Ausgangsbedingungen von Kirchenbindung und Religiosität in West- und Ostdeutschland
Die Ausgangssituation für Kirchen und Religion im wiedervereinigten Deutschland war 1989 höchst unterschiedlich. Auf dem Gebiet der alten Bundesländer gab es noch immer eine "Kultur der Konfessionszugehörigkeit" (Pickel/Sammet 2011, S. 46), obwohl seit den frühen 1970er Jahren vermehrt Kirchenaustritte und abnehmende kirchliche Praxis festzustellen waren. Der Sozialismus hatte hingegen über eine forcierte Säkularisierung in Ostdeutschland eine "forcierte Säkularität" (Wohlrab-Sahr u.a. 2009) und "Kultur der Konfessionslosigkeit" (Pickel 1998, S. 207) geschaffen. Die aggressive, gegen Religion und Kirchen gerichtete Politik der SED-Regierung, erwies sich dabei im ehemaligen protestantischen Kernland als so erfolgreich, wie nirgends anders in den Staaten des Sozialismus, sieht man einmal von Estland ab.
Die Prägekraft der deutschen Teilung auf Religiosität und Kirchenbindung zeigt sich in der Dynamik der Entwicklung zwischen 1949 und 1989. So lagen nach dem 2. Weltkrieg in beiden Gebieten relativ ähnliche Ausgangsbedingungen hinsichtlich der Bindung an die christlichen Kirchen vor. Im Nachgang des zweiten Weltkrieges waren die Kirchenmitgliedschaften auf schon lange nicht mehr erreichte Werte von bis zu 96 % der Bevölkerung angestiegen. So gehörten 81 % der Gesamtbevölkerung der DDR der evangelischen Kirche an, während der Anteil der Katholiken knapp 14 % betrug (Pollack 2000, S. 19). Auch auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fand sich eine insgesamt beachtliche Verbreitung christlicher Kirchenbindung: Dort zählten 1949 ca. 50 % zur evangelischen und 46 % zur katholische Kirche (Pollack 2000, S. 19). Die Ungleichverteilung zwischen den Konfessionen in Ostdeutschland ist auf dessen Historie als Ausgangsgebiet der Reformation und eine tief verankerte protestantische Zugehörigkeitskultur zurückzuführen.
Diese Zugehörigkeitskultur wandelte sich in der Zeit des Sozialismus markant, bis hin zu der bereits angesprochenen "Kultur der Konfessionslosigkeit". Während in Westdeutschland auch 1989 noch fast 85 % der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen war, hatte sich in der DDR der Anteil der Konfessionslosen auf fast 70 % erhöht. Konfessionslos zu sein wurde in einem für kirchliche Entwicklungen rasanten Zeitraum zum Normalfall. Auch wenn einige der Referenzzahlen über Konfessionszugehörigkeiten gewisse statistische Unsicherheiten aufweisen, kann man von einem grundsätzlichen Kulturwandel und nicht nur einem vorübergehenden Wandel der religiösen Landschaft sprechen, denn auch nach 1989 blieben diese Zahlenverhältnisse weitgehend gewahrt. In Konsequenz führt dies zu einem der schärfsten noch bestehenden Unterscheidungsmerkmalen zwischen West- und Ostdeutschland. Ebenfalls bestehende, teils konfessionell bedingte, Differenzen zwischen Nord- und Süddeutschland oder zwischen ländlichen und städtischen Gebieten treten deutlich hinter diese West-Ost-Differenz zurück.
Gründe für den starken Einbruch der Kirchen in der DDR
Als zentraler Grund für die Entkirchlichung und den Traditionsabbruch des Christentums in Ostdeutschland ist zweifelsohne die aggressive anti-kirchliche Politik der DDR-Führung zu sehen. Sie durchlief in ihrer Repressionskraft unterschiedliche Phasen, wobei den Bürger*innen der DDR immer bewusst war, dass eine Kirchenzugehörigkeit berufliche und gesellschaftliche Nachteile mit sich brachte. Man kann diese Politik als staatlich organisierten Kampf gegen die Kirchen als gesellschaftlich bedeutsame Institution bezeichnen. Er brachte insbesondere in seiner aggressiven Anfangsphase beachtliche Erfolge für die DDR-Führung. So waren die 1950er Jahre durch hohe Austrittszahlen aus den christlichen Kirchen, speziell der evangelischen Kirche, sowie abstürzende Tauf- und Konfirmationszahlen geprägt. Die meisten Christ*innen entschieden sich in der Abwägung zwischen Glaubensausübung und dem Erhalt sozialer Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und Beruf für letzteres. Aber auch spätere Entspannungsphasen im Verhältnis von Kirche und Staat, z.B. in den 1970er und 1980er Jahren, führten zu keiner Regeneration der Mitgliedschaft (Pollack 1994). Vielmehr verblieben die Ausgetretenen außerhalb der Kirchen und zogen ihre Kinder entsprechend in Kirchendistanz und ohne religiöse Sozialisation auf.
Konfessionslosigkeit in Europa – Ostdeutschland nur begrenzt ein Sonderfall (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Die Erfolgsbedingungen für die repressive Kirchenpolitik waren in Ostdeutschland mit die günstigsten innerhalb der sozialistischen Staaten. Dies belegt der Vergleich zu anderen osteuropäischen Ländern, wo allein Estland und die Tschechische Republik ähnliche Einbrüche aufwiesen (Müller 2013, S. 88, 94). Zum einen fand in der DDR eine – aus westlicher Sicht moderate – Modernisierung statt. Folgt man den Überlegungen der Säkularisierungstheorie, einem der drei bedeutenden Erklärungsmodelle für religiöse Entwicklungen (Pickel 2011, S. 137-177), so gibt es ein Spannungsverhältnis zwischen Religion und Modernisierung, welches dann zu Säkularisierung führt. Säkularisierung ist der soziale Bedeutungsverlust von Religion, der sich maßgeblich in Entkirchlichungsprozessen äußert – allerdings aufgrund der auf diese Weise veränderten Rahmenbedingungen auch christliche Religiosität trifft. Zwar waren diese Ausgangsbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Punkt aufgrund der weitaus stärkeren Modernisierungsdynamik noch ungünstiger als in der DDR, was sich auch seit den frühen 1970er Jahren in parallelen Entkirchlichungsprozessen in Westdeutschland widerspiegelte. Allerdings öffnete die geringere Widerstandsmöglichkeiten der evangelischen Kirche gegen solche Restriktionen den Weg für den Erfolg der rigiden (durch die sozialistische Ideologie begründeten) Antikirchenpolitik der DDR. Anders als die katholische Kirche, die in politischen Dingen auf den heiligen Stuhl in Rom als Verantwortlichen verweisen konnten, waren die evangelischen Landeskirchen in der DDR unmittelbar dem politischen Zwang der SED-Parteiführung ausgesetzt. Repression, Modernisierung und eine geringe Bindekraft des stärker auf individualisierte Religiosität zielenden Protestantismus wirkten also im ostdeutschen Fall ungünstig zusammen (Pickel/Sammet 2001, S. 165-190). Sie machten Ostdeutschland, wenn nicht zu einem Sonderfall, doch zu einem für eine vitale Religiosität besonders schwierigem Gebiet.
Die Entwicklung nach 1989 und ihre Erklärung
Typologie der Kirchlichkeit im Zeitvergleich (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Die auf diesen Entwicklungen beruhende Differenz in Kirchenbindung und Religiosität zwischen West- und Ostdeutschland hat sich bis heute kaum verändert. Kerngrund hierfür ist: Anders als noch 1989 seitens der großen christlichen Volkskirchen in Deutschland erwartet, findet sich bis heute keine Revitalisierung von christlicher Konfessionszugehörigkeit in Ostdeutschland (Großbölting 2013, S. 230-231). Vielmehr hat sich dort die "Kultur der Konfessionslosigkeit" als kontinuierliche Normalität verfestigt. Wenn von einer Angleichung zu sprechen ist, dann sorgen allein die Prozesse des Traditionsabbruchs des Christentums und der Säkularisierung in Westdeutschland für eine Angleichung zwischen beiden Gebieten. So wie sich der Anteil der Konfessionslosen in Ostdeutschland seit 1990 in Umfragen weiter auf ein Niveau von über 70% erhöhte, finden wir in Westdeutschland einen kontinuierlichen Anstieg der Konfessionslosen seit 1990, der maßgeblich dafür ist, dass mittlerweile die plurale Gruppe der Konfessionslosen die größte weltanschauliche Gruppe in Deutschland ist – betrachtet man die Evangelische Kirche in Deutschland und die katholische Kirche voneinander getrennt.
Religiöse Sozialisation nach Altersgruppen (Generationen) (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Für diese Entwicklungen sind zwei Aspekte bedeutsam: Zum ersten lebt die Kirchenmitgliedschaft in starkem Umfang von ihrer generationalen Weitergabe und religiöser Sozialisation, speziell im Elternhaus. Doch gerade die Weitergabe des Glaubens ist in den letzten Jahren in Westdeutschland massiv abgesunken, während sie in Ostdeutschland in der Folge des Sozialismus sowieso nur noch bei einem überzeugten Klientel stattfindet. In Ostdeutschland haben wir es an einigen Orten bereits mit Konfessionslosigkeit in dritter Generation zu tun. Hier besteht nicht nur eine Distanzhaltung zu Kirche, sondern weitgehende Areligiosität und ein fehlendes Verständnis für religiöse und spirituelle Angelegenheiten. Diese Entwicklung korrespondiert mit einer zweiten Entwicklung. So hat sich gesamtgesellschaftlich das Bild etabliert, dass Religion eine private Sache ist und man nicht über seine Religiosität in der Öffentlichkeit redet. Diese "säkulare Schweigespirale" begünstigt den Abbruch religiöser Sozialisation, ist doch religiös zu sein unmodern, "uncool" und ein nachrangiges Merkmal der eigenen Persönlichkeit geworden (Pickel 2016, S. 79). Vielmehr kommt es beim Gros der Konfessionslosen zu einer areligiösen Sozialisation. Sie ist in Ostdeutschland stark verbreitet und wird zudem von einigen Ostdeutschen als einer der wenigen Aspekte angesehen, in denen man moderner als die alte Bundesrepublik war und ist. Damit dient die eigene Konfessionslosigkeit auch als Merkmal der Gruppenabgrenzung zwischen West- und Ostdeutschen, dass im Umfeld von Debatten zu "Ostdeutschen als Bürgern zweiter Klasse" Relevanz gewinnen könnte.
Subjektive Religiosität im Generationenvergleich 2012 (Interner Link: Grafik zum Download)
Subjektive Religiosität im Generationenvergleich 2012 (Interner Link: Grafik zum Download)
Sozialisationsabbruch wie "säkulare Schweigespirale" korrespondieren in starkem Umfang mit Annahmen der Säkularisierungstheorie, geht diese doch von einem sozialem Bedeutungsverlust in der Generationenweitergabe aus. Anders als das theoretischen Alternativmodell des religiösen Marktes sieht die Säkularisierungstheorie dann auch nur begrenzte Möglichkeiten der Kirchen eine Revitalisierung unter den Bürger*innen zu erreichen, geht doch die Säkularisierung tiefer als eine reine Abwendung von der Kirche. Sie bringt, aufgrund fehlender sozialer Einbettung, eine Diffusion des Glaubens mit sich. Teilweise wird das Ergebnis dieses Prozesses in aktuellen Überlegungen als religiöse Indifferenz – Interesselosigkeit an religiösen Dingen – bezeichnet. Sie steht dem in der Individualisierungstheorie des Religiösen verankerten Idee einer Privatisierung des Religiösen gegenüber, die auf Basis einer anthropologischen Betrachtung des Menschen diesen immer als religiös erachtet (Pickel 2011, S. 135-226). Diese Religiosität könne nur je nach Person anders aussehen. So tragfähig die Annahme von Individualisierungstendenzen ist, scheint sie doch auf wenige Personen beschränkt zu sein. Umfragen zufolge weisen Konfessionslose in der Regel nur minimale Glaubensbruchstücke auf und bezeichnen sich selbst zumeist als unreligiös (Pickel/Sammet 2011; Pickel/Hidalgo 2013).
Die Zukunft – Säkularisierung und religiöse Pluralisierung mit Ost-West-Differenzen
Die Teilung Deutschlands zwischen 1949 und 1989 hat also bis heute maßgebliche Unterschiede in der religiösen Landschaft der Bundesrepublik hinterlassen. Diese werden in Zukunft nicht so schnell verschwinden und möglicherweise politische Folgen haben. Denn neben den unterschiedlichen religiösen Kulturen hat sich auch eine zweite Differenz zwischen West- und Ostdeutschland etabliert: So finden wir in Westdeutschland eine zunehmende religiöse Pluralisierung mit einem sichtbaren Anwachsen des Anteils muslimischer Bürger*innen, während in Ostdeutschland erst die Fluchtbewegungen seit 2015 eine gewisse Sichtbarkeit dieser Gruppemit sich brachte. Diese unterschiedliche Religiositätsstruktur hat Auswirkungen. Wie sich die Ostdeutschen als Konfessionslose "völlig normal" empfinden, stehen sie teilweise Religion und insbesondere Muslimen skeptischer gegenüber. Studien der Bertelsmann Stiftung zeigen unter Ostdeutschen ein höheres Bedrohungsgefühl als unter Westdeutschen, obwohl nur knapp 1 % Muslime in Ostdeutschland lebt (Pickel 2019, S. 80). Speziell geringe persönliche Kontakte, sowie eine Meinungsbildung allein auf medialer Basis bringen damit eine Islamophobie in Ostdeutschland mit sich, die als ein wichtiges Element der Wahl der AfD einzustufen ist. Hier, wie in der Wahrnehmung als moderner aufgrund der stärkeren Verbreitung von Konfessionslosigkeit und Säkularität, kommen gruppenspezifische Identitätsprozesse zum Tragen, die zumindest in Teilen ihren Ursprung in der Teilung Deutschlands besitzen.
Das Verhältnis zu Religion (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Für die Zukunft ist die Gleichzeitigkeit einer fortschreitenden Säkularisierung und religiösen Pluralisierung in Deutschland zu erwarten, welche aufgrund der Ausgangsbedingungen durch die Teilung Deutschlands auf unterschiedliche Rahmenbedingungen trifft. Während in Ostdeutschland sich langsam erste Zeichen einer Konsolidierung der christlichen Mitgliedschaft auf niedrigem Niveau jenseits einer Volkskirche abzeichnen, muss in Westdeutschland mit einer (vielleicht nachholenden, möglicherweise beschleunigten) Säkularisierung gerechnet werden (Pickel 2018, S. 23). Gleichzeitig erweist sich Ostdeutschland als resistenter gegenüber religiöser Pluralisierung und Teile der dort lebenden Bürger*innen anfälliger für Vorurteilsstrukturen und antimuslimische Ressentiments (Decker/Brähler 2018, S. 102). In dieser Hinsicht kann von einem langen Schatten der deutschen Einheit gesprochen werden, der auch auf dem Sektor von Kirchenbindung und Religiosität besteht.