer polaren ost-westdeutschen Identitätskonstellation (und die Betonung pluraler sozialer Identitätsmuster und kollektiver sowie solidarischer Handlungschancen), die Entwicklung ostdeutschen Eigensinns und autonomer Identitätsformationen unter Integration des historischen Erbes und der kritischen Reflexion des Vereinigungsprozesses sowie die Freilegung avantgardistischer Perspektiven und Projekte aus Ostdeutschland, die sich der Logik des ostdeutschen Defizits, Nachholens und Anpassens widersetzen. Zusammen mit den längerfristig wirksamen strukturellen und institutionellen Transformationen im Osten gelang es durch jene Gegendiskurse ab Anfang der 2000er Jahre, die bis dahin dominierenden Positionen in Politik, Wissenschaft und Massenmedien und damit auch die Selbst- und Fremdwahrnehmungen der Ost- und Westdeutschen schrittweise zu verändern (Engler/Hensel 2018; Kollmorgen/Koch/Dienel 2011; Schönian 2020).
Zukünfte der ostdeutschen Identität – vier Thesen
Abschließend sollen vier Thesen zur Zukunft ostdeutscher Identität formuliert werden:
Ostdeutsche Identität gibt es weder im Singular noch als kollektive Identität. Dazu sind die gesellschaftlichen Strukturen, Kulturen und Biographien vor und nach 1989/90 in Ostdeutschland zu heterogen. Ostdeutschsein ist eine unter vielen sozialen Identitäten, die individuell höchst vielfältig interpretiert wird und nur als ein relevantes Element in die mögliche Formierung kollektiven Handelns in den ostdeutschen Regionen eingeht.
Eine soziale Identität als Ostdeutsche/r wird es mindestens so lange als relevante Identitätsformation geben, so lange die Generationen der noch in der DDR Geborenen eine gesellschaftlich und politisch aktive und Einfluss nehmende Gruppe darstellen. Das wird in den kommenden zwanzig bis dreißig Jahren sehr wahrscheinlich der Fall sein. Zugleich wächst der Anteil der (vor allem jüngeren) Individuen mit ostdeutscher Herkunft oder Abkunft, für die eine ostdeutsche Identität nur noch unter besonderen Bedingungen und in spezifischen Situationen Orientierungs- und Handlungswirksamkeit entfaltet (wie angesichts der AfD-Wahlergebnisse im Osten, in ost-westdeutschen Verteilungskämpfen, im Umgang mit der DDR-Geschichte usw.), wie der Anteil derjenigen stetig zunimmt, die sich in ihren Identifikationen nicht mehr in das Schema Ostdeutsche vs. Westdeutsche pressen lassen (wollen), weil sie zwischen Ost und West aufgewachsen sind. Offenkundig wird die zu Beginn präsentierte Definition "Ostdeutscher" mehr und mehr an Reichweite und Sinn verlieren (Kubiak 2020; Schönian 2020; Vogel/Leser 2020).
Dennoch ist es nicht ausgeschlossen, dass auch in späteren Jahrzehnten relevante Gruppen eine ostdeutsche Identität behaupten oder ihnen eine solche von Dritten zugeschrieben wird. "Ostdeutsch" könnte im Anschluss an gegenwärtige Semantiken weiter als Chiffre für periphere, ärmere und verlorene Regionen und Bevölkerungsgruppen funktionieren (wie das italienische Mezzogiorno). Die damit bedrohte Anerkennung und Identität gerade weniger gebildeter, einkommensschwacher und wirtschaftlich prekarisierter Bevölkerungsgruppen in Ostdeutschland kann anhaltend oder neu zu Orientierungen und Aktionen bedrohender sozialer Identität führen, einschließlich rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Politikerfolge. Das hängt von der weiteren Vereinigungs- und generell Gesellschafts- und Integrationspolitik in der Bundesrepublik ab. Umgekehrt gilt, dass die Existenz ostdeutscher Identität(en) nicht zwingend eine solidarisch orientierte soziale Integration behindert, wie das für alle sozialen und kollektiven Identitäten gilt, so lange sie nicht einen allein negativen bzw. abwertenden, polarisierenden, exkludierenden oder instrumentellen Charakter tragen bzw. zugeschrieben bekommen.
Ostdeutsche Identität ist – auch deshalb – bereits heute Teil der Debatten um (postmoderne) Identitätspolitiken, die um das Thema autonomer Selbstidentifikation marginalisierter Gruppen und deren gesellschaftlicher Anerkennung kreisen. Ostdeutsche findet sich hier neben Menschen mit Migrationshintergrund, mit Behinderungen oder Angehörigen der LBGTQIA+-Gemeinschaft . Dabei ist offen, mit welchen Konflikten, Prozessdynamiken und längerfristigen Folgen die weitere Entfaltung identitätspolitischer Logiken für die ostdeutsche Identitätsformierung und für die gesamtgesellschaftliche Integration verbunden sein wird.