Ausgangspunkt: Wiedervereinigung 1990
Mit der Wiedervereinigung begann ein Prozess der grundlegenden Transformation der ostdeutschen Gesellschaft. Insbesondere deren wirtschaftliche Umwälzung war für nahezu alle Ostdeutschen mit gravierenden und unmittelbar spürbaren Veränderungen verbunden (Link zu Item 32, Abwanderung) Anzunehmen ist, dass diese ökonomischen Veränderungen massive Auswirkungen auf die Sozialstruktur Ostdeutschlands hatten. Zugleich haben verschiedene Studien darauf hingewiesen, dass es im Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung zu einer Schrumpfung der Mittelschicht in Deutschland gekommen sei. Insbesondere um das Jahr 2000 wäre es vermehrt zu sozialen Abstiegen aus der Mitte in die unteren Schichten der Gesellschaft gekommen (Burckhardt et al. 2013; Grabka et al. 2016). Inwiefern die Mittelschicht geschrumpft ist und ob dies auf Ost- oder in Westdeutschland stärker zutrifft, zeigen wir in diesem Beitrag. Mit einer beschreibenden Analyse erklären wir, wie sich die Schichtung Deutschlands ab 1991 entwickelt hat. Wir beginnen mit einer Klärung des Konzepts der Schichtung, das diesen Analysen zugrunde liegt. Wir beschreiben anschließend die Entwicklung der deutschen Sozialstruktur für den Zeitraum von 1991 bis 2017 anhand von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Hierbei analysieren wir Gesamtdeutschland und anschließend die Schichtung in West und Ost separat.
Wie bestimmt man die Zugehörigkeit zu einer Schicht?
Die soziale Schichtung der Gesellschaft ist ein zentraler Gegenstand der Soziologie. Dennoch gibt es keine eindeutige Festlegung darüber, was genau eine Schicht ausmacht und wodurch sie sich von anderen Schichten abgrenzt. Der wesentliche Grund dafür ist, dass Schichtung kein objektiv bestimmbares Faktum ist, vergleichbar einer physikalischen Erscheinung. Schichtung ist ein gedankliches Ordnungsschema, das in der Wahrnehmungswelt von Menschen verankert ist. Mittels der Idee der Schichtung sortieren Menschen ihre Mitmenschen entsprechend des sozialen Status. Dieser Status ist Ausdruck der ungleichen Verteilung von Lebenschancen in modernen Gesellschaften (Ormel et al 1999). Die Frage ist, welches die zentralen Merkmale sind, aufgrund derer sich die Lebenschancen von Menschen und entsprechend ihr Status unterscheiden. Grundsätzlich ergibt sich der soziale Status aus der Kombination von zertifizierten Fähigkeiten (Bildung), der ausgeübten Erwerbstätigkeit (Beruf) und dem Einkommen (aus dem Beruf, aber auch aus Kapitalerträgen). Wir gehen davon aus, dass der Beruf bzw. die Erwerbstätigkeit für die meisten Menschen die zentrale Rolle zur Herstellung und Aufrechthaltung des sozialen Status einnimmt. Das heißt nicht, dass der soziale Status nicht auch durch andere Ressourcen hergestellt oder aufrechterhalten werden kann, wie durch Kapitalerträge aus Finanztransaktionen, Vermietung und Verpachtung. Da der Großteil der Gesellschaftsmitglieder aber Einkommen aus Erwerbstätigkeit erzielt, um den Lebensunterhalt zu sichern, nimmt die Erwerbstätigkeit die Rolle eines Scharniers zwischen dem Bildungsgrad als Voraussetzung zur Ausübung einer bestimmten Erwerbstätigkeit und dem Einkommen als deren Folge ein. Daraus folgt, dass die soziale Schichtung einer Gesellschaft als Hierarchie von Berufen abgebildet werden kann.
Doch wo liegen die Grenzen zwischen den einzelnen Berufen: Wer gehört zur Mitte, wer zur unteren und wer zur oberen Schicht? Wir folgen einem Vorschlag, den wir auf Basis von Überlegungen John Goldthorpes gemacht haben und den wir für diese Studie leicht modifizieren. Wir unterscheiden drei Schichten: Oberschicht, Mittelschicht und untere Schicht. Zur Oberschicht gehören akademisch qualifizierte Personen mit Führungsverantwortung und Unternehmer mit größeren Betrieben sowie die Inhaber freier Berufe, wie niedergelassene Ärzte und Rechtsanwälte. In der Mittelschicht unterscheiden wir drei Segmente. Die obere Mitte umfasst akademisch qualifizierte Personen ohne Personalverantwortung, die mittlere Mitte besteht aus beruflich qualifizierten Personen in Angestelltenberufen sowie Kleingewerbetreibende mit geringer Zahl an Beschäftigten, und zur unteren Mitte gehören beruflich qualifizierte ("gelernte“) Arbeiter und Meister sowie Techniker, gelernte Handwerker und Kleingewerbetreibende ohne Beschäftigte. Die untere Schicht differenzieren wir ebenfalls in zwei Segmente aus, zwischen denen wir allerdings keine Rangordnung der Lebenschancen unterstellen: Gering qualifizierte Angestellte mit hohem Routineanteil an den Tätigkeiten (untere Schicht I) und an- bzw. ungelernte Arbeiter (untere Schicht II). Arbeitslose, Personen im Altersruhestand und ehemals erwerbstätige Personen haben wir nach ihrem letzten beruflichen Status vor Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt eingeordnet. Das bedeutet, dass auch Hausfrauen/-männer und Mütter im Mutterschutz in den Analysen enthalten sind. Schüler und Studierende werden nicht betrachtet.
Schichtung in Gesamtdeutschland
Basis für die folgenden von uns durchgeführten Berechnungen sind Umfragedaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) für Forschungszwecke bereitstellt. Jährlich werden dabei per kontrollierter Zufallsauswahl identifizierte, in deutschen Haushalten lebende Personen zu wirtschaftlichen und sozialen Themen befragt (Wagner et al. 2007). Es wurden Angaben von 52.602 Personen analysiert, für die 345.613 Beobachtungen für den Zeitraum 1991 bis 2017 vorliegen.
Abbildung 1 gibt die Verteilung der drei Schichten und ihrer Segmente für Gesamtdeutschland wieder. Zunächst sehen wir, dass die Oberschicht in diesem Zeitraum gewachsen ist. Gehörten ihr in den Jahren 1991/92 durchschnittlich 9,7 Prozent der Deutschen ab 16 Jahren an, waren es im letzten Beobachtungsjahr 2017 13,1 Prozent. Auch die Mittelschicht insgesamt weist eine relativ große Stabilität auf. Im gesamten Beobachtungsfenster zählten rund 60 Prozent zur Mittelschicht, ohne wesentliche Abnahme über die Zeit. Auch die untere Schicht weist mit rund einem Drittel der Deutschen eine stabile Größe auf. Wesentliche Änderungen in den Schichtgrößen waren nur in der ersten Hälfte der 2000er Jahre festzustellen. Hier ist zu erkennen, dass die untere Schicht geringfügig größer wurde, was auf das Wachstum des Segments der Schicht der ungelernten Arbeiter zurückgeht. Ab Mitte der 2000er Jahre verringerte sich dieses Segment wieder bis zum Ende des Beobachtungszeitraums.
Wesentliche Änderungen der Sozialstruktur fanden nicht zwischen den Schichten, sondern innerhalb der Mittelschicht statt. Die wesentliche Veränderung betrifft den Anteil der unteren Mittelschicht, also vor allem die qualifizierten Industriearbeiter. Dieses Schichtsegment halbierte sich nahezu, von durchschnittlich 27,8 Prozent in 1991/92 auf 16 Prozent in 2017. Im gleichen Zeitraum wuchs die obere Mitte von 19,4 Prozent auf 26,3 Prozent an. Als Ursache hierfür lassen sich zwei miteinander verbundenen Trends vermuten: Der Rückgang der Industrieproduktion in Deutschland und der Prozess der Tertiarisierung, also der Ausbau des Dienstleistungsbereichs mit hochqualifizierten Tätigkeiten zum bestimmenden Wirtschaftssektor. Beide sind unterschiedliche, aber zusammenhängende Folgen der wirtschaftlichen Globalisierung. Durch das massive Wachstum der industriellen Massenproduktion im Globalen Süden, vor allem aber in China, kam es seit den 1980er Jahren zum Abbau von Produktionskapazität in der Industrie der wirtschaftlich hochentwickelten Länder. Dies führte auch in der deutschen Industrie zu einem Rückgang der Beschäftigtenzahl. Etwas überraschend ist, dass dies vor allem die Facharbeiter und nicht die ungelernten Arbeiter betraf. Als Erklärung bietet sich der Effekt des technologischen Wandels an, der einen Teil der qualifizierten Industriearbeit substituierbar machte. Der gleichzeitig stattfindende Prozess der Tertiarisierung führte zu einem Anstieg von akademischen Berufen in den Dienstleistungsbranchen und bewirkte damit ein Wachstum der oberen Mitte, die akademisch qualifizierten Angestellten. Das Segment der mittleren Mitte, die beruflich qualifizierten Angestellten, blieb dagegen mit rund 14 bis 15 Prozent über die Zeit recht konstant. Diese Verschiebungen haben damit nicht zu einem massiven Schrumpfungsprozess innerhalb der Mitte geführt, wie ihn frühere Studien diagnostizieren, die die Schichtzugehörigkeit aufgrund der Haushaltseinkommen konzipieren (etwa Grabka et al. 2016).
Unterschiede zwischen Ost und West
Interessant ist nun der Vergleich der beiden deutschen Landesteile (siehe Abbildungen 2 und 3). Vergleicht man die Zusammensetzung der Schichtung in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung, so fällt auf, dass die Sozialstruktur beider Landesteile überraschend ähnlich ist. Obschon vollständig unterschiedliche wirtschaftliche Ausgangsbedingungen – kapitalistische Marktwirtschaft einerseits und sozialistische Planwirtschaft andererseits – sowie Arbeitsmarktsysteme freie Berufswahl in der Bundesrepublik und gelenkte Berufsstruktur in der DDR existierten, wiesen beide Teilgesellschaften nach 1990 einen vergleichbar großen Anteil der Oberschicht und der Mittelschicht auf. Auch das Segment der gering qualifizierten Angestellten (untere Schicht I) ist ähnlich groß. Der wesentliche Unterschied betrifft die untere Schicht der an- und ungelernten Arbeiter. Dieses Segment betrug in der ersten Untersuchungsperiode 1991/92 durchschnittlich 16,2 Prozent in den westdeutschen Bundesländern, aber 20,5 Prozent in Ostdeutschland. Wir vermuten, dass dieser Unterschied auf den geringeren technischen Modernisierungsgrad der DDR-Industrie zurückgeht, aufgrund dessen eine größere Zahl von Arbeitern benötigt wurde, die einfache Routinetätigkeiten ausführten.
Hat sich die Sozialstruktur beider Landesteile nach der Wiedervereinigung maßgeblich anders entwickelt? Man könnte annehmen, dass die Deindustrialisierung Ostdeutschlands nach 1990 zu einer deutlich größeren Schrumpfung der unteren Mittelschicht und der unteren Schicht der ungelernten Arbeiter geführt hat. Tatsächlich trifft diese Vermutung pauschal nicht zu. Zwar ist die untere Mittelschicht in den neuen Bundesländern von 1991/92 bis 2017 tatsächlich um durchschnittlich ein Drittel (10,6 Prozentpunkte) geschrumpft. In größerem Umfang ist dies aber in Westdeutschland geschehen. Entgegen der Annahme, Ostdeutschland hätte innerhalb kurzer Zeit eine massive Transformation einer Industrie- in eine Dienstleistungswirtschaft erfahren, zeigen unsere Daten, dass der Anteil der beiden Arbeiterschichtsegmente in der ostdeutschen Industrie auch in den 2000er und 2010er Jahren größer war als in Westdeutschland. Besonders bemerkenswert ist die Persistenz der gering qualifizierten Arbeiter (untere Schicht II) in Ostdeutschland. Ihr Anteil betrug über die Zeit recht stabil rund 20 Prozent aller aktuellen oder ehemaligen Erwerbspersonen. Sie ist in den letzten Jahren sogar noch etwas gewachsen.
Weiterhin ist zu erkennen, dass in beiden Landesteilen die obere Mittelschicht der akademisch qualifizierten Angestellten gewachsen ist. Diese Änderung führen wir auf die Tertiarisierung zurück. Allerdings war dieses Wachstum in Westdeutschland deutlich stärker als in Ostdeutschland. Zudem ist die Oberschicht in Westdeutschland deutlich angewachsen, von durchschnittlich 9,4 Prozent im Jahr 1991/92 auf 13,8 Prozent im Jahr 2017. Für Ostdeutschland beobachten wir für die ersten zehn Jahre nach der Wiedervereinigung einen gegenläufigen Trend: Zwischen 1991/92 und 2007/08 ist die Oberschicht in Ostdeutschland um gut 3 Prozentpunkte auf 8,6 Prozent geschrumpft. Seitdem hat sie sich bei neun bis zehn Prozent stabilisiert.
Bei der Interpretation der Befunde muss man in Rechnung stellen, dass es neben den beschriebenen Makrotrends von Globalisierung und damit verbundener Deindustrialisierung und Tertiarisierung viele weitere Faktoren gibt, die die Zusammensetzung der Schichtung beeinflussen können. Einer dieser Faktoren betrifft die veränderte demografische Zusammensetzung der Teilgesellschaften Deutschlands. So ist bekannt, dass in den 1990er Jahren massive Wanderungen von Ostdeutschen nach Westdeutschland stattgefunden haben, denen in dieser Größenordnung keine Entsprechung von West nach Ost gegenübersteht. Betroffen waren vor allem die Bundesländer Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen. Aus diesen Bundesländern sind überdurchschnittlich jüngere, beruflich qualifizierte Personen (darunter mehr Frauen als Männer) abgewandert. Diese deutsche Binnenwanderung hat zum einen dazu geführt, dass Personen mit geringerer Qualifikation in Industrie- und Dienstleistungsberufen stärker in der ostdeutschen Sozialstruktur vertreten sind. Die Ost-West-Wanderung ist erst seit 2017 zum Stillstand gekommen, allerdings nicht für jüngere Erwerbspersonen. Auf weitere Faktoren, die die Schichtung beeinflussen können, wie die höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen in den ostdeutschen Bundesländern oder der höhere Anteil von Flüchtlingen an der westdeutschen Bevölkerung seit 2015, gehen wir hier nicht ein.
Fazit: Die Entwicklung der Mittelschichten in Deutschland
Ab Mitte der 1980er Jahre nahm der Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung Fahrt auf und setzte die Wirtschaft Deutschlands unter Modernisierungsdruck. In der Folge kam es zum weiteren Rückgang der in der Industrie beschäftigten Personen sowie zum Anstieg von Dienstleistungsberufen, die eine akademische Qualifikation voraussetzten. Beide Prozesse führten in den alten und den neuen Bundesländern zu einem Schrumpfen der unteren Mittelschicht und einem Aufwuchs der oberen Mittelschicht. Wir haben es damit mit einer Verschiebung zwischen den Segmenten der Mittelschicht und nicht mit einem generellen Schrumpfen der Mittelschicht zu tun. Dieser Prozess führte dazu, dass sich die Sozialstrukturen beider Teilgesellschaften über einen Zeitraum von 30 Jahren tendenziell angenähert haben: In beiden Landesteilen ist die Mittelschicht nach wie vor das breite Rückgrat der Gesellschaft.
Dennoch lassen sich noch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung noch klare Unterschiede zwischen den Landesteilen feststellen. Unsere bis 2017 reichende Datenspanne zeigt für Ostdeutschland einen höheren Anteil der beiden Arbeiterschichtsegmente und einen geringeren Anteil der Oberschicht und der oberen Mittelschicht auf. Man kann daher sagen, dass die Sozialstruktur Ostdeutschlands "gestaucht“ ist: Dort sind nach wie vor einfache soziale Lagen stärker vertreten als in Westdeutschland. Diese Unterschiede korrespondieren mit einer These, die der Soziologe Steffen Mau 2019 in einem vielbeachteten Buch aufgestellt hat. Ihm zufolge ist Ostdeutschland auch nach 1990 eine "Gesellschaft der kleinen Leute“ geblieben, hinsichtlich der Mentalitäten und Identitäten, aber auch im Hinblick auf die Sozialstruktur (2019, S. 174).