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Der entindustrialisierte Osten

Bernd Martens

/ 5 Minuten zu lesen

Die DDR-Wirtschaft war durch große industrielle Kombinate geprägt. Mit dem ökonomischen Umbruch gingen diese großen Industrieunternehmen in Ostdeutschland verloren. Ein Problem, das bis heute ungelöst ist.

Die ehemalige Strickwarenfabrik "MICADO" in Zwickau (Sachsen). (© dpa)

Fakten

Die Struktur der ostdeutschen Wirtschaft war zu Zeiten der DDR durch große industrielle Kombinate geprägt. Infolge des ökonomischen Umbruchs fehlen in Ostdeutschland große Industrieunternehmen, die ihre Produkte überregional absetzen, zugleich Arbeitsplätze vor Ort anbieten und so die Wirtschaftskraft der Regionen stärken könnten. Dieses Grundproblem eines entindustrialisierten Ostens ist bis heute ungelöst.

Wirtschafts- und Strukturdaten alte und neue Bundesländer 2006 und 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2007, Anhang S. 20, Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2018, S. 19 und 113 ) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Das Ergebnis der ökonomischen Umgestaltung in Ostdeutschland nach 1990 war eine starke Entindustrialisierung. Diese Entwicklung zeichnete sich schon frühzeitig ab. Sozialwissenschaftler bezeichnen die Vorgänge, die mit der Entflechtung der Kombinate und der Privatisierung der Unternehmensteile verbunden waren, auch als eine "Verkleinbetrieblichung" der ostdeutschen Wirtschaftsstrukturen (Lutz/Grünert 1996). An diesem Zustand hat sich seitdem im Prinzip nichts verändert. Es dominieren insbesondere im verarbeitenden Gewerbe kleine Betriebe. Anders als beispielsweise in Bayern, das in den 1960er und 1970er Jahren ebenfalls einen "Strukturwandel der kleinen Form" vollzogen hat, ist damit in Ostdeutschland nicht eine erfolgreiche nachholende Industrialisierung verbunden, sondern eben eine krisenhafte Entindustrialisierung. Der Wirtschaftssoziologe Paul Windolf geht sogar soweit, dieses ostdeutsche Problem als bleibend anzusehen: "Innerhalb von zwei Jahren verlor Ostdeutschland fast die gesamte industrielle Basis, und es ist zweifelhaft, ob diese – unter den Bedingungen einer globalen Konkurrenz – jemals wieder aufgebaut werden kann." (Windolf 2001, S. 398)

Ausgangslage und Entwicklung

Im Vergleich zu den alten Bundesländern entsprach die DDR 1988 in ihrer Beschäftigungsstruktur der Bundesrepublik von 1965. Industrielle Produktionssektoren insbesondere der Grundstoff- und Schwerindustrie hatten ein großes Gewicht. Ein wirtschaftlicher Strukturwandel in Richtung Dienstleistungen, die in modernen Gesellschaften in den Jahrzehnten vor dem Mauerfall immer wichtiger geworden waren, fand in der DDR kaum statt. Der 1990 einsetzende Umbruch der DDR-Wirtschaft leitete diesen Wandel dann rasant ein. Zieht man die Beschäftigungsstrukturen in Deutschland von 1996 und 2006 als Vergleichsbasis heran, lässt sich allgemein ein stärker wachsender Anteil des Dienstleistungssektors und eine Angleichung des Ostens an den Westen feststellen. Doch mit dem Begriff der Entindustrialisierung ist nicht dieser Strukturwandel zum tertiären bzw. quartären Sektor der modernen Dienstleistungen gemeint, sondern das Wegbrechen einer industriellen Basis, die mit ihrer Wirtschaftskraft die Kaufkraft und Nachfrage in der Region prägen kann. In einer "Zwischenbilanz der Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland" haben Ewaldt u.a (1998) diese Form der Entindustrialisierung in Ostdeutschland anhand der Beschäftigtenzahlen, der Arbeitsplatzverluste in der Industrie und der Forschungs- und Entwicklungsschwäche ostdeutscher Unternehmen beschrieben: Es fand ein allgemeiner Rückgang der Beschäftigung in Ostdeutschland von 10 Mio. Erwerbstätigen auf 6 Mio. im Jahre 1992 statt. Diese rückläufige Entwicklung setzte sich in abgeschwächtem Tempo fort: 1996 waren immer noch 6 Mio. Personen in Ostdeutschland erwerbstätig, 2006 lag die Zahl bei 5,6 Mio. 2017 war sie jedoch auf 5,9 Mio. gestiegen. Deutlich haben sich hingegen die Erwerbsquoten in Ost und West angeglichen, weil die Arbeitsmarktsituation sich entspannt hat. Zum Teil haben einzelne ostdeutsche Bundesländer (etwa Thüringen 2017) mit 80,2 Prozent zu westdeutschen Erwerbsquoten aufgeschlossen (zum Beispiel Bayern mit 80,6 Prozent, Jahresbericht 2018, S. 113).

In der ostdeutschen Industrie blieben in den 1990er Jahren nur 20 bis 25 Prozent der Arbeitsplätze erhalten. Das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP), das den Maßstab für die Produktivkraft der entsprechenden Region darstellt, steigerte sich von 6,8 Prozent des gesamtdeutschen BIP im Jahr 1991 bis auf 11,5 Prozent im Jahr 1995. Seitdem ist dieser Anteil aber ungefähr gleich geblieben. 2017 lag er bei 10,9 Prozent (Jahresbericht 2018, S. 114).

Ein anderer Vergleich lässt sich jedoch im europäischen Kontext herstellen: Demnach ist die Bruttowertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe je Einwohner in Ostdeutschland etwa nur halb so groß wie die für Westdeutschland, doch im europäischen Maßstab ist der erreichte Wert bemerkenswert. Der Indikator ist vergleichbar mit der Bruttowertschöpfung von Transformationsländern wie Tschechien und Slowenien oder auch Norwegen und Italien. Die ökonomische Transformation hat Wirtschaftsstrukturen in Ostdeutschland geschaffen, die nicht die in Jahrzehnten gewachsene industrielle Potenz der alten Bundesländer aufweisen, aber sie entspricht durchaus anderen europäischen Ländern. "Die ostdeutschen Länder [verfügen] heute über eine Wirtschaftskraft, die mit der in vielen französischen oder britischen Regionen vergleichbar ist" (Jahresbericht 2018, S. 18f.).

Forschung und Entwicklung (FuE), die unternehmensnah betrieben werden, um neue Produkte auf den Markt zu bringen, sind wichtige Faktoren eines eigenständigen wirtschaftlichen Aufstiegs. Die Beschäftigung in der Industrieforschung der DDR bzw. Ostdeutschlands fiel von 85.800 Personen im Jahre 1989 auf ca. 15.000 im Jahr 1993. Etwa ein Drittel dieser privatwirtschaftlichen FuE wurde damals (1993) vom Staat finanziert. Das Verhältnis in der Personalstärke betrug in dem Jahr 1993 West zu Ost 15:1. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren im Jahr 2006 in den neuen Bundesländern ohne Berlin 19.300 Personen im Bereich Forschung und Entwicklung von Unternehmen tätig. Dies entsprach 6,4 Prozent des westdeutschen Personals oder einem Verhältnis West zu Ost von 15,6:1 (Statistisches Jahrbuch 2008, S. 164). Die Verhältnisse haben sich seitdem nur graduell verändert: 2016 lag die Größenordnung des ostdeutschen FuE-Personals in der Privatwirtschaft 6,7 Prozent des westdeutschen, entspricht einer Relation von 14,7:1.

Eine Gegenüberstellung von Daten der Jahresberichte der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit von 2007 und 2018 verdeutlicht weitere Strukturschwächen der aktuellen Situation Ostdeutschlands: Zwar sind die Größenordnungen der Industriebetriebe pro 100.000 Einwohner in Ost und West ungefähr vergleichbar. Aber die westdeutschen Betriebe haben mehr Beschäftigte, weisen eine höhere Exportquote auf und das Bruttoinlandsprodukt bezogen auf die Einwohner fällt in Westdeutschland wesentlich größer aus.

Positiv hat sich die Steuerdeckungsquote der Haushalte der ostdeutschen Gebietskörperschaften entwickelt. Sie liegt jetzt bei 69,2 Prozent (der westdeutsche Wert beträgt 80,0 Prozent). Das bedeutet, dass die Abhängigkeit der Staatshaushalte ostdeutscher Bundesländer von Geldern des Bundes oder der EU sich verkleinert hat.

Verfestigung von Problemlagen

Die Probleme der Entindustrialisierung, die eine Folge der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland ist, bestehen fort. Zwar gibt es einzelne Regionen und Branchen, in denen Erfolge in der wirtschaftlichen Entwicklung zu verzeichnen sind. Hierzu zählen etwa erfolgreich erneuerte industrielle Kerne der Chemie in Leuna und Bitterfeld, der Automobilindustrie in Eisenach, Ludwigsfelde und Leipzig oder auch der Mikroelektronik in Dresden. "Jeder dritte in Europa produzierte Chip trägt den Aufdruck ‚Made in Saxony‘" (Externer Link: https://standort-sachsen.de/de/branchen/mikroelektronik-ikt). Doch die ostdeutsche Wirtschaftsstruktur wird von kleinen bis kleinsten Betriebe geprägt, die im Wesentlichen für lokale Märkte produzieren. In einer Weltwirtschaftskrise, wie sie 2008 hereinbrach, hat die Exportschwäche immerhin ein Gutes: Der konjunkturbedingte Abschwung der Wirtschaft fiel in Ostdeutschland moderater aus.

Auch bedeutende Unternehmenszentralen sind fast ausnahmslos im Westen angesiedelt. Bei großen ostdeutschen Unternehmen in Ostdeutschland handelt es sich um Filialen westdeutscher bzw. ausländischer Konzerne. Das einzige größere Unternehmen mit Sitz in Ostdeutschland ist die Jenoptik AG. Sie hatte 2019 weltweit rund 4.000 Beschäftigte. Diese Firma taucht auf der Liste der 2000 weltweit größten Firmen, herausgegeben von der Zeitschrift "Forbes", nicht auf. Angesichts eines zunehmenden globalen Wettbewerbs ist es wenig wahrscheinlich, dass sich an diesem Zustand industrieller Entleerung etwas grundlegend verändern wird. Gleichwohl wird im europäischen Kontext deutlich, dass der bloße Vergleich mit Westdeutschland den Stärken und Schwächen der ostdeutschen Entwicklung zu wenig gerecht wird. In der Wirtschaftsgeschichte wird beispielsweise inzwischen diskutiert, ob nicht, auf Grund der Ausgangssituation 1989/90 ein Vergleich mit Transformationsländern wie Polen und Tschechien angemessener wäre als die Fixierung auf eine hypothetische zukünftige Angleichung an das ökonomische Niveau Westdeutschlands.

Bruttowertschöpfung im verarbeitenden Gewerbe je Einwohner in Europa im Jahr 2017 (Datenbasis: "NBL in Europa") (Interner Link: Grafik zum Download) (Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit 2018, Berlin, S. 19.) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Vergleich volkswirtschaftlicher Größen in den Jahren 1996 und 2006 und 2017 (Interner Link: Grafik zum Download) (Statistisches Jahrbuch 1998, S. 679 und 2008, S. 82, 164, 635 und eigene Berechnungen, Jahresbericht der Bundesregierung zur deutschen Einheit 2018, S. 113) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Quellen / Literatur

Ewaldt, J. u.a., Zwischenbilanz der Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland, in: Deutschland-Archiv 31 (1998), S. 371-383.

Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018, Berlin 2018.

Land, R., Fragmentierte Wirtschaftsstrukturen zwischen Deindustrialisierung, Stagnation und Innovation, in: Berliner Debatte Initial 17 (2000), S. 27-38.

Lutz, B./Grünert, H., Der Zerfall der Beschäftigungsstrukturen der DDR 1989-1993, in: Lutz, B. u.a. (Hrsg.), Arbeit, Arbeitsmarkt und Betriebe, Opladen 1996, S. 69-120.

Windolf, P., Die wirtschaftliche Transformation. Politische und ökonomische Systemrationalitäten, in: Schluchter, W./Quint, P.E. (Hrsg.), Der Vereinigungsschock, Weilerswist 2001, S. 392-413.

Wirtschaftsatlas neue Bundesländer, Gotha 1994.

Fussnoten

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Weitere Inhalte

Dr. habil. Bernd Martens, studierte Soziologie, Informatik, Sozialgeschichte und Volkswirtschaftslehre in Hamburg. Von 2001-12 war er am Sonderforschungsbereich 580 "Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch" an der Universität Jena in einem Forschungsprojekt über wirtschaftliche Eliten im erweiterten Europa und als wissenschaftlicher Geschäftsführer tätig. Von 2013 bis 2017 arbeitete er am Zentrum für Sozialforschung an der Universität Halle in verschiedenen Forschungs- und Evaluationsprojekten. Von 2018 bis 2019 war er am DZHW (Deutsches Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung) Berlin im Nacaps-Projekt tätig. Seit 2020 arbeitet er in der Außenstelle Leipzig des DZHW. (Nacaps steht für National Academics Panel Study und ist eine Längsschnittstudie des DZHW über Promovierende und Promovierte in Deutschland. In regelmäßigen Abständen befragt Nacaps bundesweit Promovierende und Promovierte zu ihren Promotionsbedingungen, Karriereabsichten und Karriereverläufen sowie zu ihren allgemeinen Lebensbedingungen.)