Stadt, Land, Schrumpfung – ein Moment sozialer Wirklicheit
Ein wichtiger Gradmesser für die wirtschaftliche Stärke und die Attraktivität der Lebensbedingungen einer Region ist die Zahl ihrer Einwohner. Boomende, wohlhabende Regionen ziehen weitere Bewohner an, insbesondere jüngere Leute. Umgekehrt verlieren schrumpfende Gemeinden und Dörfer Menschen. Hier wirkt der in der Ökonomie und Soziologie wohl vertraute Matthäus-Effekt: "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden" (bpb-Glossar 2014, vgl. auch Myrdal 1959: 10).
Sind sinkende Einwohnerzahlen, Immobilienleerstand und das Abwandern der jungen Leute nun aber ein spezifisch ostdeutsches Schicksal? Sicher nicht, denn auch in den westlichen Bundesländern finden sich Regionen, in denen man mit Anfang 50 zu den jüngeren Leuten zählt und die keine Zeichen sozialer Vitalität und wirtschaftlicher Aktivität mehr erkennen lassen. Auf der anderen Seite verdichten und verfestigen sich gerade in Ostdeutschland regional übergreifende Schrumpfungs- und Verlusterfahrungen. Schrumpfung, Wegzug und Leere sind freilich mehr als eine statistisch-abstrakte Größe. Sie sind Anschauung und Alltagserfahrung, welche die Mentalitäten und Zukunftserwartungen der Menschen vor Ort prägen. Stadt, Land - Schrumpfung. Das ist ein zentrales Moment sozialer Wirklichkeit in Ostdeutschland im dreißigsten Jahr nach der Maueröffnung (vgl. Hüther u.a. 2019; Berlin-Institut 2019 und BMI 2019).
Ostdeutschland – eine Abwanderungsgesellschaft
Eine Studie des ifo-Instituts Dresden macht darauf aufmerksam, dass die ostdeutschen Bundesländer nicht erst heute mit Fortzug und Stagnation konfrontiert sind. In historischer Perspektive und mit vergleichendem Blick auf Westdeutschland verlieren Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern schon seit Gründung der DDR 1949 kontinuierlich Einwohner. "Etwa seit diesem Jahr driften Ost und West massiv und nahezu ungebremst auseinander" (Rösel 2019: 23).
Unmittelbar nach Kriegsende 1945 erlebte die "Ostzone" aufgrund der kriegsbedingten Fluchtbewegungen einen starken Bevölkerungszuwachs, der jedoch in den Jahrzehnten der DDR kontinuierlich verloren ging. So lebten 1989 wie schon 1949 rund 17 Millionen Menschen in der DDR. Die Menschen gingen, so lange es in den 1950er Jahren noch möglich war, sie flüchteten oder hofften auf Ausbürgerung. Ganz anders die Situation in Westdeutschland. Dort führten die Flucht aus der DDR vor dem Mauerbau 1961, der Geburtenboom der 1960er Jahre und die Zuwanderung aus Süd(ost)europa zu einem steten Bevölkerungszuwachs. Von rund 40 Millionen Einwohnern 1949 kletterte die Bevölkerungszahl in der alten Bundesrepublik auf über 60 Millionen Einwohner im Jahr des Mauerfalls – eine Steigerung um 50 Prozent (in der DDR Null Prozent).
Diese Bevölkerungsdrift zwischen Ost und West hat sich mit dem Umbruch 1989/90 aufgrund der tiefgreifenden ökonomischen Eingriffe und der damit verbundenen Arbeitsplatzverluste (vgl. Vogel 2015) exponentiell beschleunigt. Hinzu kam in den 1990er Jahren eine dramatisch einbrechende Geburtenrate auf dem Gebiet der fünf neuen Länder. Rösel zeigt, dass Westdeutschland heute (2019) "eine um 60% höhere Einwohnerzahl als vor dem Zweiten Weltkrieg hat, Ostdeutschland eine um 15% geringere. (…) In einigen ländlichen Regionen (Ostdeutschlands, d. Verf.) haben die Bevölkerungszahlen gar den Stand von Mitte des 19. Jahrhunderts erreicht, mit weiter rückläufiger Tendenz" (vgl. Rösel 2019: 24f – siehe Abb.1). Die Tatsache der Abwanderungsgesellschaft, die selbst in der Zeit ihrer diktatorischen Ummauerung zwischen 1961 und 1989 existent blieb, erfuhr durch die "Wende" von 1989/90 neue und nachhaltige Bekräftigung. Auch in dieser Hinsicht – nicht nur mit Blick auf den drastischen Verlust an Arbeitsplätzen oder hinsichtlich der radikalen Deindustrialisierung weiter Landstriche zwischen Rostock und Aue – war und ist Ostdeutschland eine Gesellschaft des Fortgehens der Einen und des Zurückbleibens der Anderen. Diese demografischen Bewegungen prägen wesentlich die Wahrnehmung des gesellschaftlichen Alltags.
Eine generelle Trendumkehr ist in Ostdeutschland aktuell nicht zu erkennen, auch wenn Universitätsstädte wie Jena und Leipzig, das Umland der Großstädte Berlin, Dresden und Potsdam oder wirtschaftlich-touristisch attraktive Orte wie Weimar und Erfurt einen Bevölkerungszuwachs und vor allem einen Zuzug von jungen Menschen verzeichnen. Die genannten Städte stehen in wirtschaftlicher und demografischer Hinsicht für die Leuchttürme, von denen in Politik und Wirtschaft so oft die Rede ist. Es sind Leuchttürme, die aber auch einen großen Schatten werfen (vgl. Nimz 2019). Darüber hinaus gibt es in Ostdeutschland einige wenige Regionen mit einer relativ hohen "Rückkehrerquote" derjenigen, die in den 1990er Jahren Orte und Gemeinden der ehemaligen DDR verlassen haben und nun wieder zurückziehen (vgl. Nadler 2017). Hierzu zählt beispielsweise das thüringische Eichsfeld, das auch im Bundesschnitt die Spitzenposition in den Rückkehrerraten einnimmt. In keine Region kehren im Schnitt mehr ehemalige Bewohner zurück als ins Eichsfeld.
Aber all das bleibt die Ausnahme von der Regel einer "Abwanderungsgesellschaft", in der Großeltern und Eltern ihre Kinder und Enkel nur noch auf Besuch sehen, in der der Generationentransfer von materiellen und immateriellen Gütern nur noch begrenzt funktioniert (sichtbar an zahllosen leerstehenden Wohnimmobilien im ländlichen Raum) und in der Nachbarschaften und Vereinsleben mehr und mehr Lücken aufweisen. In vielen Regionen Ostdeutschlands fehlen insbesondere die mittlere Generation der 30- bis 40-jährigen und deren Kinder (vgl. Berlin-Institut 2019: 53). Mit den jungen und aktiven Menschen, mit Kindern und Enkeln, die nicht mehr vor Ort leben, schwindet nicht nur die Pro-Kopf-Zahl der Einwohner, sondern auch ein Stück sichtbare und gelebte Zukunft.
Konfliktfeld Gleichwertigkeit – Wenn die Menschen gehen und die Abwärtsspirale droht
Kein Wunder also, dass in jüngster Vergangenheit, beschleunigt durch die Wahl autoritärer Parteien, das Thema Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse auf die Tagesordnung kommt. Wenn die Menschen gehen, sich Dörfer leeren und Kleinstädte ihre zentralörtliche Versorgungsrolle verlieren, dann steht die Regionalpolitik auf dem Prüfstand und mit ihr die bundesstaatliche Formel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse (Art. 72,2 GG). "Konkretisiert wird diese verfassungsrechtliche Norm im Raumordnungsgesetz (ROG). Hier sind sowohl die Sicherung der Daseinsvorsorge als auch die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und einer räumlich ausgewogenen Wirtschaftsstruktur als Grundsätze der Raumordnung (§2 Abs. 2 ROG) festgeschrieben" (Bardt u.a. 38).
Gleichwertigkeit bedeutet dabei nicht, dass öffentliche Güter oder Leistungen der Daseinsvorsorge überall dieselbe Form haben. Es geht vielmehr um dieselben Funktionen. "So interpretierte Gleichwertigkeit heißt dann also nicht, dass landesweit überall eine identische Infrastruktur verfügbar sein muss, sondern dass Infrastruktur im weitesten Sinne so gestaltet ist, dass sie den räumlichen Bedingungen und den Bedürfnissen der Menschen und auch der Unternehmen vor Ort entspricht" (ebd., 40).
In immer mehr Regionen Ostdeutschlands ist das im dreißigsten Jahr nach der Maueröffnung nicht der Fall. Trotz aller öffentlichen und privaten Investitionen in Infrastruktur, trotz vorbildlich restaurierter Innenstädte und modernisierter Stadtrandsiedlungen, trotz erschlossener und günstig verfügbarer Gewerbegebiete – viele Kleinstädte werden zu teils pittoresken Kulissen für immer weniger Menschen, viele Dörfer verlieren ihre Mitte, in den Gewerbegebieten beleuchten nachts die Laternen die nicht verkauften Flächen. Mit schrumpfender Bevölkerungszahl schwindet die Wirtschafts- und Steuerkraft; mit der schwindenden ökonomischen Energie kommt es zum Rückbau der Infrastruktur. Die Folge ist, dass noch mehr Menschen die Region verlassen.
Vieles spricht dafür, dass sich schrumpfende Regionen mehr und mehr in einer "Abwärtsspirale aus sinkenden Einwohnerzahlen und schwindender Versorgung" (Berlin-Institut 2019: 26) befinden. Der Matthäus-Effekt wirkt. "Wenn gerade junge Menschen die strukturschwachen Regionen verlassen, verlieren diese ihr künftiges demografisches und wirtschaftliches Potential. Ein Aufholen wird so nahezu unmöglich. Sinken in der Folge die Steuereinnahmen, können viele Kommunen die verbleibenden Bewohner immer schlechter versorgen" (ebd.: 27). Dabei geht es nicht nur um abgelegene Dörfer und einsame Siedlungen in der Peripherie. Es geht auch um Kleinstädte, die ihre Versorgungsleistungen für den ländlichen Raum nicht mehr erfüllen können. "Gerichte und Ämter verlassen die kleinen Städte. Krankenhäuser werden in größere Ballungszentren verlegt. Und um Bildungseinrichtungen wie Gymnasien oder Volkshochschulen zu erreichen, müssen die Menschen vom Dorf immer weitere Wege in Kauf nehmen. Versorgungseinrichtungen ziehen sich aus der Fläche zurück und konzentrieren sich in den urbanen Regionen" (ebd.: 27). Die Regionen, die sich in diesem infrastrukturellen und demografischen Abwärtssog befinden, liegen beinahe ausschließlich im Osten Deutschlands (vgl. auch Oberst u.a. 2019: 101).
Fachgutachten unterstreichen die Dynamik, aber auch die Verfestigung dieser sozialräumlichen Entwicklung. So unterscheidet beispielsweise die Studie des Berlin Instituts und der Wüstenrot Stiftung sechs regionale Cluster. Die Spannweite reicht von Cluster 1 "Reiche Großstädte und ihre Speckgürtel" bis zu Cluster 6 "Abgehängte Regionen". Im letztgenannten Cluster finden sich nahezu alle ostdeutschen Regionen. Nur Dresden, Jena und Potsdam sind dem Cluster 2 "Attraktive Großstädte" zugeordnet und alleine der Landkreis Dahme-Spreewald schafft es in Cluster 4 "Erfolgreiche ländliche Regionen". In diesem vierten Cluster finden sich immerhin 89 Kreise insgesamt (vgl. Berlin Institut 2019: 12ff).
Zu vergleichbaren Befunden kommt die Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW) "Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit" (Hüther u.a. 2019). Allerdings weist die IW-Studie den Begriff "abgehängt" zurück. "Die empirischen Ergebnisse zeigen für 19 von 96 Regionen schwierige strukturelle Voraussetzungen und potenziellen regionalpolitischen Handlungsbedarf. Das trifft sowohl auf ländlich geprägte und dünn besiedelte Regionen in Ostdeutschland zu als auch auf dicht besiedelte urbane Regionen wie das Ruhrgebiet und das Saarland. Eine bei allen Indikatoren gefährdete und in diesem Sinne abgehängte Region gibt es in Deutschland nicht. Während im Ruhrgebiet und im Saarland die mangelnde wirtschaftliche Entwicklung in Verbindung mit hohen Kommunalschulden Sorgen bereitet, stehen in den ländlichen Regionen Ostdeutschlands die Herausforderungen des demografischen Wandels und Schrumpfungsprozesse im Vordergrund" (Oberst u.a. 2019: 113).
Schließlich identifiziert der sozioökonomische Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 fünf unterschiedliche Raumtypen. Der vierte Raumtyp findet sich ausschließlich in Ostdeutschland und wird mit Blick auf "schrumpfende Bevölkerung" und "schlechte Erwerbsmöglichkeiten" als "ländlich geprägter Raum in dauerhafter Strukturkrise" (vgl. Fink u.a. 2019: 10) klassifiziert.
Die vorhandene sozialstatistische und indikatorengestützte Expertise zur Entwicklung Ostdeutschlands drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung zeichnet ein Bild der Schrumpfung, des Leerstand, des Wegzugs. Damit sind freilich weitergehende Fragen aufgeworfen: nach Zusammenhalt, nach Vertrauen in öffentliche Institutionen, nach der Legitimität der demokratischen Gesellschaftsordnung. Denn hinter dem Stichwort der schrumpfenden oder gar "abgehängten" Regionen verbergen sich qualitative Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und der sozialen Ordnung eines Gemeinwesens.
Die Frage, was Gleichwertigkeit bedeutet, stellt sich besonders an den Orten, wo junge Menschen Gemeinde und Dorf verlassen, an denen die lokalen Arbeitgeber (wenn vorhanden) an einer Hand abzuzählen sind, an denen Kinder zur staunenswerten Seltenheit im Dorfbild werden, an denen Fußballvereine keine elf Spieler mehr auf den Platz bringen, an denen das Vereinsleben im Wesentlichen ein Seniorentreff ist. Braucht es an diesen Orten noch Kindergarten und Kaufladen, Grundschule und Gemeindeverwaltung, Bus und Bank?
Gleichwertigkeit wird zum Konfliktfeld. Im Kern geht es dann in den wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Debatten um die Frage, welche politische Strategie geboten ist, diese Konflikte zu lösen bzw. die Norm der Gleichwertigkeit zu realisieren. Während die Einen für eine Stärkung wachsender urbaner Zentren und die sozial kontrollierte Absiedlung sich demografisch leerender ländlicher Räume plädieren (vgl. IWH 2019), fordern die Anderen eine differenzierte Bestandsaufnahme und verweisen auf die politischen und sozialen Kollateralschäden, die eine eindimensionale Struktur- und Leuchtturmpolitik mit sich brächte.
Unterscheidungsvermögen, nicht Schablonendenken, scheint die notwendige wissenschaftliche und politische Rezeptur zu sein, um auf Schrumpfungsfragen als soziale Fragen zu reagieren. Die IW-Studie kommt daher zu dem Schluss: "Es gibt nicht `die` abgehängte Provinz, deren Abstand zu den Großstädten immer größer wird. Stattdessen gibt es Metropolen mit markanten und unbewältigten Strukturproblemen. Es gibt überschuldete Kommunen. Es gibt peripher gelegene ländliche Räume, die akut mit Abwanderung, Leerstand und erheblichen Defiziten in der öffentlichen Daseinsvorsorge zu kämpfen haben. Aber gleichzeitig gibt es kerngesunde Mittelstädte mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur und höchst erfolgreichen Mittelständlern" (Hüther/Südekum 2019: 281). Letztere gibt es auch in Ostdeutschland. Dennoch bleibt die Frage bestehen, in welcher Weise auf Bevölkerungsrückgang und Leerstand reagiert werden kann. Welche gesellschaftspolitischen und wissenschaftlich angeleiteten Ideen und Initiativen lassen sich hier finden? Schrumpfung ist nicht Schicksal, sondern Gestaltungsauftrag! Es braucht Konzepte, die gegen den Trend denken.
Schrumpfung als Gestaltungsauftrag – das Konzept Soziale Orte und noch viel mehr
Die Dynamik der Schrumpfung scheint unaufhaltsam. Die jungen Leute verlassen ländliche Räume, finden anderen Orts eine Arbeitsstelle, die ihren Vorstellungen und erworbenen Kompetenzen entspricht – und sie gründen dort eine Familie. Die soziale und berufliche Etablierung findet dann in den urbanen Zentren und ihrem Umland statt. Was ist die Lösung? Aufgeben, stilllegen oder abwickeln? Oder: Lokales Engagement fördern, denen, die Mut zur Provinz haben, den Rücken stärken und in ihren Initiativen unterstützen, neue soziale Orte gegen den Trend schaffen? Offensichtlich sind doch die Virtuosen des Wandels und nicht die Verwalter des Niedergangs gefragt. Und in dieser Hinsicht finden an verschiedenen Orten weiter führende Forschungen und publizistische Initiativen statt.
Am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) werden derzeit in mehreren Projekten neue Forschungsformate erprobt, die auf die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse abzielen. Im Rahmen eines Transfervorhabens geht das Institut "aufs Land" und besucht Dörfer und Kleinstädte, um das Thema Gleichwertigkeit stark zu machen. In Dialogveranstaltungen, die vor Ort in Dorfgemeinschaftshäusern, Schulen oder Vereinsräumen stattfinden, wird die Bewohnerschaft als Expertinnen und Experten in Sachen Gleichwertigkeit angesprochen. Dörfer und Kleinstädte erhalten neue Aufmerksamkeit. In einem weiteren Projekt geht es im Rahmen von Regionalstudien u.a. in Thüringen um die Entdeckung Sozialer Orte (vgl. Externer Link: www.sofi-goettingen.de/projekte/das-soziale-orte-konzept-neue-infrastrukturen-fuer-gesellschaftlichen-zusammenhalt/projektinhalt/).
Nicht die "Abwicklung" ländlicher Räume steht im Vordergrund, sondern eine neue Diskussion über die Möglichkeiten von Teilhabe auch in strukturschwachen, sich tendenziell "leerenden" Regionen. Soziale Orte sichern Öffentlichkeit und begründen Gemeinwohl, sie repräsentieren Netzwerke und schaffen neue Formen der Beteiligung vor Ort. Sie stellen Bedarfe und Kapazitäten fest und finden unter Einbindung unterschiedlicher Akteure gemeinschaftlich neue Wege und Lösungen zur Teilhabe der Bevölkerung an bis dato schwindenden Versorgungsstrukturen. Sie ergänzen so die Daseinsvorsorge vor Ort und unterstützen die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Damit festigen sie auch die lokale Demokratie und fördern gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Als weitere einschlägige Forschungsinitiativen sind die Arbeiten des Zentrums für Sozialforschung Halle zu nennen, die Orte sozialer Innovationen in Sachsen-Anhalt kartieren (vgl. Externer Link: https://soziale-innovation.sachsen-anhalt.de/landkarte/?no_cache=1) und Expertisen zur Entwicklung lokaler Demokratie (vgl. Heyme u.a. 2018) vorgelegt haben. Studien des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena beschäftigen sich u.a. mit dem Schwerpunkt Ländlicher Raum in Ostdeutschland (vgl. idz 2019), und die Robert-Bosch-Stiftung hat in den vergangenen Jahren Forschungen zu "Neulandgewinnern" gefördert, die sich ausdrücklich der Frage annehmen, in welcher Weise schrumpfende Regionen, die mit anhaltenden Bevölkerungsverlusten zu kämpfen haben, Zukunft gestalten (vgl. Frech u.a. 2017).
Was braucht es nach den Befunden dieser Forschungen, damit Soziale Orte und Innovationen entstehen, lokale Demokratie stabilisiert und Chancen in der Provinz aufgenommen werden können? Unabdingbar ist das Vorhalten öffentlicher Infrastrukturen (vgl. dazu auch Kersten u.a. 2019, Vogel 2017). Soziale Orte und Innovationen entwickeln sich nicht gegen oder ohne öffentliche Strukturen, sondern nur mit ihnen. Zudem muss es die Möglichkeit geben, nicht nur ein Projekt zu installieren, sondern einen nachhaltigen Prozess anzustoßen
Für die Initiierung und Stabilisierung produktiver Akzente gegen den Trend schrumpfender Regionen sind überdurchschnittlich engagierte und innovationsfähige Akteure erforderlich. Die richtigen Leute müssen am richtigen Ort sein – die Virtuosen des Wandels. Zum Ehrenamt kann man niemanden zwingen, aber ermutigen. Bürgerinnen und Bürger, die nicht nur die Hände in den Schoß legen, brauchen (finanzielle) Unterstützung, Wertschätzung und Freiräume. Hilfreich ist es, die Verwaltung als wichtigen Partner bei der Produktion von Zusammenhalt "auf dem Schirm" zu haben und ihre Rolle als demokratische Infrastruktur anzuerkennen. Schließlich benötigen die Virtuosen vor Ort überregionale Aufmerksamkeit und Einbindung. Lokale Demokratie hat nichts mit Engstirnigkeit und Kirchturmpolitik zu tun. Schrumpfende Regionen mögen daher auch ein ostdeutsches Schicksal sein. Ein Glücksfall für die östlichen Bundesländer sind aber auch die vielen Initiatorinnen und Virtuosen, die sich gegen den Trend engagieren.