Steigende Beschäftigung in West- und Ostdeutschland nach der Jahrtausendwende
Die transformationsbedingten wirtschaftlichen Strukturbrüche und die dadurch verursachte Massenarbeitslosigkeit, welche das erste Jahrzehnt der Wiedervereinigung maßgeblich geprägt haben, sind inzwischen historisch. Gegenwärtig ist der Mangel an Fachkräften ein den ostdeutschen Arbeitsmarkt beherrschendes Thema. Dem grundlegenden Wandel der ökonomischen Problemlagen Rechnung tragend, zeichnen die nachstehenden Abbildungen den zeitlichen Verlauf seit Ende der 1990er bzw. Anfang der 2000er Jahre nach.
Bis etwa 2005 herrschte in Ostdeutschland eine hohe Arbeitslosigkeit, die zu einer ausgeprägten Abwanderung insbesondere junger Menschen nach Westdeutschland führte. Durch die steigende Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ging die Arbeitslosenquote seither stark zurück. Sie sank im Zeitraum von 2005 bis 2018 von knapp 19 Prozent auf ca. sieben Prozent und hat sich damit mehr als halbiert. In Westdeutschland lag die Quote durchgehend niedriger und sank im selben Zeitraum von ca. 10 Prozent auf knapp fünf Prozent.
Gleichzeitig nahm die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich zu (Abbildung 1). Vor allem in Ostdeutschland war die Zahl der Beschäftigten zuvor geschrumpft. Betrug ihre Zahl im Jahr 1999 noch rund 5,9 Millionen, so war mit etwa 5,1 Millionen Beschäftigten im Jahr 2005 ein Tiefpunkt erreicht. Anschließend erhöhte sich die Zahl auf 6,2 Millionen im Jahr 2018, das entspricht einem Beschäftigungswachstum von knapp 22 Prozent seit 2005, in Westdeutschland lag das Wachstum bei 26 Prozent.
Der starke Anstieg der Beschäftigtenzahlen bei sinkender Arbeitslosigkeit ging in beiden Landesteilen mit einer zunehmend besseren Ausnutzung des Erwerbspersonenpotenzials einher. Die Beschäftigungsquote, also der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, hatte auch in den Zeiten hoher Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland nur geringfügig unter dem westdeutschen Vergleichswert gelegen. Seit 2008 ist die ostdeutsche Beschäftigungsquote sogar höher und lag 2017 bei 61 Prozent gegenüber knapp 60 Prozent in Westdeutschland. Dies hängt wesentlich mit der starken Erwerbsbeteiligung der ostdeutschen Frauen zusammen, die nahezu gleich häufig wie ostdeutsche Männer – und damit häufiger als westdeutsche Frauen – erwerbstätig sind. So lag die Beschäftigungsquote ostdeutscher Frauen bereits im Jahr 2006 mit 47 Prozent über derjenigen westdeutscher Frauen (44 %) und stieg bis zum Jahr 2017 auf fast 61 Prozent gegenüber knapp 56 Prozent bei westdeutschen Frauen.
Dieser Befund ist nicht allein als Fortführung der DDR-Tradition einer stärker weiblich geprägten Arbeitswelt zu deuten. Vielmehr erzwingen die im Schnitt niedrigeren Erwerbseinkommen in Ostdeutschland eine höhere Erwerbsbeteiligung in Form von Doppelverdiener-Haushalten. Umgekehrt ermöglichen die höheren westdeutschen Löhne (vor allem bei Männern) dort häufiger das Ernährer- bzw. Zuverdiener-Modell. Festzuhalten bleibt, dass die Beschäftigung in ganz Deutschland seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen hat. Allerdings ist im gleichen Zeitraum die Bevölkerung in Westdeutschland um gut ein Prozent gewachsen, während die ostdeutsche Wohnbevölkerung um 10 Prozent zurückgegangen ist. Damit liegt die Erwerbsbeteiligung in Ostdeutschland heute höher als in Westdeutschland und die Potenziale für ein weiteres Beschäftigungswachstum sind hier kleiner.
Ursachen der Belebung des Arbeitsmarktes und für Fachkräftemangel
Zur Erklärung der deutschlandweiten Belebung des Arbeitsmarktes werden verschiedene Ursachen diskutiert. Neben dem anhaltenden Wirtschaftswachstum und der demografischen Entwicklung werden auch die Arbeitsmarktreformen in der ersten Hälfte der 2000er Jahre für den Rückgang der Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht (Krause u.a. 2012). So verbesserten die Arbeitsmarktreformen (Hartz I-IV) die Vermittlung Arbeitsloser in Jobs. Daneben unterstützten die Reformen durch Leistungskürzungen und stärkeren Druck auf die Arbeitslosen jedoch auch die sogenannte Lohnzurückhaltung, also Lohnsteigerungen unterhalb des Produktivitätswachstums, sowie die Akzeptanz gering bezahlter und sogenannter atypischer Beschäftigung: Leiharbeit, geringfügige Beschäftigung, befristete Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeit haben ebenfalls stark zugenommen. (Krebs 2019, für einen Überblick vgl. auch Externer Link: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/umsetzung-auswirkungen-weiterentwicklung-von-hartz-iv-sgb-ii.html).
Die Teilzeitbeschäftigung wuchs auch in den Folgejahren. Der Anteil Teilzeitbeschäftigter ist laut Bundesagentur für Arbeit allein im Zeitraum von 2008 – 2018 in beiden Landesteilen von rund 18 Prozent auf etwa 30 Prozent gewachsen. Dabei spielt laut Mikrozensus-Erhebung (Wanger 2015) der Umstand, dass eine Vollzeittätigkeit nicht zu finden ist, deutschlandweit nur eine untergeordnete Rolle. Hauptmotive für Teilzeitbeschäftigung sind vielmehr parallele Bildungsphasen, familiäre Verpflichtungen und persönliche Präferenzen. So kann ein gewachsener Teil junger Berufseinsteiger angesichts einer günstigen Arbeitsmarktsituation höhere Ansprüche an Selbstverwirklichung im Beruf, Entlohnung, aber auch an die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben stellen, als es den Generationen zuvor möglich war. Gerade in Ostdeutschland entscheiden sich so auch viele Männer für eine Teilzeitbeschäftigung. Das zusätzliche Beschäftigungspotenzial durch Ausweitung der Arbeitszeit ist somit gering, da Teilzeitarbeit vielfach durch Lebensumstände begründet oder Ergebnis individueller Entscheidungen ist.
Angesichts von Beschäftigungswachstum und durch den Rückgang verfügbarer Arbeitskräftepotenziale (Arbeitslosigkeit, unfreiwillige Teilzeitbeschäftigung und stille Reserve sind geschrumpft) hat sich die Lage auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt seit der Jahrtausendwende grundlegend gewandelt. Während im Jahr 1999 noch die Arbeitslosigkeit als drängendstes Problem erschien, sind es heute vielfach Fachkräfte-Engpässe. Dabei spielt ursächlich auch die demografische Entwicklung eine Rolle. Diese wirkt sich aus historischen Gründen in beiden Landesteilen verschieden auf die Arbeitsmarktsituation aus. Bereits seit den 2010er Jahren führt in Ostdeutschland der starke Rückgang der Zahl von Schulabsolventen zu einem sinkenden Angebot an Nachwuchskräften. Gleichzeitig tragen zunehmende Renteneintritte zu einer steigenden Nachfrage nach Ausbildungsbewerbern und Arbeitskräften bei. Neben dem Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum verstärken insbesondere diese beiden Faktoren heute und künftig die Engpässe auf den Arbeitsmärkten bzw. verursachen Fachkräftemangel in verschiedenen Regionen, Wirtschaftszweigen oder Berufen.
Demografiefaktor I: Rückgang der Schulabsolventenzahlen
Die Veränderung, die den Umbruch auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt einleitete, war der drastische Rückgang der Schulabsolventenzahlen zwischen 2002 und 2010. Dieser ist eine Folge der Wiedervereinigung und der wirtschaftlichen und sozialen Transformation ab 1990. Die Ursachen dieses Rückgangs reichen jedoch in die Zeit vor der Wiedervereinigung zurück. In der DDR wurde bis 1989 eine extensive Beschäftigungsstrategie gefahren, d.h. durch den Einsatz zusätzlicher Arbeitskräfte sollte eine Ausweitung der Produktion erreicht werden. Eine wesentliche Maßnahme zur langfristigen Beschäftigungssicherung bestand in einem Paket sozialpolitischer Maßnahmen mit Anreizen zur Geburtenförderung, die Mitte der 1970er Jahre beschlossen und in den 1980er Jahren noch erweitert wurden (Bouvier 2007). Diese Maßnahmen hatten Erfolg: Anders als in allen anderen entwickelten Industriestaaten stieg in der DDR die Zahl der Lebendgeborenen von rund 180.000 im Jahre 1975 auf mehr als 240.000 Anfang der 1980er Jahre und blieb bis zum Ende der 1980er Jahre auf einem hohen Niveau.
Im Zuge der Wiedervereinigung brach die Geburtenrate in Ostdeutschland ein. Die Zahl der Lebendgeborenen reduzierte sich innerhalb von zwei Jahren auf etwa die Hälfte und stieg erst nach mehreren Jahren langsam wieder an. Der Umbruch spiegelt sich in der Entwicklung der Zahl der Schulabsolventen knapp zwanzig Jahre später wider. Etwa ab Mitte der 1990er Jahre verließen die geburtenstarken Jahrgänge der DDR die Schulen und drängten auf den schrumpfenden und wenig aufnahmefähigen Arbeits- und Ausbildungsmarkt in Ostdeutschland. Dies führte zu hoher Jugendarbeitslosigkeit und förderte die Abwanderung junger Menschen nach Westdeutschland bis etwa 2005. Bis zum Beginn der 2010er Jahre wandelte sich das Bild grundlegend. Immer weniger Absolventen verließen die ostdeutschen Schulen, nun herrschte ein Mangel an Ausbildungsbewerbern und zunehmend auch an Arbeitskräften. Dieser sehr schnelle Umschlag der Angebots-Nachfrage-Relation wurde durch den Anstieg der Studierquote junger Menschen noch verschärft.
Demografiefaktor II: Zunehmende Renteneintritte
Der demografische Wandel beeinflusst nicht nur das Angebot an Nachwuchskräften, sondern auch allgemein den Bedarf an Arbeitskräften. Eine Nachfrage entsteht sowohl durch Beschäftigungswachstum als Zusatzbedarf als auch infolge von Verrentung älterer Beschäftigter als Ersatzbedarf. Während bis etwa 2015 auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt der Zusatzbedarf dominierte, wird inzwischen die Gesamtnachfrage nach Arbeitskräften zunehmend durch Ersatzbedarf bestimmt. Immer mehr ältere Beschäftigte verlassen das Beschäftigungssystem und gehen in Rente. Diese Entwicklung betrifft ganz Deutschland, sie führt jedoch in Ostdeutschland früher als in Westdeutschland zu spürbaren Lücken in den Belegschaften. Der Grund dafür wird beim Vergleich der Altersstrukturen Beschäftigter beider Landesteile deutlich (Abbildung 3).
Im Jahr 1999 bildeten Beschäftigte zwischen 30 und 35 Jahren die häufigste Altersgruppe in Westdeutschland. Hingegen waren in Ostdeutschland Beschäftigte zwischen 35 und 40 Jahren die häufigste Gruppe. Bereits damals waren ostdeutsche Beschäftigte im Schnitt etwas älter als westdeutsche. Zwanzig Jahre später stehen die geburtenstarken Jahrgänge aus den 1960er Jahren in beiden Landesteilen vor dem Renteneintritt und beginnen das Beschäftigungssystem zu verlassen. Dabei sind die Altersgruppen zwischen 55 und 65 Jahren in Ostdeutschland anteilig etwas häufiger vertreten; dort werden bereits um das Jahr 2020 relativ viele Beschäftigte verrentet . Daneben sind in Ostdeutschland jüngere Beschäftigte unter 30 Jahren anteilig geringer vertreten als in Westdeutschland. Die Lücken, die hier durch hohe Rentenabgänge entstehen, können aufgrund der geringen Nachwuchszahlen nicht ohne weiteres geschlossen werden. Damit zeichnen sich eine fortschreitende Überalterung vieler Belegschaften und ein demografisch bedingtes Ende des Beschäftigungswachstums ab.
Langfristige Entwicklung von Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt
Stellt man die Entwicklung der beiden demografischen Einflussfaktoren von Nachfrage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt gegenüber, also Renteneintritte aus Beschäftigung und potenzielle Nachwuchskräfte in Form von Schulabsolventen, so werden prägende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich (Abbildung 4).
Der Ersatzbedarf durch Renteneintritte steigt in beiden Landesteilen zwischen 2001 und 2030 in ähnlicher Weise an, am stärksten in Westdeutschland nach 2020. Die Nachwuchszahlen entwickeln sich dagegen regional sehr unterschiedlich. Die Zahl der Schulabsolventen übertraf bis 2010 in Ost und West die Rentenabgänge bei weitem, was bis 2005 besonders in Ostdeutschland zunächst zu hoher Jugendarbeitslosigkeit führte, aber in West- und später auch Ostdeutschland das Beschäftigungswachstum ermöglichte . Ab 2011 ging die Zahl der Schulabsolventen in Ostdeutschland deutlich zurück und wird nach 2021 von den Renteneintritten übertroffen werden.
Auch in Westdeutschland wird nach 2021 der voraussichtliche Ersatzbedarf über dem Angebot an Nachwuchskräften liegen. Allerdings übertrifft bis dahin die Zahl der Schulabsolventen die Rentenabgänge deutlich, damit ist das quantitative Potenzial hier noch größer. Zwar sind beide Zahlen nicht unmittelbar miteinander vergleichbar, da sich vor allem durch Ausbildungs- und Studienzeiten die Beschäftigungseinstiege der Schulabsolventen verzögern . Zudem münden nicht alle Schulabgänge in Beschäftigung ein, und nicht zuletzt verlässt seit Jahren ein hoher Anteil Jugendlicher die Schulen ohne Abschluss . Insgesamt wird jedoch deutlich, dass die Engpässe auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt vor allem durch den schnellen Rückgang der Zahl von Nachwuchskräften verstärkt werden und dass sich die Folgen des demografischen Wandels für den Arbeitsmarkt in Ostdeutschland früher als in Westdeutschland niederschlagen.
Die beschriebenen Entwicklungen sind Teil einer langfristigen Tendenz. Laut der 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird die Erwerbsbevölkerung in ganz Deutschland künftig schrumpfen. Bis 2060 könnte die Zahl der Erwerbspersonen von heute fast 52 Millionen auf 40 Millionen sinken. Hingegen wächst die Bevölkerung im Rentenalter. Schon allein aus demografischen Gründen werden die Herausforderungen zunehmen, genügend Fachkräfte zu finden, z.B. Handwerker, medizinische Pflegekräfte und Altenpfleger. Selbst bei einer kurzfristigen Verschlechterung der Konjunktur wäre in Ostdeutschland mit einem weiter angespannten Arbeitsmarkt zu rechnen, weil hier das Verhältnis zwischen Rentenabgängen und Nachwuchs dauerhaft im Ungleichgewicht ist. Hingegen kann Westdeutschland noch etwas länger von höheren Schulabsolventenzahlen profitieren, bevor auch hier um das Jahr 2025 das Arbeitskräfteangebot sinken wird. Der demografische Wandel schmälert insgesamt die Chancen auf weiteres Beschäftigungswachstum, mittelfristig wird sogar mit einem Beschäftigungsrückgang mangels Arbeitskräften gerechnet (Zika u.a. 2017). Auch die Digitalisierung dürfte auf das Gesamtniveau der Beschäftigung auf absehbare Zeit keinen großen Einfluss haben, da digitale Technologien eher zur Verbesserung von Qualität und Marktposition als zur Substitution von Personal eingesetzt werden dürften (Heyme u.a. 2018).
Die Arbeitsmarktlage heute
Welche Folgen der dargestellten Entwicklungen für das Arbeitsmarktgeschehen lassen sich heute beobachten? Wie wirken sich Beschäftigungsentwicklung, Renteneintritte und Nachwuchskräftemangel auf die Angebots-Nachfrage-Relation in Ost- und Westdeutschland aus? Dies lässt sich mithilfe der Zahlen offener Stellen (Arbeitsnachfrage) und Arbeitsloser (Arbeitsangebot) in der amtlichen Statistik verdeutlichen. In den 15 Jahren zwischen 2004 und 2019 hat sich die Zahl der bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldeten Arbeitsstellen, für die neue Beschäftigte gesucht werden, in Ostdeutschland um das 4,8-fache, in Westdeutschland nur um das 3,8-fache erhöht. Im kürzeren Zeitraum von September 2012 bis September 2019 ist die Arbeitsnachfrage in Ostdeutschland um 78 Prozent auf rund 151.000 offene Stellen gewachsen, in Westdeutschland ist sie lediglich um gut 60,3 Prozent auf rund 634.000 Stellen gestiegen (Tabelle 1).
Gegenläufig zur steigenden Nachfrage ist das Arbeitsangebot in beiden Landesteilen geschrumpft. In Ostdeutschland sank die Zahl Arbeitsloser von 2012 bis 2019 um fast 38 Prozent, dagegen in Westdeutschland nur um gut 12 Prozent. Das zeigt, dass sich vor allem der ostdeutsche Arbeitsmarkt derzeit mit hohem Tempo von einer Situation mit Arbeitskräfteüberschuss in ein neues Ungleichgewicht mit Arbeitskräftemangel bewegt.
Gleichwohl ist nach wie vor der westdeutsche Arbeitsmarkt angespannter als der ostdeutsche. Das wird deutlich, wenn man die Zahl Arbeitsloser und offener Stellen ins Verhältnis setzt bzw. die Zeit bis zur erfolgreichen Besetzung (oder Abmeldung) offener Stellen für Qualifizierte vergleicht, die sogenannte Vakanzzeit. Beide Kennzahlen werden als Maß für Besetzungsschwierigkeiten interpretiert. Wie sich zeigt, ist die Relation von Arbeitslosen zu offenen Stellen im Osten noch günstiger für Arbeitgeber als im Westen, auf eine Stelle kommen rechnerisch mehr potenzielle Bewerber (Tabelle 2). Dennoch fällt es schon heute vielen Betrieben schwer, aus der geringen Zahl der Bewerber diejenigen mit passender Qualifikation auszusuchen – wenn sie denn überhaupt Bewerbungen erhalten. Entsprechend kostet in den Neuen Bundesländern eine Stellen-Neubesetzung mit durchschnittlich 115 Tagen zwar viel Zeit, allerdings ist dies immer noch weniger als in den alten Bundesländern, wo es 125 Tage sind. Doch auch hier ist ein zügiger Aufholprozess in Ostdeutschland zu erkennen, seit 2012 hat die Laufzeit offener Stellen um knapp 89 Prozent zugenommen.
Ein entscheidendes Kriterium bei der Stellenbesetzung ist die Qualifikation. Unterscheidet man den Stand und die bisherige Entwicklung von Angebot und Nachfrage nach dem Anforderungsniveau der Stellen, so zeigen sich ausgeprägte Unterschiede. Während bei den Helfer- und Anlerntätigkeiten auf eine Stelle vergleichsweise viele Bewerber kommen, so sind es bei berufsfachlich qualifizierten und hochqualifizierten Tätigkeiten (Fachkräfte bzw. Spezialisten) deutlich weniger. Fachkräfte bilden heute die größte Beschäftigtengruppe. Für dieses Anforderungsniveau werden in Ost und West mit Abstand die meisten Arbeitskräfte gesucht. Allerdings ist die Zahl der entsprechenden Bewerber in beiden Landesteilen am stärksten geschrumpft, in Ostdeutschland sogar um etwa 45 Prozent in sieben Jahren. Wenngleich die Entwicklung auf allen Anforderungsniveaus in Richtung Arbeitskräftemangel geht, so werden doch auf dem Fachkraft-Teilmarkt künftig die größten Engpässe entstehen, vor allem hinsichtlich des großen Umfangs von Stellen, die nicht mehr besetzt werden können.
Migration und Binnenwanderung
Die hohe Arbeitsnachfrage in Deutschland kann bereits seit vielen Jahren nicht mehr nur mit einheimischen Arbeitskräften gedeckt werden. Vielmehr beruht das Beschäftigungswachstum zu einem hohen Anteil auf Zuwanderung, im Falle Ostdeutschlands vor allem aus den Staaten der EU-Osterweiterung. So hat sich der Anteil ausländischer Beschäftigter in Ostdeutschland von 2005-2018 von knapp zwei Prozent auf acht Prozent erhöht. In Westdeutschland, wo Arbeitsmigration bereits viel länger eine bedeutende Rolle spielt, wuchs der Anteil ebenfalls, nämlich von acht auf knapp 15 Prozent.
Neben Arbeitsmigranten stellen heute auch Geflüchtete ein weiteres, bedeutendes Beschäftigungspotenzial dar. Bei ihrer beruflichen Integration und Qualifizierung treten besondere Herausforderungen auf, die eine schnelle Eingliederung behindern. Dennoch sind auch aus dieser Gruppe im Zeitverlauf zunehmende Eintritte in Beschäftigung zu beobachten Ihre Beschäftigungsquote steigt stark an, die Arbeitslosenquote bzw. Unterbeschäftigung geht seit 2017 zurück.
Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen, dass Geflüchtete ähnlich gute Beschäftigungsperspektiven wie andere Zuwanderer haben. Allerdings dauert es im Schnitt fünf bis sechs Jahre, bis sie erwerbstätig sind (Brücker u.a. 2019). Unter der Voraussetzung, dass diese Menschen in Ostdeutschland gehalten werden können und nicht in die Ballungszentren Westdeutschlands abwandern, stellt diese Gruppe ein beträchtliches Beschäftigtenpotenzial dar.
Viele der erwerbstätigen Migrantinnen und Migranten haben eine geringe formale Qualifikation oder sind unterhalb ihres ursprünglichen Ausbildungsniveaus beschäftigt (Gotter u.a. 2018). Dementsprechend arbeiten sie häufiger als Deutsche auf Helfer-Positionen. Allerdings sind im Zuge des Generationenaustausches vor allem qualifizierte Stellen zu besetzen. Ohne eine höhere Ausbildungsbeteiligung, weitere Qualifizierungsmaßnahmen und eine verbesserte Anerkennung vorhandener beruflicher Qualifikationen könnten sich künftig Passungsprobleme zwischen dem Angebot ausländischer Bewerber und der Nachfrage verstärken. Während es so bei niedrig qualifizierten Arbeitskräften zu einem Überangebot kommen könnte, würden ausländische Beschäftigte kaum dazu beitragen, die Lücke bei qualifizierten Arbeitskräften zu schließen. Ein weiteres Problem ist, dass hohe Einwanderungszahlen durch Flucht, Arbeitsmigration oder Familiennachzug nicht automatisch zu dauerhafter Einwanderung führen. So blieb etwa laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fast die Hälfte aller Zugezogenen des Jahres 2012 für weniger als ein Jahr in Deutschland (BAMF 2015). Dennoch stellt Migration heute und in Zukunft einen wichtigen Beitrag dar, mit dem zumindest ein Teil der Folgen des demografischen Wandels auf dem Arbeitsmarkt abgefedert werden kann. Um dies zu fördern, sollen mithilfe des ab März 2020 in Kraft getretenen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes derzeit noch bestehende Hürden für qualifizierte Arbeitsmigranten aus Drittstaaten reduziert werden (Brücker 2019).
Neben der Außenwanderung über die Grenzen Deutschlands kann auch Binnenwanderung dazu beitragen, Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt auszugleichen. Heute gibt es in Ostdeutschland eine Reihe von Initiativen, die sich um die Rückkehr Abgewanderter bemühen. Lange Zeit war die Binnenmobilität in Deutschland von Abwanderung aus Ostdeutschland geprägt. Nach einer ersten Wanderungswelle Anfang der 1990er Jahre verließen viele Angehörige der geburtenstarken Jahrgänge (um 1980) um das Jahr 2000 ihre Heimatregion für eine Ausbildung oder Beschäftigung in Westdeutschland (Ketzmerick 2009). Inzwischen verzeichnet Ostdeutschland mit plus 3.997 Personen im Jahr 2017 Wanderungsgewinne. Ausgeprägte Rückwanderungswellen sind jedoch nicht erkennbar (Nadler 2017, Fuchs u.a. 2016). Die Chancen sind gering, dass die Rückkehr zuvor abgewanderter Ostdeutscher in nennenswertem Ausmaß zur Linderung der Fachkräfteproblematik beitragen könnte.
Betriebliche Reaktionen
Durch den wachsenden Arbeitskräftemangel verschärft sich auf dem Arbeitsmarkt die Konkurrenz um Bewerber zwischen Betrieben, Branchen, aber auch zwischen Regionen. Dabei spielt die Vergütung eine wichtige Rolle. Lange Zeit waren niedrige Löhne ein wichtiger Standortfaktor für ostdeutsche Unternehmen, entsprechend liegen diese deutlich unter dem Westniveau, auch die Tarifbindung ist in Ostdeutschland besonders gering. Parallel zur schnell wachsenden Fachkräfteproblematik auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt nähern sich die Entgelte in Ost und West nun langsam an. So verdiente laut IAB-Betriebspanel 2018 im Durchschnitt ein ostdeutscher Vollzeitbeschäftigter rund 2.790€ brutto pro Monat, was 84 Prozent des Verdienstes eines westdeutschen vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmers entsprach – und einer um drei Prozent geringeren Lohnlücke als im Vorjahr (BMWi 2019). Künftig dürfte sich die Lohnkonkurrenz innerhalb Ostdeutschlands sowie auf den überregionalen Arbeitsmärkten verschärfen, da sich der Generationenwechsel fortsetzt und in wenigen Jahren auch in angrenzenden "Hochlohnregionen" Westdeutschlands an Fahrt gewinnen wird.
Neben der Vergütung haben Stellenbewerber heute weitere Ansprüche, die mit gewachsenem Selbstbewusstsein vorgetragen werden. Dabei geht es um flexibles und mobiles Arbeiten, eine stimmige Work-Life-Balance und Selbstverwirklichung im Job. Unattraktive Stellen bleiben so oft unbesetzt oder werden schnell wieder gekündigt, denn auch die Wechselbereitschaft ist gestiegen. Eigenkündigungen haben sich innerhalb weniger Jahre zum wichtigsten Abgangsgrund in ostdeutschen Unternehmen entwickelt (a.a.O.). Entsprechend setzen heute viele der meist kleineren ostdeutschen Betriebe zusätzlich auf "weiche" Faktoren, um Mitarbeiter zu halten oder neue zu finden. Dazu zählen die in der Regel vergleichsweise guten Kinderbetreuungsangebote vor Ort, Vereinbarkeitslösungen oder flache Hierarchien und schnelle Verantwortungsübernahme.
Unternehmen reagieren mit einer Vielzahl weiterer Maßnahmen auf Fachkräfteengpässe, dazu zählen der Einsatz von Leiharbeit, Arbeitszeitflexibilisierung oder Teilzeitarbeit als Angebot für Beschäftigte. Auch die längere Beschäftigung älterer Arbeitnehmer kann Betrieben für kurze Zeit Luft verschaffen, bis Stellen neu besetzt werden müssen. Der Anteil der Beschäftigten in Weiterbildungsmaßnahmen steigt ebenfalls seit Jahren und liegt in Ostdeutschland konstant über dem deutschen Durchschnitt (38% zu 33% im Jahr 2018). Offenbar entwickeln Betriebe gezielt interne Ressourcen, um Besetzungsschwierigkeiten auszugleichen (Dettmann u.a. 2019).
Ob die genannten Maßnahmen ausreichen, wird sich erst langfristig zeigen. Klar ist jedoch, dass auch eine schwächere Konjunktur und ein sinkendes Beschäftigungswachstum die Situation nicht wesentlich entspannen. Das Ausscheiden vieler Älterer aus dem Erwerbsleben erzeugt einen hohen Ersatzbedarf. Aufgrund dieser ausgeprägten demografischen Komponente bleibt die Arbeitskräftenachfrage auch bei konjunkturellen Schwankungen hoch. Zudem entstehen im Zuge der Alterung der Gesellschaft – unabhängig von der Wirtschaftslage – viele neue Arbeitsplätze im Gesundheitsbereich und in der Pflege. Gleichzeitig führen technologischer Wandel und Digitalisierung zu neuen Qualifikationsbedarfen. Eine Wiederkehr der hohen Arbeitslosigkeit ist somit unwahrscheinlich. Die Herausforderung heute besteht vor allem in der Qualifizierung für die Anforderungen von morgen.