Die Ausgangssituation – in der DDR war kaum Platz für private Selbständigkeit
Das Wirtschaftssystem der DDR war als Planwirtschaft nach dem Vorbild der UdSSR angelegt. Das gesamte wirtschaftliche Geschehen wurde zentral nach politischen und wirtschaftlichen Zielvorstellungen geplant, gelenkt und verwaltet. Die überwiegende Mehrheit der Betriebe war nicht in privater Hand, sondern im Besitz des Staates (Volkseigene Betriebe – VEB). Die in der DDR gegenüber dem Mittelstand bzw. privaten Selbständigen praktizierte Politik war ausnehmend restriktiv. Folgende Zahlen verdeutlichen dies beispielhaft: Während die Selbständigenquote auf dem Gebiet des heutigen Ostdeutschland nach 1945 zunächst auch im gesamtdeutschen Vergleich überdurchschnittlich hoch gewesen war, betrug sie zum Ende der DDR nur noch rund 2,2 Prozent der Erwerbstätigen. Ursächlich hierfür waren die großen Vergenossenschaftlichungs- und Verstaatlichungswellen in der DDR in den Jahren 1960/61 und 1972. So reduzierte sich beispielsweise die Zahl der Selbständigen in der Land- und Forstwirtschaft zwischen 1952 und 1961 von 1,215 Millionen auf rund 9.000. Die Restverstaatlichung des Verarbeitenden Gewerbes in der DDR zwischen 1971 und 1972 verringerte die Zahl der Selbständigen in diesem Bereich von 10.000 auf 1.000. Nennenswerte Zahlen von Selbständigen verblieben vornehmlich im Bereich des Handwerks (vgl. Thomas 1993).
Als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Entwicklung der Gruppe der Selbständigen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung können die Angaben der letzten Berufstätigenerhebung der DDR im Jahr 1989 dienen (vgl. Rudolph 1990). Demzufolge belief sich die Zahl der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen im September 1989 in der DDR auf rund 184.600. Diese Personen waren großenteils im privaten Handwerk (113.300 Selbständige) tätig. Ein weiteres Reservat für Selbständige waren die übrigen Privatbetriebe (32.500 Selbständige, überwiegend in Landwirtschaft, Verkehr und Handel). 13.200 Selbständige waren freiberuflich tätig, 25.500 gingen der Tätigkeit als Kommissionshändler nach. In privat geführten Betrieben arbeiteten zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung rund 232.000 Arbeiter und Angestellte. Im Schnitt beschäftigte jeder Selbständige rund 1,25 Personen (vgl. Rudolph 1990).
Nach der Wiedereinigung: Angleichung der Selbständigenquoten in Ost- und Westdeutschland
Die Entwicklung der Selbständigkeit in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung verweist auf die besondere Dynamik des Transformationsprozesses. So waren die ersten Abschnitte der Transformation der ostdeutschen Wirtschaft in eine Marktwirtschaft durch einen massiven Einbruch der Produktion und einen damit verbundenen Arbeitsplatzabbau und steigende Arbeitslosigkeit charakterisiert. Während viele DDR-Alt-Betriebe abgewickelt bzw. umstrukturiert wurden und dadurch Arbeitsplätze massenhaft wegfielen, entstanden neue Arbeitsplätze überwiegend durch die Transformation "von unten", also durch Gründung neuer Unternehmen (vgl. Fritsch et al. 2015). Das Zusammenspiel verschiedener Push- und Pull-Faktoren – Personen werden aus einem Gebiet "weggedrückt", anderen werden angezogen –, löste einen "Gründungsboom" in Ostdeutschland aus. Dieser Boom in den ersten Jahren nach Wiedereinigung wurde einerseits getrieben durch Pull-Faktoren wie nachholende Gründungsaktivitäten Ostdeutscher, nachdem die restriktive Haltung des DDR-Regimes gegenüber unternehmerischer Selbständigkeit beseitigt war. Zudem stand der erhöhten Nachfrage nach Handels- und Dienstleistungen unmittelbar nach der Wiedereinigung eine nur relativ kleine Zahl ostdeutsche Anbieter gegenüber. Auch die schnell steigende Massenarbeitslosigkeit führte dazu, dass vielfach der Gang in die Selbständigkeit mangels beruflicher Alternativen erfolgte (vgl. Fritsch et al. 2015).
Das Zusammenspiel dieser Faktoren führte dazu, dass die Selbständigenquote (Anteil der Selbständigen und mithelfenden Familienangehörigen an der Zahl der Erwerbstätigen und Arbeitslosen) in Ostdeutschland von rund 4,6 Prozent im Jahr 1991 rasch anstieg. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass dieser Wert weniger als halb so hoch wie die Selbständigenquote in Westdeutschland mit 9,7 Prozentpunkten war. Bis 2012 näherte sich die Selbständigenquote Ostdeutschlands an das westdeutsche Niveau kontinuierlich an (vgl. auch Fritsch et al. 2015). Seit 2013 liegt die ostdeutsche Quote stets über derjenigen Westdeutschlands. Jedoch ist in beiden Landesteilen der Anteil der Selbständigen an der erwerbsfähigen Bevölkerung aufgrund der nach der Finanzkrise von 2008/09 einsetzenden guten konjunkturellen Phase rückläufig. Für das Jahr 2018 beträgt die Selbständigenquote in Ostdeutschland 9,2 Prozent gegenüber 8,8 Prozent in Westdeutschland (Abbildung 1).
Im Zuge der allgemeinen Angleichung der Selbständigenquoten von Ost- und Westdeutschland bauten sich auch die Unterschiede auf der Ebene der Länder ab (Abbildung 2). So wiesen 1991 die eher agrarisch geprägten (und LPG-dominierten) Länder Mecklenburg-Vorpommern und auch Sachsen-Anhalt mit 3,7 bzw. 4,3 Prozent die geringsten Selbständigenanteile in Deutschland auf. Dem gegenüber standen besonders hohe Selbständigenquoten in Bayern (12,5 Prozent), Rheinland-Pfalz (11,3 Prozent) und Schleswig-Holstein (10,6 Prozent). Die regionale Spannweite der Werte betrug 8,8 Prozent. Bis 2018 halbierte sich die Spreizung auf 4,1 Prozent. Nun weist Brandenburg mit 10,6 Prozent den bundesweit höchsten Selbständigenanteil auf, dicht gefolgt von Berlin. Die niedrigsten Selbständigenquoten finden sich heute in Bremen (6,5 Prozent) und im Saarland (7,5 Prozent). Die Mehrzahl der ostdeutschen Länder liegt mit Werten zwischen 7,8 (Sachsen-Anhalt) und 9,4 Prozent (Sachsen) nahe am Bundesdurchschnitt.
Sektorale Zusammensetzung I: Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft
Auch die sektorale Struktur der Selbständigen in Ost- und Westdeutschland hat sich seit 1991 deutlich gewandelt. Waren 1991 in Westdeutschland nur rund 63,4 Prozent der Selbständigen in Dienstleistungsbereichen tätig, hat sich dieser Anteil 2018 auf 76,4 Prozent erhöht. In Ostdeutschland hingegen betrug der Dienstleistungsanteil bereits im Jahr 1991 69,0 Prozent und stieg nur gering auf 71,7 Prozent an. Der Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft erfasst folglich auch die Selbständigen Ost- wie Westdeutschlands, verläuft in Westdeutschland jedoch dynamischer. Dabei ist die Entwicklung innerhalb des Dienstleistungssektors zum Teil unterschiedlich. In Ost- wie Westdeutschland sind es die Bereiche der Finanz-, Versicherungs- und unternehmensnahen Dienstleistungen (hier erhöht sich der Anteil an allen Selbständigen in Ostdeutschland um 71,8 Prozent, in Westdeutschland um 47,6 Prozent) und selbständig Tätige in den Bereichen Erziehung, Gesundheit sowie private Haushalte (in Ostdeutschland plus 32,4 Prozent, in Westdeutschland plus 60,5 Prozent), welche die Entwicklung treiben. Die Selbständigkeit in den Bereichen Handel, Verkehr, Lagerei und Gastgewerbe geht in beiden Landesteilen zurück (in Ostdeutschland minus 33,1 Prozent, in Westdeutschland minus 13,9 Prozent).
Den stärksten Bedeutungsverlust in der sektoralen Zusammensetzung der Selbständigen in Westdeutschland erfuhr jedoch der Bereich der Land- und Forstwirtschaft. Waren 1991 noch 21 Prozent der Selbständigen in diesem Sektor tätig, fiel der Anteil 2018 auf 7,1 Prozent (minus 66 Prozent). Damit hält der Landwirtschaftsbereich in Westdeutschland jedoch immer noch einen vergleichsweise höheren Anteil unter den Selbständigen. In Ostdeutschland lag dieser Anteil bei 4,8 Prozent 1991und ging bis zum Jahr 2018 auf 3,4 Prozent zurück (minus 30 Prozent). Ursächlich für diese relativen Bedeutungsunterschiede der Landwirtschaft in den Selbständigenanteilen in Ost- und Westdeutschland waren die Verstaatlichungswellen in der Landwirtschaft in der Zeit der DDR. Die seinerzeit geschaffenen großen Produktionseinheiten (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften – LPG) erwiesen sich nach erfolgter Privatisierung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen als vorteilhafte Organisationsformen, welche sich insbesondere durch ihre Größenvorteile im Wettbewerb behaupten konnten (vgl. hierzu den Themenbeitrag "Landwirtschaft in Ostdeutschland: der späte Erfolg der DDR").
Den stärksten Bedeutungsverlust in der sektoralen Zusammensetzung der Selbständigen erfuhr in Ostdeutschland der Bereich des Produzierenden Gewerbes. Waren 1991 noch 15,1 Prozent der Selbständigen in diesem Sektor tätig, verringerte sich die Zahl auf 8 Prozent im Jahr 2018 (minus 46,9 Prozent). In Westdeutschland zeigt sich ein ähnlicher Trend. Ausgehend von einem deutlich niedrigeren Selbständigenanteil des Produzierenden Gewerbes in allen Jahren des Betrachtungszeitraums ging die zahlenmäßige Bedeutung des Sektors von 8,3 auf 5,8 Prozent zurück (minus 29,6 Prozent). In beiden Landesteilen legte das Baugewerbe innerhalb der Gruppe der Selbständigen deutlich zu. Hier stieg der Anteil in Westdeutschland von 7,3 auf 10,6 Prozent und in Ostdeutschland von 11,1 auf 16,9 Prozent.
Sektorale Zusammensetzung II: Wissensintensive Dienstleistungen sind bei Selbständigen in Ostdeutschland unterrepräsentiert
Schlüsselt man die sektorale Zusammensetzung der Selbständigen in Ost- und Westdeutschland im Jahr 2017 noch detaillierter auf, so wird deutlich, dass Ostdeutschland insbesondere im Bereich der höherwertigen Dienstleistungen teilweise noch Rückstände gegenüber Westdeutschland aufweist. So sind in Westdeutschland über 3 Prozent der Selbständigen im Bereich der Informations- und Kommunikationsdienstleistungen tätig. In Ostdeutschland beträgt dieser Anteil unter 2 Prozent (und damit rund 60 Prozent des westdeutschen Wertes). Gleiches gilt für den Bereich der freiberuflichen, wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen. Hier sind in Westdeutschland rund 13,5 Prozent der Selbständigen tätig, in Ostdeutschland liegt der Anteil mit 10,6 Prozentpunkten wiederum niedriger (rund 78 Prozent des westdeutschen Niveaus). Diese strukturellen Besonderheiten müssen im Zusammenhang mit weiteren Nachteilen des ostdeutschen Selbständigenbereichs gesehen werden. So zeigen Fritsch et al. (2015) anhand der Daten des Mikrozensus, dass in Ostdeutschland der Anteil der Solo-Selbständigen, also von Selbständigen ohne eigene Angestellte, sich im Zeitverlauf deutlich erhöht hat und weit über dem westdeutschen Vergleichswert liegt.
Zusammenfassende Einschätzung
Die Zahl der Selbstständigen in Ostdeutschland (ohne Berlin) beläuft sich derzeit auf rund 600.000 und ist das Ergebnis eines über die Jahre zunehmenden Trends. Da Selbständigkeit in der DDR kaum ein Platz eingeräumt wurde, kennzeichnete Ostdeutschland zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung eine Selbständigenquote von rund 2,2 Prozent. Dieser Anteil hat sich 2018 auf 9,2 Prozent erhöht. Damit übersteigt die Selbständigenquote Ostdeutschlands diejenige Westdeutschlands seit dem Jahr 2013. Es gilt hierbei jedoch zu beachten, dass das Wachstum der Selbständigenanzahl insbesondere in Ostdeutschland von den Solo-Selbstständigen getragen war. Zudem bestehen im Hinblick auf die sektorale Zusammensetzung mit einem geringeren Anteil an wissensintensiven Wirtschaftszweigen als in Westdeutschland noch Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. Aktuelle Untersuchungen zeigen jedoch auch, dass sich die Situation der Selbstständigen in Deutschland zum aktuellen Zeitpunkt deutlich verbessert hat. So verweisen Günther und Marder-Puch (2019) darauf, dass immer mehr Selbstständige nicht in unfreiwillige Selbstständigkeit gedrängt werden, sondern aus anderen Gründen diese Stellung im Beruf gewählt haben. Dies unterscheidet sich deutlich zum nachwendebedingten Boom der Gründungstätigkeit in Ostdeutschland, wo vielfach der Gang in die Selbständigkeit in Ermangelung beruflicher Alternativen erfolgte.