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Politischer Systemwechsel Die Transformation Ostdeutschlands: Der Weg von der DDR zur Bundesrepublik
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- Von der Auflösung des alten zur Festigung des neuen Systems: Transition, Transformation, Posttransformation - begriffliche Klärungen
- Symptome der Endzeit des DDR-Regimes – schleichender Autoritäts- und Machtverfall hinter den Fassaden der Diktatur
- Nach dem Systemwechsel: überwiegende Anerkennung der Verfassungsordnung, fortwährendes "Management von Unsicherheiten“
Von der Auflösung des alten zur Festigung des neuen Systems: Transition, Transformation, Posttransformation - begriffliche Klärungen
Ein Systemwechsel hat eine andere Qualität als ein Systemwandel: Ersterer bezeichnet den "Übergang von einem Ordnungssystem zu einem grundsätzlich anderen System" (Merkel 1999, S.15). Letzterer beschreibt Schritte der allmählichen bzw. gleitenden Veränderung grundlegender Strukturen und Handlungsmuster eines Systems von innen heraus. Solche Prozesse tragen zur Systemerhaltung bei. Unter Umständen können auch sie einen Systemwechsel herbeiführen oder, wenn ein solcher erfolgt ist, das neue System konsolidieren helfen.
Wie bei anderen Transformationsstaaten auch, geht es mit Blick darauf, welche Entwicklung Ostdeutschland seit dem Epochenjahr 1989/90 genommen hat, folglich darum, sowohl die inhaltlichen Größenordnungen des Umbruchs als auch dessen typische Verlaufsformen kenntlich zu machen. Zur Beschreibung und Erklärung dieses Prozesses in seiner europäischen Dimension wurde anfangs der 1990er Jahre seitens der Theorie der internationalen Politik der Begriff der Systemtransformation verwendet, "um diesen Strukturbruch und den daraus resultierenden Übergang zu kennzeichnen“ (Eberwein 1991; S. 6). Damit einher ging die Annahme, dass es sich dabei um einen "zeitlich gestreckten Prozess" handelt. "Entscheidende Merkmale dieser Transformationsphase sind Ungewissheit und Unkalkulierbarkeit" (ebd., S. 7).
Aufbauend auf der Systemwechselforschung wurde innerhalb des DFG-Sonderforschungsbereichs 580 in Halle und Jena, welcher zwischen 2001 und 2012 die Demokratisierung realsozialistischer Systeme vergleichend untersuchte, ein dreistufiges Phasenmodell entwickelt, das sich forschungspraktisch bewährt hat (Abbildung "Politischer Systemwechsel"; vgl. auch Best/ Holtmann 2012): Der Auflösung der alten Ordnung folgt der Umschlag (Transition) in neue Regimestrukturen. Diese Strukturen setzen sich im anschließenden Prozess der Transformation durch und gehen danach in die Konsolidierungsphase der Posttransformation über. Letzteres Entwicklungsstadium hat Ostdeutschland längst erreicht, jedoch auch 30 Jahre nach der Einigung erkennbar noch nicht gänzlich hinter sich gelassen.
Mit "Transition“ wird also die Zeitspanne des Übertritts in die Demokratie bezeichnet. Dieser Übergang erfolgt häufig "zeitlich dramatisiert" (Merkel 1999, S. 75): Die Beseitigung der Institutionen und Insignien der alten Macht wird beschleunigt vorangetrieben. Aktionen mit hoher Symbolkraft münden in Akte "schöpferischer Zerstörung" (Wollmann 1996). Beispiele hierfür sind die Montagsdemonstrationen im Wendeherbst 1989 der DDR und die Besetzung der Stasi-Zentrale in Ostberlin.
Im Laufe der folgenden Phase der "Transformation" kommt es zum kompletten Austausch oder zu einer inneren "Runderneuerung" grundlegender Strukturen und Normen, von Rechtsregeln und Personalkörpern ("Funktionseliten"), von Karrierewegen und Handlungsmustern in Staat, Wirtschaft und auch in vielen Bereichen der Gesellschaft. In Ostdeutschland hat sich während dieser Phase der "dreifache Institutionentransfer" (Gerhard Lehmbruch) von West nach Ost – Verfassungs- und Gesetzesrecht, Fachleute, Finanzhilfen – voll entfaltet. In derselben Phase der Transformation fanden auch schon erste Maßnahmen von "Reparaturgesetzgebung" statt: Einzelne aus der alten Bundesrepublik übernommene Gesetzesregelungen und Förderprogramme mussten (wie zum Beispiel bei der Wohnbauförderung) korrigiert bzw. nachjustiert werden, weil sie auf ostdeutsche Problem- und Bedarfslagen nicht passten. Zeitlich parallel entfalten sich die mit dem ökonomischen Strukturbruch verbundenen Folgen der Entindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit in voller Größenordnung und werden für Betroffene als ein erster, nachhaltig prägender Transformationsschock erfahrbar.
In der dritten Phase, derjenigen der "Posttransformation", geht die von Grund auf erneuerte Ordnung zwar nicht in eine Ruhestellung über, sie erreicht aber eine neue Normallage: Probleme werden berechenbarer, zumal in ihren mutmaßlichen Folgen, und die Verfahren der Problemlösung laufen routinierter ab. Andererseits werden in der Transitionsphase aufgewachsene Illusionen und Hoffnungen zerstört. Und dort, wo der neuen Ordnung ein "Versagen" angelastet wird (etwa bei der Beseitigung der Arbeitslosigkeit oder der Bereitstellung öffentlicher Güter), bauen sich Unzufriedenheit und Politik(er)verdrossenheit neu auf. Übersetzt sich eine solche Stimmungslage in das Wahlverhalten, dann kann dies, wie Ende des dritten Jahrzehnts nach der Vereinigung erkennbar, zu einer Umschichtung ("Dealignment") des Parteiensystems führen (vgl. hierzu die Beiträge "Entwicklung und Wandel des Parteiensystems" sowie "Partizipation im Wandel").
Symptome der Endzeit des DDR-Regimes – schleichender Autoritäts- und Machtverfall hinter den Fassaden der Diktatur
Einem von Wolfgang Merkel eingeführten Analysekonzept zufolge lässt sich eine rechtsstaatliche Demokratie, die den Namen verdient, als ein Gefüge von fünf "Teilregimen" beschreiben: demokratische Wahlen (A), politische Beteiligungsrechte (B), bürgerliche Freiheitsrechte (C), Machtkontrolle durch Gewaltenteilung (D) und eine an den Volkswillen rückgebundene "effektive Regierungsgewalt" (E) (Merkel 2004, S.7). Eine funktionierende Demokratie ist in dieses Pentagon (Fünfeck) ihrer Teilregime, die sich wechselseitig stützen und absichern, gleichsam "eingebettet“ (ebd., vgl. Abbildung "Eingebettete Demokratie").
An diesem Maßstab gemessen, ist der Diktaturcharakter des DDR-Systems offenkundig. Das Machtmonopol der SED war in Artikel 1 der DDR-Verfassung fixiert. Jedwede politische Opposition wurde unterdrückt. Im ideologisch uniformen "Parteistaat" (Thomas 1999, S.177) kam staatlichen Stellen die Aufgabe zu, die Beschlüsse der SED umzusetzen. Dem diente das Prinzip der "doppelten Unterstellung": Organe des Staates "waren einerseits in die staatliche Leitungshierarchie eingebunden, andererseits den entsprechenden Parteileitungen untergeordnet“ (ebd., S.179). Die Volkswirtschaft der DDR war zentraler Planung und Lenkung unterzogen. Bürgerrechte waren in der DDR-Verfassung zwar aufgeführt. Aber sie standen in Wirklichkeit nur auf dem Papier, denn gegen den "sozialistischen Staat“ konnten sie nicht eingefordert werden, weil dieser Staat keine unabhängige Rechtsprechung kannte:
"Im Konflikt mit dem Regime selbst oder seinen Interessen stand das Recht der DDR dem Bürger nicht zur Seite. Gegen Übergriffe der Staatsmacht, belastende Maßnahmen der Verwaltung oder staatsnahe Einrichtungen und Betriebe konnte sich der Einzelne nicht unter Berufung auf sein Recht wehren. Die Gerichtsverfahren selbst verwandelten sich in Instrumente der Disziplinierung, zur Abschreckung und Herrschaftsausübung durch eine Staatsmacht, die sich selber an das Recht nicht halten musste. Im Konflikt mit der Macht war das Recht – und damit der einzelne Bürger – ohnmächtig"
Im Laufe des Sommer und Herbst 1989 wurde indes der schleichende Autoritäts- und Machtverfall der Staats- und Parteiführung der DDR, der sich hinter den Fassaden der Diktatur abzeichnete und beschleunigt Fahrt aufnahm, an den Auflösungserscheinungen in einzelnen staatstragenden Teilregimen sichtbar. Die Ausreisewelle, die nach Öffnung der ungarischen Westgrenze einsetzte, sowie die ebenfalls im September 1989 beginnenden Montags-Demonstrationen waren unübersehbare Symptome einer massenhaften Verweigerung politischer Loyalität. Bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 protestierten Bürgerrechtler erstmals öffentlich gegen Wahlfälschungen. Angestoßen von den Bürgerrechtsbewegungen "bildete sich eine Gegenöffentlichkeit, die vielfach von der Kirche beschirmt wurde“ (Krüger/ Schönherr 2009, S.11). In den letzten Monaten der DDR nahm der in der Bevölkerung wachsende Widerstand, so der Bürgerrechtler und Publizist Wolfgang Templin, "erneut den Charakter einer spontanen, gewaltlosen Massenbewegung an. Das in den Jahren zuvor entstandene Netz der unabhängigen und zunehmend oppositionellen kirchlichen und außerkirchlichen Friedens-, Umwelt- und Menschenrechtsgruppen wirkte initiativbildend und als Katalysator“ (Templin 2010, S. 3).
Auch der staatswirtschaftliche Bankrott der DDR ließ sich nun nicht länger verheimlichen. "Den Offenbarungseid leistete Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission, nach Honeckers Sturz in einer geheimen Wirtschaftsanalyse für das SED-Politbüro am 30. Oktober 1989. Die Inlandsverschuldung war auf 123 Milliarden Mark angewachsen […]. Die Arbeitsproduktivität war nicht zuletzt aufgrund vielfach verschlissener Anlagen und unzureichender Automatisierung im Vergleich zur Bundesrepublik je Beschäftigten auf 40 Prozent […] gesunken. Die Auslandsverschuldung war 1989 auf 49 Milliarden DM angewachsen“ (Scheer/ Ragnitz 2010, S. 53).
Nach dem Systemwechsel: überwiegende Anerkennung der Verfassungsordnung, fortwährendes "Management von Unsicherheiten“
Die "Idee“ der Demokratie und in geringerem Maße auch die demokratische Ordnung, "wie wir sie in der Bundesrepublik haben“, findet in Bevölkerungsumfragen in West wie Ost überwiegend Unterstützung. Allerdings liegen die für Ostdeutschland gemessenen Werte seit 1990 fortwährend unter dem westdeutschen Zustimmungsniveau. Hatten sich die für beide Teile des Landes gemessenen Meinungskurven im Zeitverlauf bis 2014 einander stärker angeglichen, öffnet sich neuerdings die Ost-West-Schere wieder erkennbar. Besonders die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie ist 2018 in Ostdeutschland deutlich eingebrochen (vgl. Gabriel u.a. 2015, Holtmann 2019).
Die wechselnden Stimmungslagen zeigen: Der Transition, dem offenen Umschlag der alten in die neue Ordnung, war in der Endzeit der DDR eine "Inkubationsphase“ der Demokratisierung vorausgegangen. Mit dem Eintritt des geeinten Deutschland in die Phase der Posttransformation ist die Bewältigung der materiellen und seelischen Folgen der Einheit aber noch nicht völlig abgeschlossen. Auch Jahrzehnte nach der Einigung geht es nach wie vor darum, ein fortwährendes "Management von Unsicherheiten“ politisch wie individuell zu bewältigen. Vorliegende Wirtschaftsdaten bestätigen im innerdeutschen Vergleich einerseits die fortgeschrittene Angleichung der Einkommen und eine gewachsene Lebensqualität, andererseits aber auch, dass der ökonomische Aufholprozess in Ostdeutschland ins Stocken geraten ist. Belegen lässt sich zudem, "dass in Ostdeutschland angesichts der vielfältigen biografischen Umbrüche und der dabei ausgelösten Verunsicherungen trotz oder gerade wegen der objektiv wie subjektiv erfolgten Anpassungsleistungen“ vielfach noch an überkommenen Gewohnheiten und Einstellungen festgehalten wird (ISI 2010, S.14).
Dass alte Erinnerungskulturen in neue politische Strukturen noch immer hineinwirken, ist für Systemwechsel generell kennzeichnend. So auch in Ostdeutschland: Im Jahr 2014 gaben 77 Prozent der Ostdeutschen an, dass für sie persönlich die Vorteile der Vereinigung überwögen (Gabriel u.a. 2015, S. 140). Im August 2019 zeigten sich 68 Prozent der Bevölkerung Ostdeutschlands mit der Entwicklung Deutschlands nach der Vereinigung alles in allem zufrieden (ARD-Deutschlandtrend August 2019, S. 12). Weniger als zwei Jahre zuvor hatte die Zufriedenheitsrate indessen noch 81 Prozent betragen (ebd.). Bei der Einschätzung, ob die DDR ein "Unrechtsstaat“ gewesen sei, zeigen sich die Ostdeutschen gespalten. 20 Jahre nach dem Mauerfall stimmten 51 Prozent dieser Bewertung zu, fünf Jahre später waren dies 46 Prozent (ARD-DeutschlandTrend November 2009, Gabriel u.a. 2015, S. 142).).
Fest steht: Der Systemwechsel von 1989/90 ist für die große Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung eine unumkehrbare historische Tatsache. Kaum jemand wünscht sich die DDR ernsthaft zurück. Doch in dem Maße, wie die Erfahrung eingekehrt ist, dass auch das neue System persönliche Nachteile und Risiken bereit hält, erscheint für viele heutige Ostdeutsche zumindest manche Alltagsseite des DDR-Systems, so vor allem der erinnerte "Zusammenhalt der Menschen“, in mildem Licht. Die bisher zurückgelegte, lange Wegstrecke der deutschen Einigung zeigt: Der Entwicklungspfad, den Ostdeutschland nach dem Systemwechsel genommen hat, lässt auf der Einstellungsebene langfristige Trends der Angleichung, aber auch fortdauernde Unterschiede und ein neuerliches Auseinanderdriften erkennen. Die psychologischen und politischen Nachwirkungen des doppelten Transformationsschocks, den Ostdeutsche in den frühen 1990er Jahren und sodann mit Einbruch der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 erlebt haben, aber auch die anhaltenden Debatten um die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sowie um angemessene Repräsentation Ostdeutschlands in den Führungsetagen von Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung belegen auf besondere Weise, dass die Phase der Posttransformation noch nicht abgeschlossen ist.
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Professor (a.D.) für Politikwissenschaft der Universität Halle-Wittenberg, Forschungsdirektor am Zentrum für Sozialforschung Halle e.V. (ZSH) an der Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Schwerpunkten gehören Parteien(system)forschung, Lokale Politikforschung, Demokratie- und Partizipationsforschung, Historische Politikforschung und Transformationsforschung.
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