In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Lebensbedingungen in Ost- und Westdeutschland zunehmend angeglichen (
Zwischen 1991 und 2006 hielten 73 bis 81 Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern rückblickend den Sozialismus für eine "gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde" (ALLBUS 2007: 115). In der Bewertung schwingen Nähe und Distanz zum System der DDR gleichermaßen mit. Die Sichtbarkeit und Allgegenwärtigkeit der Diktatur bedeutete für die Menschen in der DDR, besonders nach dem Bau der Berliner Mauer, sich mit den Gegebenheiten abfinden zu müssen. Doch wie zufrieden war die Bevölkerung der DDR mit ihrem Leben?
Lebenszufriedenheit und subjektives Wohlbefinden - Definition
Lebenszufriedenheit ist die zum Ausdruck gebrachte subjektive Einschätzung, ob und in welchem Maß eine Person mit den Lebensbedingungen in ihrem Umfeld zufrieden ist (vgl. Gabriel u.a. 2015: 104). Das subjektive Wohlbefinden umfasst neben der allgemeinen Lebenszufriedenheit auch die empfundene Zufriedenheit in unterschiedlichen Lebensbereichen, wie Gesundheit, Partnerschaftsstatus, Einbindung in soziale Netzwerke, Beruf, Einkommen/Vermögen, Wohnsituation, wirtschaftliche Entwicklung, Freizeit, Schutz der Umwelt sowie übergeordnete Rahmenbedingungen, wie die politische Ordnung und die Sorge um die Entwicklung von Kriminalität und Frieden (vgl. Baier/Boehnke 2007). Jedoch ist nicht nur die individuelle Perspektive bedeutsam. Auch das aggregierte subjektive Wohlbefinden ist ein Indikator dafür, inwieweit gegebene Entfaltungsmöglichkeiten mit den Bedürfnissen der Bürger*innen im Einklang stehen (vgl. Veenhoven 1997: 268).
Generationen der DDR-Bürger*innen
Wie in jeder Gesellschaft war Lebenszufriedenheit auch in der DDR ein Ausdruck altersbedingt unterschiedlicher Erfahrungshorizonte derselben Lebensumstände. Die Erfahrungen aus Kindheit, Jugend, frühem, mittlerem sowie spätem Erwachsenenalter sind dabei stets in Bezug dazu zu setzen, welche Möglichkeiten sich in der Aufbau- und Aufbruchszeit, in der Stabilisierung bzw. Stagnation wie auch in Krisen-, Umbrüchen- und der Phase des Zusammenbruchs der DDR boten (vgl. Ahbe/ Gries 2006a: 90). Die Generationen von DDR-Bürger*innen unterschieden sich untereinander zudem teils stark in ihren Erfahrungen, ihrer Systemidentifikation sowie ihren Zukunftserwartungen, was wiederum erheblichen Einfluss auf die Lebenszufriedenheit der Menschen hatte. So stellte sich die DDR gleichzeitig für die verschiedenen Generationen sehr unterschiedlich dar (vgl. Ahbe 2007: 38f.). Über alle Generationen hinweg, mit leichten Schwankungen zu der einen oder anderen Seite, gab es bezüglich der Systemzufriedenheit eine Dreiteilung der DDR-Bevölkerung in die Minderheiten der Systemanhänger und der Systemkritiker sowie eine große Mehrheit der Angepassten (vgl. Holtmann u.a. 2015).
Die Generation der misstrauischen Patriarchen
Als Generation der misstrauischen Patriarchen wird in der Literatur eine kleine und prägende Gruppe von zumeist kommunistischen Mitbegründer*innen der DDR verstanden. Unter ihren Altersgenossen stellte sie eine isolierte Minderheit mit einem eigenen Lebensstil und Habitus dar. Die Jüngsten unter ihnen wurden während des Ersten Weltkrieges geboren, die Ältesten in den 1890er Jahren. Die Generation war gezeichnet von zwei Weltkriegen und ihren Nachwirkungen, von Not und existentieller Unsicherheit, politischer Verfolgung und den besonderen Erlebnissen des politischen Kampfes bzw. Widerstands. Diese Erlebnisse prägten zeitlebens die Weltanschauung und die Handlungsweisen der Angehörigen dieser Generation. Sie fungierten in der DDR als Träger, Interpreten und Vermittler des Sozialismus. Sie versuchten damit, ihre traumatischen Erfahrungen mit der Hoffnung auf eine große politische Zukunftschance zu kompensieren. Ihre politische und kulturelle Einstellung wies dabei geradezu zivilreligiöse Züge auf (vgl. Ahbe/ Gries 2006a: 92f.). Aufgrund der im NS-Staat gemachten Erfahrungen fehlte ihnen auch nach Gründung der DDR das Grundvertrauen in ihre Mitmenschen. Für sie bedeutete Demokratie die unanfechtbare Vormachtstellung der marxistisch-leninistischen Partei (vgl. Fulbrook 2019).
Die Aufbaugeneration
Eine tief gespaltene Generation bildete die Aufbaugeneration der DDR, zu der die Jahrgänge 1925 bis 1935 gehören. Ihre Kindheit verbrachte diese Generation in den Vorkriegsjahren des Nationalsozialismus (Ahbe/Gries 2006a: 94). Unter dem Diktat der misstrauischen Patriarchen bauten sie die DDR auf. In keinem anderen DDR-Generationszusammenhang war der soziale Aufstieg so stark verbreitet. Die DDR bot, insbesondere den Frauen, soziale Chancen und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten, die vom starken Fach- und Führungskräftebedarf sowie von der programmatischen Förderung von Arbeiter- und Bauernkindern angetrieben wurden. So stellten Mitglieder dieser Jahrgänge überproportional oft Leistungsträger der DDR (Ahbe/ Gries 2006a: 94).
Zudem waren viele DDR-Bürger*innen dieser Jahrgänge ausgesprochen systemtreu. Nur wenige von ihnen waren Kirchgänger*innen (vgl. Fulbrook 2019). Planbarkeit, Leistung und Erfolg waren die Maxime dieser Generation. Die Menschen versuchten mit Ausdauer, aber kaum rebellisch, ihr Leben zu meistern. Die Aufbau-Generation wurde in besonderer Weise vom Bau der Mauer betroffen. Bis zum Mauerbau 1961 gab es noch die Möglichkeit, über Berlin in die alten Bundesländer auszuwandern. Die Menschen dieser Generation waren damals jung und gut ausgebildet und hätten in der Bundesrepublik eine neue Existenz aufbauen können. Der systemloyale Teil blieb freiwillig in der DDR (vgl. Ahbe 2007: 45f.; Ahbe/Gries 2006a: 95). Als sich die Geschichte der DDR dem Ende zuneigte, hatten auch die Angehörigen der Aufbau-Generation das Rentenalter erreicht und griffen kaum mehr in die politischen Auseinandersetzungen der 1980er Jahre ein. Die neuen Reise- und Konsummöglichkeiten, die sich nach der Wende boten, nutzten sie indessen aktiv (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 95).
Die funktionierende Generation
Als funktionierende Generation werden die zwischen Mitte der 1930er bis Ende der 1940er Jahre geborenen Jahrgänge zusammengefasst (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 96ff.). Angehörige dieser Jahrgänge sind geprägt durch die in ihrer Kindheit und Jugend erlittene Kriegsnot. Sie lernten schnell, unauffällig sowie pragmatisch zu sein, eben: zu funktionieren (vgl. Brähler u.a. 2004). Zu ihren Verhaltensregeln gehörte es, nicht negativ aufzufallen, sich nicht entmutigen zu lassen, sich durchzukämpfen sowie keine Fragen zu stellen und nicht anzuklagen. Aus dieser Generation entsprang eine Vielzahl von Bürgerrechtler*innen, welche die friedliche Revolution vorbereiteten und anführten (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 96; Land/ Possekel 1998; Grunenberg 1993). Nach 1990 erging es den Angehörigen dieser Generation schlechter als der Aufbau-Generation. So mussten sie sich den neuen Herausforderungen des Berufslebens unter westlichen Bedingungen bzw. der Arbeitslosigkeit stellen (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98). Sowohl in den 1970er und 1980er Jahren als auch nach 1990 steckten sie in zweitrangigen Positionen ohne Aussicht auf größere Karriereschritte fest. Zuerst besetzte die Aufbau-Generation diese Posten, nach der Wiedervereinigung waren dies häufig Altersgenossen aus den alten Bundesländern (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98; Haupt/Liebscher 2005: 129).
Die integrierte Generation
Die "Integrierten" wurden in den 1950er Jahren geboren und ausschließlich vom DDR-Sozialismus geprägt. Noch bevor sie erwachsen waren, existierte bereits die Mauer zum Westen. In ihrer (Aus)Bildungszeit trafen sie auf Lehrer*innen aus der Aufbau-Generation und wurden im Sinne des offiziellen DDR-Bildes sozialisiert. Ihre Welt war geprägt von sozialer Stabilität, Frieden, mäßig steigendem Wohlstand, teils verordneter, teils gelebter Solidarität und einem in manchen Strukturmerkmalen modernen Bildungssystem. Für sie war vieles Normalität, was für die vorherigen Generationen als besonderes Glück oder Luxus galt.
Ende der 1970er Jahre sowie in der Zeit von Glasnost und Perestroika versiegten ihre Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung und kulturpolitische Liberalisierung. Der Zugang zu West-Medien bot Anschluss an westliche Diskurse, womit das Streben nach Selbstverwirklichung einherging. Der politisierte Teil dieser Generation setzte sich aktiv für langfristige Reformen ein, der bürgerrechtlich orientierte Kern schloss sich der Bewegung der funktionierenden Generation an. Die Menschen dieser Generation sind die einzigen, deren Angehörige in zwei Systemen im Erwerbsleben standen und stehen. (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 98). Nach der Wiedervereinigung waren sie, besonders die Frauen, die eigentlichen Wendeverlierer*innen. Sie hatten oftmals ihre sicheren Arbeitsplätze sowie Betreuungsplätze für ihre Kinder verloren, ihre Bildungsabschlüsse wurden teilweise entwertet. Für den Ruhestand waren sie noch zu jung, als Alternativen standen oft nur Umschulung oder andere Maßnahmen des Arbeitsamtes zur Verfügung. In die Selbständigkeit begaben sich von ihnen nur wenige (
Die entgrenzte Generation
Die Angehörigen der entgrenzten Generation wurden zwischen 1960 und 1972 geboren. Sie absolvierten als letzte Generation ihren Schulabschluss und eine Ausbildung in der DDR. Der Werthorizont und die Sinnvorstellungen dieser Generation griffen, nicht zuletzt durch die westdeutschen Medien vermittelt, über die DDR hinaus. Diese Generation war geprägt von einer neuen Balance zwischen alltagskulturellen Konventionen und individuellen Lebensentwürfen (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 100f.). Sie strebten nach Abwechslung und Konsum (vgl. Gensicke 1992). Ein Generationenkonflikt fand kaum statt. Sie waren tendenziell unideologisch, hatten eine eher pragmatische und visionslose Haltung und rebellierten nicht. Persönliche Bindungen, Heimat und erlebte Geborgenheit bildeten wichtige Identifikationspunkte dieser Generation (vgl. Förster 1999: 102). Die soziale Sicherheit in der DDR wurde von dieser Generation eher als gegeben hingenommen und nicht weiter wertgeschätzt. Der Sozialismus konnte ihnen kaum mehr attraktive Angebote machen. Gedanklich hatten sich bereits vor der friedlichen Revolution viele Menschen dieser Generation von der DDR verabschiedet. Viele von ihnen gehörten zu jenen, die 1988 und 1989 einen Ausreiseantrag stellten oder einen Fluchtversuch unternahmen. Lebensgeschichtlich kam die friedliche Revolution für diese Generation gerade zur richtigen Zeit. Sie konnten sich im vereinten Deutschland gut zurechtfinden. Eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit in den alten Bundesländern waren für sie eine neue Möglichkeit und weniger stark mit Ängsten behaftet wie noch bei ihrer Vorgängergeneration (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 100ff.).
Wende-Kinder
Die Generation der Wende-Kinder beginnt mit den 1973 und endet mit den 1984 Geborenen. Sie waren die Letzten, die noch in der DDR eingeschult wurden und ihre Kindheitsjahre verlebten. Sie haben zum Großteil gute Erinnerungen an die DDR. Die friedliche Revolution und die Öffnung der Grenzen, die Einführung der D-Mark und das Verschwinden des Landes, in dem sie heranwuchsen, brachte für sie einen frühen Abschied von ihrer behüteten und durchgeplanten Kindheit (vgl. Ahbe/Gries 2006b: 556f.). Diejenigen, denen in Kindergarten, Schule und den Jugendorganisationen der DDR deren politische Rhetorik vermittelt wurde, nahmen diese für eine wahre und stimmige Weltdeutung, welche mit der Wiedervereinigung auf den Kopf gestellt wurde. Jene, die 1990 bereits Jugendliche waren, mussten den rasant erfolgten Umbruch kognitiv verarbeiten und waren gezwungen, aktiv und selbstbestimmt zu handeln. Je nach Milieuzugehörigkeit wurde die Anpassung unterschiedlich gut bewältigt. Für viele war es nicht einfach, innerhalb der weitreichenden und oft unübersichtlichen Chancen- und Risikostrukturen der 1990er-Jahre eine gute Ausbildung zu absolvieren und sich beruflich einzurichten (vgl. Ahbe/Gries 2006a: 100ff.).
Alltag in der DDR
Die SED wachte über die Menschen in der DDR. Die Parteileitung versuchte, das Leben der Menschen allumfassend zu organisieren und zu planen. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) waren bis zum Ende der 1980er Jahre 91,2 Prozent der Frauen (50 Prozent in der BRD) voll berufstätig. Die Kinder gingen schon früh in die Kinderkrippe, wo jedem Kind ein Platz auf eine Ganztagsbetreuung zustand. Das Bildungssystem in Kindergarten und Schule folgte festen und einheitlichen Lehrplänen. Von zehn Schüler*innen absolvierten acht bis neun eine Berufsausbildung. Die Vergabe von Studienplätzen erfolgte nach Noten und war nach Bedarfserwägungen kontingentiert. Als Zulassungskriterium spielten das politische bzw. gesellschaftliche Engagement und die familiäre Herkunft eine wichtige Rolle. Arbeiterkinder hatten es einfacher, einen Studienplatz zu erhalten als Akademikerkinder oder Kinder aus christlichen oder oppositionellen Familien. Mit Schuleintritt wurde jede/r Schüler/in in die Pionierorganisation Ernst Thälmann aufgenommen, einer Unterorganisation der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Ziel beider Jugendorganisationen war es, die Kinder zur Parteitreue zu erziehen. Im Arbeiter- und Bauernstaat DDR war das Recht auf Arbeit verfassungsmäßig garantiert. Wer nicht arbeitete, musste mit einer Geld- oder Gefängnisstrafe rechnen. Im Kollektiv zu arbeiten unterstrich den Gedanken der Solidarität (vgl. Ziegler/ Oster 2019).
Wohnraum war nach dem Krieg knapp. Viele Mietshäuser wurden in den 1950er Jahren verstaatlicht. Die Höhe der Mieten wurde von der Regierung festgelegt. Der Mietpreis/m² kalt lag 1989 bei weniger als 1 Mark (Ost), in der BRD bei ca. 7 DM (1987). Für Wohnungsbau sorgte allein der Staat. Ob man umziehen durfte, entschied in der DDR das Amt für Wohnungswesen nach bestimmten Kriterien. Demzufolge stand z.B. einem Vierpersonenhaushalt eine 60 qm große Wohnung zu (vgl. Ziegler/ Oster 2019).
Das Freizeit- und Kulturangebot in der DDR war vielfältig. Systemkritische Inhalte wurden jedoch zensiert und vielfach untersagt. Sogenanntes antisozialistisches Schrifttum und Westliteratur waren verboten. Sport hatte in der DDR offiziell einen hohen Stellenwert. Die Talentförderung begann bereits in Kita und Schule. Erfolge bei Olympia bedeuteten für das DDR-Regime immer auch einen Sieg des Sozialismus über den Kapitalismus (vgl. Ziegler/ Oster 2019) Dieser hier kurz skizzierte Abriss des DDR-Alltags bedeutete für die Lebenszufriedenheit zweierlei: eine Gewöhnung zum einen an die Lenkung durch das Regime sowie zum anderen an bescheidene, aber sichere Lebensbedingungen.
Umfragen zu Lebensverhältnissen in der DDR - die MfS-Berichte
Die 1960er und 1970er Jahre waren aus ökonomischer- und gesellschaftlicher Perspektive eine Schlüsselperiode der DDR, mit welcher die Nachkriegszeit endete und das postindustrielle Zeitalter begann. Im Jahr 1961 erfolgte, als Stabilisierungsakt der kommunistischen Diktatur, der Mauerbau. Diese Periode unterteilt sich in die späten Jahre der Ära Ulbricht und der damit verbundenen ökonomischen Reformversuche sowie die Jahre unter Erich Honecker mit einem Anstieg sozialer Leistungen (vgl. Gieseke 2008: 236; Maier 2004; Jarausch 2008).
Die Generationenkonstellation in der DDR verschob sich zwischen 1960 und 1970. Zu den durch den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre geprägten älteren Jahrgängen, der misstrauischen Patriarchen und der Aufbaugeneration, gesellten sich nun die Generationen der funktionierenden- und der integrierten Generation, deren Lebensträume und Wertvorstellungen vom Leben in der DDR, aber auch durch den persönlichen Systemvergleich vor der Haustür, d.h. mit der Bundesrepublik geformt wurden. Für diese Jüngeren verlor die egalitaristische und kollektivistische Wertorientierung der Gründungsväter und -mütter der DDR angesichts der materiellen Standards und der Wünsche an die Lebensgestaltung, wie man sie aus der BRD kannte, an Geltungskraft (vgl. Wierling 2002).
Die SED-Führung war an dem Meinungsbild ihrer Bürger*innen wie jede Diktatur stark interessiert. Daher wurden von 1959 bis 1989 streng geheime Stimmungs- und Lageberichte des MfS erstellt und nach oben gemeldet (vgl. Gieseke 2008: 243). So entstanden pro Jahr zwischen 140 und 340 Inlandsmeldungen, wobei sich pro Jahr maximal 15 Berichte der "Reaktion der Bevölkerung" widmeten (vgl. Mitter/ Wolle 1996; Gieseke 2008: 243). Ein Merkmal dieser Stimmungs- und Lageberichte war, dass die Erkundung auf bestimmte Felder beschränkt und heikle Themen, wie die Frage nach der Legitimation des Systems oder die Beschneidung von Menschenrechten, ein Tabu blieben (Lindenberger 1999, S. 13ff.). Dies bedeutete für die SED-Führung insofern ein Dilemma, als sie durchaus an authentischen Informationen über die Meinungen des Volkes interessiert war, um die Stabilität des Regimes einschätzen zu können (vgl. Gieseke 2008: 242).
Bei der Erkundung seitens des MfS wurden nicht flächendeckend persönliche Haltungen ungefiltert eingefangen. Vielmehr lag die Eigenart der Berichte neben einzelnen Befragungen darin, Äußerungen von Bürger*innen durch inoffizielle Mitarbeiter, sogenannte IM, am Arbeitsplatz, unter Nachbarn oder in der Warteschlage beim Einkauf mittels verdeckter Beobachtung einzufangen. Erschwert wurde dies dadurch, dass die Bürger*innen der DDR nach offizieller und privater Meinung unterschieden und sich teilweise je nach Kontext passend ausdrückten (vgl. Gieseke 2008: 242).
Inhalte der Erkundung waren neben Einzelinformationen sowie Berichten zum Lohn- und Arbeitsregime und damit verbundenen Unruhepotentialen in DDR-Betrieben auch die mangelhafte Versorgungslage sowie die Reaktionen der Bevölkerung auf Parteitage der SED, Wahlrituale und außenpolitische Ereignisse. In der Regel umfassten die Berichte zwei bis zehn Seiten (vgl. Hürtgen 2005, Gieseke 2008: 242ff.).
Die MfS-Berichte folgten in den 1960er Jahren den Spielregeln des sogenannten sozialen Klassentheaters, was bedeutet, dass die überwiegende Bevölkerungsmehrheit der SED-Politik vorgeblich zustimmte und kritische Stimmen grundsätzlich als Minderheit dargestellt wurden (vgl. Stolle 1997: 211). Ab den 1970er Jahren wurden diese Spielregeln nur noch der Form halber befolgt und es gab nun ausführlichere und kritischere Berichte. Dieser Wandel erschwert eine heutige Auswertung dieser Quelle. Denn hinfort mischten sich ideologische Sprachmuster mit begrenzt kritischen und doppeldeutigen Äußerungen.
Mit dem 19. November 1972 endete die Berichterstattung an die SED-Führung über die "Reaktionen der Bevölkerung". Im Jahr 1974 startete die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des MfS die neue Berichtsreihe "Hinweise zu Reaktionen der Bevölkerung", welche insbesondere die materielle Lage in der DDR im Blick hatte und über Unzufriedenheit bezüglich Preiserhöhungen, Versorgungsengpässen und des Zugangs zu Westwaren berichtete (vgl. Gieseke 2008: 251f.).
Ein Beispiel für die mehrdeutigen Artikulationsmuster und die Beziehung zwischen SED und Arbeiterschaft sind die Berichte im Vorfeld des IX. Parteitags im Jahr 1976. Zu Beginn wurde auf der einen Seite ein ‚großes Interesse’ am Entwurf des neuen Parteiprogramms und eine ‚tiefe Befriedigung’ unter den Werktätigen über den Kurs der SED registriert. Auf der anderen Seite gab es jedoch eine starke einseitige Orientierung auf die Entwicklung der Arbeits- und Lebensbedingungen, sozialpolitische Maßnahmen, Ziele und Aufgaben im jeweiligen Tätigkeitsbereich und die Entwicklung der Territorial- und Wohnbereiche. Womit wiederum Erwartungen wie die Einführung der 40-Stunden-Woche, höhere Löhne, frühere Renten und mehr Urlaub geweckt wurden. Vom MfS als "nicht massenwirksam’ eingeschätzt wurden gehässige Äußerungen in individuellen Gesprächen und im kleinen Kreis über den harten Kurs in der Außenpolitik oder Bemerkungen wie: "oben wisse man nicht, was unten los ist". (vgl. Gieseke 2008: 242ff.; Information über erste Reaktionen unter der Bevölkerung der DDR auf die in Vorbereitung des IX. Parteitages veröffentlichten Materialien, 3.2.1976; BStU, ZA, ZAIG 4100).
Laut Berichten aus dem Jahr 1977 wurden die Sozialpolitik und der Wohnungsbau kritisiert: