Eliten als funktionale Führungsschicht
Eliten sind jene sozialen Gruppen, die in bestimmten Handlungsfeldern oder Sektoren, wie Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, durch spezifische Auswahlverfahren auf Positionen gelangten, die sie mit herausgehobener Handlungsmacht ausstatten. Eliteangehöriger ist, wer innerhalb und für soziale Gruppen, Institutionen und Organisationen mit gesamtgesellschaftlicher Wirkungsreichweite die wesentliche Steuerungs- und Entscheidungskompetenz besitzt (Kaina 2009, 385 ff.)
Es ist es sinnvoll, zwei Elite-Ebenen zu unterscheiden. Die Top-Elite, d.h. der Kreis der absoluten Spitzenpositionen auf nationaler Ebene, umfasst insgesamt etwa 1.500 Positionen (z.B. Ministerpräsident*innen der Länder, Vorstandsvorsitzende der umsatzstärksten Großunternehmen oder die Intendant*innen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten). Zur weiter verstandenen Elite zählen die jeweiligen Mitglieder entsprechender Führungsgremien (wie der Vorstand eines Großunternehmens) oder auch die Angehörigen der Ebene darunter, d.h. etwa auch die Staatssekretär*innen auf Länderebene oder Oberlandes- und Landesgerichtspräsident*innen sowie Rektor*innen der großen staatlichen Universitäten. Hier handelt es sich – je nach konkreter Auswahl – um etwa 5.000-10.000 Elitepositionen.
Radikaler Elitenaustausch als Mittel und Resultat des revolutionären Regimewechsels
Der Austausch der alten Eliten begann in Ostdeutschland nicht erst nach der Vereinigung.
Nach der Vereinigung: Die Marginalisierung Ostdeutscher in den Eliten
Mit der Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 sowie dann umfassend mit dem Beitritt der neu gebildeten Bundesländer und Ostberlins zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990 wurden die bundesrepublikanischen Institutionenordnungen in Ostdeutschland eingeführt – vom Wirtschaftsrecht über die Sozialversicherungen und Berufsordnungen bis zu den politischen Parteien und Verbänden. Parallel dazu setzte ein massiver Elitentransfer von West nach Ost ein, der in vielen Bereichen unvermeidbar war. Denn auch unabhängig von allen moralischen Erwägungen gegenüber alten DDR-Kadern: Wer, wenn nicht westdeutsche Richter*innen, sollte die neuen Oberlandesgerichte im Osten leiten? Welche/r Ostdeutsche hätte 1990 eine Länderverwaltung (namentlich in den Bereichen Justiz oder Inneres) oder ein Landeskriminalamt führen sollen, wer eine der ostdeutschen Landesbanken (Derlien 2001; Welzel 1997; Wollmann 1997)?
Bereits seit Mitte 1990 strömten daher Tausende von westdeutschen Aufbauhelfer*innen und Leihbeamt*innnen in die neuen Länder und besetzten die vielfach neu geschaffenen Spitzen- und Elitepositionen. Allein im Verwaltungsbereich waren es zwischen 1990 und 1994 ca. 35.000. 1990 stammten alle 62 beamteten Staatssekretär*innen der östlichen Bundesländer aus dem Westen. Selbst im politischen Exekutivsektor fanden sich 1992 unter den 5 Ministerpräsident*innen nur zwei Ostdeutsche; von den 52 Länderminister*innen waren 1994 noch 14 (also fast 25%) westdeutscher Herkunft (Derlien 2001, 68 f.). Da bekanntlich Westdeutsche auch die als Sachwalterin und Privatisiererin des ökonomischen Volksvermögens der DDR agierende Treuhandanstalt (THA) leiteten, lässt sich für die frühen 1990er Jahre zusammenfassend von einer weitgehend westdeutschen Steuerung des rechtlichen, politisch-ökonomischen und administrativen Umbaus in Ostdeutschland sprechen.
Wie sieht es heute nach fast dreißig Jahren Vereinigungsprozess aus? Finden sich, gemessen am Bevölkerungsanteil von etwa 17%, hinreichend Ostdeutsche in den Führungspositionen aller Sektoren? Welche Unterschiede zwischen den Sektoren gibt es?
Die bisher erhobenen Daten und Schätzungen lassen sich in drei Punkten resümieren:
Die Top-Elite wird nach wie vor von Positionsinhaber*innen westdeutscher Herkunft dominiert. Nur 2-3% der Top-Elite stammt (2016) aus den neuen Ländern. Der Anteil Ostdeutscher steigt signifikant, sofern alle Elitepositionen einbezogen werden, d.h. auch jene der zweiten Reihe bzw. auf Länderebene (siehe Tabelle 1 unten). Innerhalb dieser größeren Gruppe finden sich neben fast proportionalen Vertretungen im staatspolitischen Sektor (erneut 15-20%) und Werten von ca. 5% bis 17% im Bereich der Wissenschaft, Verwaltung sowie Gesellschaftspolitik (Zivilgesellschaft und Kirchen), aber auch Sektoren extremer Unterrepräsentation. Dazu zählen insbesondere Justiz, Militär und Wirtschaft, für die der Anteil zwischen 0,5% und 2% beträgt. Im Durchschnitt aller Sektoren bewegt sich der Anteil Ostdeutscher für die Jahre zwischen 2015 und 2018 auf einem teils geschätzten Niveau von 6% bis 8%.
Der Transfer westdeutscher Personen auf Elitepositionen in Ostdeutschland hat sich reduziert, wurde aber keineswegs beendet. Im Ergebnis sind die Ostdeutschen selbst in Ostdeutschland, d.h. den fünf neuen Ländern (ohne Berlin), in der Minderheit (siehe Tabelle 2 unten). Nur der staatspolitische Sektor ist eine Ausnahme, in dem sie 80-85% der Elitepositionen besetzen. Im Durchschnitt besetzten Ostdeutsche im Jahr 2016 etwa 25-30% aller Elitepositionen im Osten. In den westlichen Bundesländern dürfte der Anteil Ostdeutscher an den Eliten bei max. 2% liegen – bei einem Bevölkerungsanteil von ca. 5%.
Die Chancen Ostdeutscher, in die Elite aufzusteigen, sind in den zentralen Feldern staatlicher (Verwaltung, Judikative, Militär, Polizei, Wissenschaft), ökonomischer und massenmedialer Herrschaft systematisch geringer als im repräsentativ-demokratischen Politikfeld.
Marginalisierungsgründe
Warum sind Ostdeutsche insgesamt so wenig in den bundesdeutschen Eliten vertreten? Wieso wurden und werden sie bis heute – abgesehen von den politischen und zivilgesellschaftlichen Repräsentationseliten – in der Elitenrekrutierung marginalisiert?
Einerseits handelt es sich um eine Langzeitwirkung des Beitrittsmodus in der deutschen Vereinigung. Dieser Modus erforderte schon aus sachlich-qualifikatorischen Gründen zunächst einen massiven Elitentransfer. Unterfüttert wurde dies von strukturkonservativen Grundorientierungen wichtiger Führungsgruppen der alten bundesdeutschen Eliten. Diese zeigten auch in den folgenden Jahren kaum Interesse an einer Machtteilung mit ostdeutschen Aspiranten, sondern nutzten ihre eigenen Macht-Netzwerke, die auf wechselseitigem Kennen, Anerkennen, Geben und Nehmen basieren, und daher westdeutsche Bewerber bevorteilten. Zudem gab es Zweifel an der Verfassungstreue und Zuverlässigkeit ostdeutscher Kandidaten. Eine breitere Aufnahme Ostdeutscher in die Eliten war angesichts dessen weder attraktiv noch gewollt. Zugleich erschien sie aufgrund eines großen Reservoirs westdeutscher Kandidat*innen für die in Ostdeutschland angesiedelten Elitepositionen auch nicht zwingend (Derlien 2001; Kollmorgen 2011; Welzel 1997; Wollmann 1997).
Andererseits ist nicht nur der Anteil elitenbildender sozialer Schichten und Milieus in Ostdeutschland geringer als im Westen (siehe Geißler 2014; Hartmann 2002; Kreckel 2004), sondern mangelt es vielen Ostdeutschen mit DDR-Sozialisation an distinguiertem Auftreten, machtvoller Sprache sowie elitären Geschmacksurteilen, so dass ihnen der 'Stallgeruch der Macht' fehlt. Sie verfügen als Bevölkerungsgruppe vielfach wirtschaftlich schwacher und lange hilfebedürftiger Regionen auch nicht über die Mentalität und das Prestige des Siegers. Zusätzlich schwächten die ökonomisch-sozialen Krisen sowie damit verbundenen sozialen Verunsicherungen und Zukunftsängste die ohnehin weniger ausgeprägten Aufsteiger-, Eliten- und Herrschaftsmentalitäten in den sozialen Mittelschichten der neuen Länder. In der Mehrheit der sozialen Statusgruppen wurden stattdessen sichere Erwerbsbiographien und risikoarme Karrieren präferiert. Diese Präferenzen scheinen selbst noch in Teilen der heutigen ostdeutschen Jugendgeneration präsent (Leven/Quenzel/Hurrelmann 2015, 75 ff.).
Unaufgeklärte Folgen und offene Zukunft
Ob und wenn ja welche objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme gerade im Osten des Bundesrepublik, aber auch für das ganze Land aus der Unterrepräsentation in den Eliten folgen, ist bisher nicht detailliert untersucht. Es bleibt ebenso politisch umstritten wie die Frage nach den Wirkungen der Mindervertretung für die langfristige soziale Integration.
Einige Ergebnisse für die politischen Repräsentationseliten in den ostdeutschen Ländern weisen aber beispielsweise darauf hin, dass es dort eigentümliche und in bestimmter Hinsicht größere Einstellungsdifferenzen zwischen Eliten und Bevölkerung gibt. Diese resultieren auch aus den unterschiedlichen Herkünften aus Ost und West und können inhaltliche Repräsentationsdefizite nach sich ziehen (Best/Vogel 2011, 120 ff.). Das betrifft etwa ostdeutsche Demokratieauffassungen, die stärker als im Westen an den Ergebnissen orientiert sind, oder die Bekämpfung sozialer Ungleichheiten, die für breite Teile der ostdeutschen Bevölkerung Aufgabe des Staates ist. Das und die deutlichen Unterrepräsentation in anderen politiknahen Sektoren (wie Verwaltung oder Massenmedien) könnte zumindest ein Grund sein für die im Vergleich mit den westlichen Ländern deutlich stärkeren links- und rechtspopulistischen Bewegungen und deren Wahlerfolge in den letzten Jahren. Auch für das Fortbestehen von sozialen Missachtungsgefühlen auf Seiten vieler Ostdeutscher kann die fehlende inhaltliche Repräsentation und die personelle Unterrepräsentation in politiknahen Sektoren von Bedeutung sein (Kollmorgen 2011, 301 ff.).
Problematische Konsequenzen der Unterrepräsentation gibt es aber in jedem Fall im Sinne verschenkter öffentlicher Diskussions-, Lern- und Innovationsimpulse. Ostdeutsche mussten und müssen ihre (alternativen) Ideen und eigentümlichen Interessen mühevoller in die gesamtdeutsche Öffentlichkeit und die Entscheidungszentralen vermitteln als Westdeutsche (Best/Vogel 2011, 120 ff.; Czada/Lehmbruch 1998).
Will man absehbar ernsthafte Verbesserungen, bräuchte es neben einer wirklichen sozialen Anerkennung und Wertschätzung der Ostdeutschen als gleichwertige Bürger*innen durch breite öffentliche Debatten zum Thema eine verstärkte Förderung individueller Entwicklungs- und Karrierechancen Ostdeutscher. Darüber hinaus könnten delegative und darin lokal fundierte demokratische Verfahren in der Elitenrekrutierung gestärkt werden. Ob eine in letzter Zeit wieder geforderte "Ost-Quote" ein probates Mittel sein kann, ist umstritten (vgl. Kollmorgen 2019).
Tabelle 1: Gegenwärtiger Anteil der Ostdeutschen (in v.H.) an den bundesdeutschen Eliten 2015 – 2019
Sektor | |
---|---|
Konkrete Positionsfelder | 2015 – 2019 |
(Staats-)Politik (politische Repräsentations- und Exekutiveliten) | |
Bundeskabinett (Bundeskanzler*in und Minister*innen) | 12% (2019) |
Ministerpräsident/innen der Länder | 25% (2019) |
Länderregierungen (Kabinette mit Ministerpräsident*innen, ohne Berlin) | 24% (2016) |
Bundestag (Präsidium) | 17% (2019) |
Bundestagsparteien (Parteivorsitzende, Fraktionsvorsitzende und Stellvertreter/innen) | 21% (2017) |
Bundestagsabgeordnete* | 14% (2017) |
Politische, zivilgesellschaftliche, religiöse Organisationen | |
Wirtschaftsverbände | ca. 8% (2015) |
Gewerkschaften | ca. 10% (2015) |
Christliche Kirchen | ca. 17% (2015) |
Verwaltung | |
Beamtete Staatssekretär*innen Bund | 7% (2016) |
Staatssekretär*innen (beamtete/politische) Länder | ca. 5% (2017) |
Abteilungsleiter*innen Bundesministerien | 3% (2018) |
Abteilungsleiter*innen Ministerien Länder* | ca. 7% (2016) |
Justiz | |
Bundesverfassungsrichter*innen | 0% (2018) |
Oberste Gerichte der Bundesrepublik (ohne BVerfG, Vorsitzende der Senate) | 0% (2018) |
Bundesrichter*innen insgesamt (ohne Bundesverfassungsgericht) | 1% (2018) |
Militär | |
Höchste Führungsebene (Generalinspekteur*innen, Inspekteur*innen) | 0% (2018) |
Generalität insgesamt | 1% (2018) |
Wirtschaft | |
Vorstände der deutschen DAX-Unternehmen | 2% (2017) |
Massenmedien | |
Intendant*innen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten | 8% (2018) |
Chefredakteur*innen wichtiger überregionaler Tages- und Wochenzeitungen (DIE ZEIT, FAZ, SPIEGEL u.a.) | 0% (2016) |
Direktor*innen/Geschäftsführer*innen der Landesmedienanstalten* | 14% (2018) |
Wissenschaft | |
Präsident*innen der großen Wissenschafts- und Forschungsorganisationen (Allianz der Wissenschaftsorganisationen) | 20% (2018) |
Hochschulrektor*innen (Universitäten) | 0% (2019) |
Universitätsprofessor*innen Soziologie* | ca. 5% (2015) |
Quellen: Michael Bluhm, Olaf Jacobs: Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung. Leipzig, 2016, S. 9–28; eigene Recherchen.
Tabelle 2: Anteile Ostdeutscher (in v.H.) an ausgewählten sektoralen Eliten in Ostdeutschland im Zeitverlauf (1990 – 2016)
Sektor | 1990/91 | 1994/95 | 2004 | 2015/16 |
---|---|---|---|---|
Politische Exekutivelite1 | 72 | 72 | 75 | 70 |
Verwaltungselite2 | 0 | 3-5 (geschätzt) | 26 | 46 |
Judikative Elite3 | - | 1-3 (geschätzt) | 3 | 6 |
Wirtschaftselite4 | - | - | 35 | 39 |
Wissenschaftselite5 | - | 15 (geschätzt) | 15 (geschätzt) | 19 |
Massenmediale Elite6 | - | 20 (geschätzt) | 31 | 28 |
Quellen: Michael Bluhm, Olaf Jacobs: Wer beherrscht den Osten? Ostdeutsche Eliten ein Vierteljahrhundert nach der deutschen Wiedervereinigung. Leipzig, 2016; Derlien, 2001, a.a.O.