Der Industriesoziologe Burkart Lutz schrieb 1995 in einer ersten Einschätzung der betrieblichen Transformation in Ostdeutschland, westliche Berater und Wissenschaftler hätten ihre gängigen Perspektiven, Begrifflichkeiten und Fragestellungen unreflektiert auf die Wirtschaftsbetriebe der DDR übertragen." Indem [...] die Betriebe der ehemaligen DDR nahezu ausschließlich durch die ‚Maske‘ der betrieblichen Realität im Westen gesehen wurden, war die Vernachlässigung schwerwiegender struktureller Probleme sowohl in der industriellen und politischen Praxis wie in deren wissenschaftlicher Begründung und Reflexion nachgerade unvermeidlich" (S. 138). Was aber unterschied Betriebe in der DDR von solchen im Westen? – Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, weiter auszuholen und die Geschichte der Industrialisierung in den Blick zu nehmen.
Die "thematische Reinigung" wirtschaftlicher Betriebe als langfristiger Trend
Mit der Ausweitung der Industriearbeit im 19. Jahrhundert erfasste die Rationalisierung, das heißt die planvolle Gestaltung und die Ausrichtung der Lebensführung auf produktive wirtschaftliche Zwecke, immer größere Teile der Bevölkerung. In deren subjektiver Wahrnehmung gab es jedoch keine strikte Trennung von Arbeit und privatem Leben. Zum einen standen dem – auch bei hohen Ausbeutungsgraden – die sehr langen Arbeitszeiten entgegen. Zum anderen finden sich aus dieser Zeit viele Klagen von Unternehmerseite über Faulheit, Schlamperei und Schlendrian der Arbeiter. "Nahezu die gesamte frühe Rationalisierungsliteratur kann – gegen den Strich – als Dokumentation der Existenz dichter lebensweltlicher Elemente in der Fabrik gelesen werden" (Lutz 1995, S. 141).
Im Fortgang der Entwicklung kam es zu einer wachsenden "Verzweckung der Betriebe" (diesen Begriff hat der Soziologe Goetz Briefs 1931 geprägt). Damit ist eine "fortschreitende Bereinigung der Betriebsstrukturen [...] von allen ‚sachfremden‘, nicht unmittelbar dem expliziten Betriebszweck dienenden Elementen, Funktionen und Leistungen" gemeint (Lutz 1995, S. 141). In der soziologischen Systemtheorie ist ganz ähnlich allgemein von der "thematischen Reinigung" sozialer Systeme die Rede, die als ein Wesenszug moderner Gesellschaften verstanden wird (Tyrell 2008, S. 89). Die Ausrichtung von Betrieben auf einen Zweck wurde durch sinkende Arbeitszeiten, eine wachsende Trennung von Arbeit und Freizeit sowie durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit seinen betriebsunabhängigen Sicherungssystemen beschleunigt.
In der Bundesrepublik wurden nach 1949 diese Tendenzen fortgeführt. Betriebswirtschaftliche Diskussionen um "schlanke" Betriebsstrukturen oder um die Ausgliederung ("Outsourcing") von Aufgabenbereichen, die nicht zum Kerngeschäft von Unternehmen gehören, veranschaulichen den aktuellen Stand der Unternehmensentwicklung.
Die "Verbetrieblichung des sozialen Lebens" in der DDR
Für die DDR hingegen lässt sich ein Bruch mit diesem langfristigen Trend der Betriebsführung feststellen. "Der ‚real existierende Sozialismus‘ hatte [...] viele Zustände, Verhältnisse und Strukturen, die 1945 zum gemeinsamen Traditionsbestand der deutschen Industrie gehörten, nicht nur nicht beseitigt, sondern konserviert und weiter stabilisiert" (Lutz 1995, S. 147). Verschiedene Autoren, die sich mit der ökonomischen Transformation befasst haben, weisen auf eine grundsätzlich andersartige Funktion von Betrieben in der DDR hin: Betriebe waren der "zentrale Vergesellschaftskern im Realsozialismus" (Kohli 1994, S. 43). In ihnen wurde die soziale Versorgung in einem umfassenden Sinne sichergestellt. Hierzu gehörten beispielsweise Kinderbetreuung, medizinische Versorgung, Urlaubsplätze und sportliche oder kulturelle Aktivitäten [Abbildung 1]. Kennzeichnend für die DDR war eine "betriebszentrierte Sozialpolitik" (Kohli 1994, S. 42). Der Industriesoziologe Rudi Schmidt (1995, S. 459) schreibt von einer "Verbetrieblichung des sozialen Lebens". Zentral war dabei die Brigade, das Arbeitskollektiv, in dem auch Freizeitaktivitäten durchgeführt wurden. In den 1950er Jahren wurden nach sowjetischem Vorbild Arbeitsbrigaden in der DDR eingeführt, die unter dem Motto "sozialistisch arbeiten, lernen und leben" standen. Der letzte Aspekt "leben" wurde in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR immer wichtiger, so dass manche Brigaden einen "Biertischsozialismus" pflegten oder zum "Ersatzverein" wurden. Legendär waren Brigadefeiern (Hübner 2009), denen Sighard Gille 1977 mit seinem Gemälde "Brigadefeier – Gerüstbauer" ein kontrovers diskutiertes Denkmal setzte (Externer Link: https://www.bildatlas-ddr-kunst.de/item/14682). 1988 bestanden 300.000 Brigaden in der DDR mit 5,5 Mio. Mitgliedern. Das entsprach etwa 75 % der Arbeitskräfte (Reichel 2011, S. 317).