Noch in den 1950er und 1960er Jahren waren sowohl die Bundesrepublik als auch die DDR fest in obrigkeitsstaatliche Traditionen eingebettet. Infolge der Protestbewegung entwickelten sich neue Partizipationsformen in der alten Bundesrepublik. Und Partizipation wurde zu einem breit anerkannten politischen Ziel.
Partizipation und Demokratie: eine untrennbare Beziehung
Alle modernen politischen Ordnungen berufen sich auf das Leitbild eines breiten bürgerschaftlichen Engagements. Freiheitlich-pluralistische Demokratien leiten ihre Rechtfertigung aus dem Prinzip der Volkssouveränität ab. Sie binden die Ausübung legitimer politischer Herrschaft an die aktive Mitwirkung und Zustimmung der Bevölkerung. Die Qualität von Demokratien bemisst sich damit unter anderem an der Garantie gleicher und wirksamer Beteiligungsrechte für alle Mitglieder der politischen Gemeinschaft sowie am Ausmaß und an der Art ihrer tatsächlichen Nutzung. Politische Partizipation dient vielfältigen Zwecken: dem Vortragen politischer Forderungen, der Auswahl und Kontrolle der politischen Führung, der Einflussnahme auf politische Sachentscheidungen und der Rückbindung des Handelns der Regierenden an die Wünsche der Regierten. Sie ist zudem darauf ausgerichtet, die Menschen in die politische Gemeinschaft einzubinden und das Einüben demokratischer Werte, Normen und Verhaltensformen zu fördern. Ohne bürgerschaftliche Beteiligung ist eine lebendige Demokratie nicht denkbar, auch wenn sie keineswegs das einzige Merkmal ist, das etwas über die Qualität von Demokratien aussagt.
Auch kommunistische Volksdemokratien propagierten die aktive Mitwirkung der Menschen als wichtigen Beitrag zum Aufbau des Sozialismus und zur Rechtfertigung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Anders als in den liberal-pluralistischen Demokratien des Westens gab es aber im Sozialismus keinen offenen und freien Wettbewerb um die bestmögliche Gestaltung des Gemeinwesens. Die politische Beteiligung vollzog sich innerhalb des von der sozialistischen Doktrin festgelegten Rahmens. Eine hohe Wahlbeteiligung, ein breites Engagement in Massenorganisationen und die Mitwirkung an der Lösung von Problemen in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz dienten der Unterstützung des bestehenden Regimes. Ungeachtet grundlegender Unterschiede setzten die vor der Wiedervereinigung in West- und Ostdeutschland bestehenden politischen Systeme somit gleichermaßen auf die Idee eines aktiven Engagements der Bevölkerung als einer für das Funktionieren des Systems wichtigen Triebkraft. Deutlich unterschiedlich war jedoch seine Zweckbestimmung. In einer pluralistisch-freiheitlichen Demokratie wie der Bundesrepublik bezweckt politische Partizipation die Einbindung der Menschen in die politische Gemeinschaft sowie ihre Einflussnahme auf Personal- und Sachentscheidungen. In einem sozialistischen Regime wie der DDR hatte die Loyalitätsbeschaffung Vorrang.
Partizipative Traditionen und Ausgangsbedingungen zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung
Deutschland gehört nicht zu den Staaten, die sich historisch durch starke partizipative Traditionen auszeichnen. Noch in den 1950er und 1960er Jahren waren sowohl die junge Bundesrepublik als auch die DDR fest in obrigkeitsstaatliche Traditionen eingebettet. In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Verabschiedung des Grundgesetzes attestierten Beobachter den Bundesbürgern ein jenseits der Wahlbeteiligung schwaches politisches Engagement – und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass dies in der DDR anders gewesen wäre.
Wie in anderen westlichen Demokratien vollzogen sich in der alten Bundesrepublik in den beiden Jahrzehnten vor der Vereinigung tiefgreifende Veränderungen. Der Anstieg des Bildungsniveaus, der Generationenwechsel und der einsetzende Wertewandel stärkten das partizipative Element der politischen Kultur und lösten einen Anstieg sowie eine qualitative Veränderung des politischen Engagements aus. Das von der sozialliberalen Koalition 1969 propagierte Ziel, mehr Demokratie zu wagen, und die Aktionen der Studentenbewegung und zahlreicher lokaler Bürgerinitiativen beschleunigten diesen Wandel. In diesem veränderten kulturellen Umfeld stieg die Beteiligung an Bundestags- und Landtagswahlen auf ein weder davor noch danach erreichtes Niveau; ebenso nahm das Engagement in Parteien und Verbänden stark zu. Bis dahin nur von aktiven Minderheiten praktizierte Formen politischer Einflussnahme wie die Beteiligung an Unterschriftenaktionen und Demonstrationen erhielten einen festen Platz im politischen Leben Westdeutschlands. Die sich formierende Protestbewegung brachte neue Partizipationsformen wie die Beteiligung an Boykotten, Gebäude- und Platzbesetzungen und Verkehrsblockaden hervor. Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung hatte die partizipatorische Revolution in der alten Bundesrepublik die politischen Einstellungen und Verhaltensweisen eines großen Teiles der Menschen verändert. Partizipative Reformen entwickelten sich zu einem breit anerkannten politischen Ziel (Barnes u. a. 1979).
Zwar lässt sich nicht genau bestimmen, wann die weltweite partizipative Revolution die damaligen kommunistischen Regime erfasste. In den 1980er Jahren mehrten sich jedoch die Anzeichen für einen politischen Wandel auch in diesem Teil der Welt. Ermutigt durch die von Michael Gorbatschow eingeleiteten Reformen entstand insbesondere in Polen und in der DDR eine Bürgerrechtsbewegung. Zunächst verfolgte sie umwelt- und friedenspolitische Ziele, setzte dann aber immer stärker auf die Forderungen nach Freiheit und politischer Mitbestimmung. In der DDR konnte die Bürgerbewegung eine starke Durchschlagskraft entwickeln, weil sich die Bevölkerung durch das Westfernsehen über weltweite Vorgänge informieren konnte und weil evangelische Kirchengemeinden den sich formierenden Oppositionsgruppen einen Schutzraum boten. Proteste gegen die Fälschung der Ergebnisse der am 7. Mai 1989 durchgeführten Kommunalwahlen bildeten den Ausgangspunkt der Massendemonstrationen, die maßgeblich zum Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 beitrugen. Dialogorientierte Beteiligungsformen wie die Runden Tische spielten eine wichtige Rolle im Prozess des Systemwandels und bei der Vorbereitung der 1990 durchgeführten demokratischen Wahlen zur Volkskammer.
Nach der Wiedervereinigung reagierte die Politik auf die öffentlichen Debatten über die Notwendigkeit demokratischer Neuerungen mit neuen Beteiligungsangeboten. Bei der Einführung direktdemokratischer Beteiligungsverfahren übernahmen die neuen Bundesländer eine Vorreiterrolle. Im Laufe der 1990er Jahre griffen die alten Bundesländer damit gesetzte Impulse auf und führten Volksabstimmungen ein bzw. bauten sie aus. Die insbesondere für die kommunale und regionale Ebene wichtigen Reformen des Planungsrechts verfolgten das Ziel, den Informationsaustausch zwischen Bürgern, Interessenvertretern, Planern und Entscheidungsträgern zu verbessern und diese Gruppen in Dialogprozesse einzubinden. Ganz neue Beteiligungsmöglichkeiten eröffnete die zunehmende Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechniken für politische Zwecke. Gegenwärtig verfügt die Bevölkerung über ein breiteres Spektrum politischer Einflussmöglichkeiten als jemals zuvor in der Geschichte Deutschlands. Es umfasst die traditionellen, für die repräsentative Demokratie typischen Formen wie die Beteiligung an Wahlen, die Mitarbeit in politischen Parteien und Verbänden sowie Politikerkontakte ebenso wie legale und nichtlegale Protestaktionen, zum Beispiel die Teilnahme an Unterschriftenaktionen, Demonstrationen und Produktboykotten. Eingeschlossen sind ferner direkt-demokratische Verfahren wie Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheide sowie zahlreiche Varianten von Dialogverfahren, zum Beispiel Planungszellen, Zukunftskonferenzen und Bürgerhaushalte (Abbildung 1).
Die Entwicklung der politischen Beteiligung seit der Wiedervereinigung
Ein Vergleich der in den frühen 1990er Jahren in den alten und neuen Bundesländern vorhandenen Beteiligungsstrukturen fördert ein vielschichtiges Bild zu Tage. Sie spiegelten nicht einfach den Gegensatz zwischen dem autoritären Erbe der DDR und der zunehmend partizipativ ausgerichteten politischen Kultur der Bundesrepublik wider, sondern ließen neben Unterschieden auch Gemeinsamkeiten erkennen. Bis zur Mitte des Jahrzehnts setzten die Menschen in den neuen Bundesländern zur Durchsetzung ihrer Forderungen stärker als ihre Landsleute im Westen auf legale und nicht legale Protestaktionen. Bei den konventionellen, für repräsentative Demokratien typischen politischen Aktivitäten wie dem Besuch von Versammlungen, der aktiven Mitarbeit in politischen Parteien und lokalen Aktionsgruppen sowie Politikerkontakten zeigten sich dagegen nur geringfügige Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland. An Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen beteiligten sich Westdeutsche in den frühen 1990er Jahren wesentlich reger als ihre Mitbürger im Osten. In beiden Landesteilen war die Beteiligung an Wahlen für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger die einzige Form aktiver Einflussnahme auf Politik (Gabriel 1996: 282-291).
Die Globalisierung und die Vertiefung der europäischen Integration, die internationalen Migrationsbewegungen, der Klimawandel und die Digitalisierung brachten seit dem Beginn der 1990er Jahre neue politische Konfliktlinien hervor und veränderten das politische Verhalten der Menschen. In Deutschland sind weitere, aus der Dynamik des Zusammenwachsens zweier unterschiedlicher Gesellschaften resultierende Faktoren wirksam. Die Wanderungsbewegungen zwischen den alten und den neuen Bundesländern und die zunehmende Angleichung der Lebensverhältnisse in beiden Teilen Deutschlands dürften die Angleichung der Beteiligungsstrukturen begünstigt haben. Hingegen könnten die immer noch unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Identitäten, fortbestehende Ungleichheiten in den objektiven Lebensbedingungen und nicht zuletzt die subjektive Wahrnehmung dieser Probleme das in jüngster Zeit beobachtbare Auseinanderdriften des politischen Engagements im Westen und Osten der Republik ausgelöst haben.
Eine vergleichende Untersuchung des Wandels der politischen Beteiligung in West- und Ostdeutschland seit der Mitte der 1990er Jahre lässt in der Tat Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Teilen Deutschlands erkennen (Abbildung 3). Wie zwanzig Jahre zuvor ist die Stimmabgabe bei Parlamentswahlen im Westen wie im Osten auch heute noch die mit Abstand am weitesten verbreitete Form politischer Einflussnahme. Im Durchschnitt aller in den letzten drei Jahrzehnten durchgeführten ALLBUS-Umfragen gaben 83 Prozent der Westdeutschen und 76 Prozent der Ostdeutschen an, sich an Wahlen beteiligt zu haben. Somit nutzen in Westdeutschland mehr Menschen ihr Stimmrecht bei Wahlen als in Ostdeutschland. Aufgrund sozialer Erwünschtheitseffekte und wegen des fehlenden Bezuges auf eine bestimmte Wahl liegen diese Angaben in beiden Teilen des Landes allerdings deutlich über den in der amtlichen Wahlstatistik berichteten Werten.
Der durch die Umfragedaten zwischen 1998 und 2018 dokumentierte Anstieg der Wahlbeteiligung bildet ebenfalls nicht die Wirklichkeit ab. Der amtlichen Wahlstatistik zufolge sank die Wahlbeteiligung zwischen 1998 und 2009 im Westen um 10,3 und im Osten sogar um 15,2 Prozentpunkte. Erst seither ist in beiden Landesteilen eine Trendwende erkennbar, die im Osten mit einem Anstieg um 8,4 Prozentpunkte stärker ausfällt als im Westen (4,5 Prozentpunkte). Auf Grund der bereits erwähnten Faktoren sind auch die von den Befragten im ALLBUS angegebenen Nichtwähleranteile stark verzerrt. Im Durchschnitt der Jahre 1990 bis 2018 machten über zwanzig Prozent der Westdeutschen und fast 30 Prozent der Ostdeutschen bei Bundestagswahlen nicht von ihrem Stimmrecht Gebrauch. Weder die Daten der amtlichen Statistik noch die Umfragedaten belegen aber einen wachsenden Unterschied zwischen der Wahlbeteiligung in den beiden Teilen des Landes.
Gestiegen ist in Ost- wie in Westdeutschland die Neigung der Wähler, bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen ihre Stimme einer Splitterpartei oder einer populistischen bzw. extremistischen Gruppierung zu geben. Nach den ALLBUS- Daten hat sich dieser Anteil zwischen 1998 und 2018 im Westen von neun auf 18 und im Osten von sieben auf 17 Prozent erhöht. Die seit 2009 zunehmende Wahlbeteiligung scheint somit zu einem beträchtlichen Teil Parteien zu Gute gekommen zu sein, denen in der Regel der Einzug in den Bundestag oder einen Landtag nicht gelingt oder die im Falle einer Vertretung im Parlament für andere Fraktionen nicht als Regierungspartner in Frage kommen. Dieses Verhaltensmuster ist im Osten der Republik wesentlich weiter verbreitet als im Westen.
Nur geringe Ost-West-Unterschiede zeigen sich in den für parteienstaatlich-repräsentative Strukturen typischen Beteiligungsformen. An öffentlichen Diskussionen beteiligt sich nur eine Minderheit der Bürgerinnen und Bürger in den alten (27%) und neuen Bundesländern (26%). Noch erheblich kleiner ist die Gruppe derer, die sich in Bürgerinitiativen (11 bzw. 8%) oder politischen Parteien engagieren (6 bzw. 4%). Nach den in Abbildung 2 wiedergegebenen Daten hat die Beteiligung an diesen Aktivitäten zwischen 1998 und 2018 in Ost- wie Westdeutschland jedoch deutlich und in etwa gleichem Umfang zugenommen. Allein die Mitarbeit der Ostdeutschen in politischen Parteien blieb im untersuchten Zeitraum weitgehend stabil. Von einem tatsächlichen Bedeutungsverlust konventioneller Formen des politischen Engagements kann somit keine Rede sein. Allerdings nutzt nur eine kleine Minderheit diese Einflussmöglichkeiten, und diese Gruppe ist kleiner als die der Teilnehmer an legalen Protestaktionen.
Mit Ausnahme der stabil niedrigen Beteiligung an nicht genehmigten Demonstrationen war das Protestverhalten in Ost- und Westdeutschland stärkeren Veränderungen unterworfen als das konventionelle politische Engagement. Zwischen 1998 und 2018 stieg die Teilnahme an legalen Protestdemonstrationen in beiden Landesteilen um 14 Prozentpunkte. Die Mitwirkung an Unterschriftenaktionen verzeichnete mit 25 Prozent im Westen und 18 Prozent im Osten sogar eine noch höhere Zuwachsrate. Um jeweils zwölf Prozentpunkte erhöhte sich im Verlauf der letzten Dekade die Teilnehmerquote an Aktionen des kritischen Konsums. Abgesehen von der Beteiligung an nicht genehmigten und genehmigten Demonstrationen nahmen die legalen Protestaktivitäten im Westen stärker zu als im Osten. In beiden Teilen des Landes haben sie mittlerweile einen festen Platz im politischen Prozess gefunden.
Weitere Daten bestätigen die beschriebenen Entwicklungen (Holtmann u. a. 2019: 64ff.). Sie zeigen eine bereits vor einigen Jahren einsetzende qualitative Veränderung der politischen Beteiligung, die nicht allein in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Demokratien auftritt. Für einen wachsenden Teil der Wählerschaft scheint die Stimmabgabe bei Wahlen ihren Sinn zu ändern. Die Stimmenthaltung oder das Votum für eine Splitter- oder Protestpartei dient dieser Bevölkerungsgruppe als Mittel zum Ausdruck von diffusem Unbehagen und zum Protest, selbst um den Preis eines Verzichts auf Einflussnahme auf die Regierungsbildung. Parallel dazu schrumpft die Wählergruppe, die ihre Stimme einer potenziellen Regierungspartei gibt. Die damit einhergehende Zersplitterung und Polarisierung des Parteiensystems erschweren die Bildung stabiler und handlungsfähiger Regierungen, unterminieren das Wechselspiel zwischen demokratischen Regierungs- und Oppositionsparteien und können auch die repräsentative Demokratie schwächen.
Konventionelle Beteiligungsformen, insbesondere solche, die sich im Rahmen politischer Organisationen vollziehen, gehen zwar nicht zurück, werden aber nur von einer kleinen Minderheit genutzt. Demgegenüber nehmen an besondere Anlässe gebundene, zeitlich befristete und auf die Beeinflussung einer konkreten politischen Streitfrage gerichtete Aktivitäten zu. Hierzu gehören die Beteiligung an Aktionen gegen die Planung oder Inbetriebnahme von Infrastruktureinrichtungen, gegen den Klimawandel, für die Europäische Integration, gegen die Zuwanderung oder für die Aufnahme von Menschen aus fremden Kulturkreisen, gegen den Abbau des Sozialstaates und für oder gegen viele andere Belange. Diese Trends sind im Osten Deutschlands ebenso zu beobachten wie im Westen. Unterschiede zwischen beiden Landesteilen zeigen sich vor allem in der Nutzung des Stimmrechts bei Wahlen und im Protestverhalten. Ostdeutsche neigen stärker als Westdeutsche dazu, ihren Protest durch Nichtwahl oder die Wahl einer nicht etablierten Partei zum Ausdruck zu bringen, Westdeutsche setzen hingegen stärker auf legale, nicht in den Wahlprozess eingebundene Formen des Protests, insbesondere auf die Konsumentenpartizipation.
Seit der Vereinigung ist die politische Partizipation nicht nur gestiegen. Zusätzlich zu den etablierten Beteiligungsmöglichkeiten entwickelten sich neue, zuvor nicht oder kaum eingesetzte Formen des politischen Engagements, zum Beispiel die elektronische Partizipation und die Beteiligung an plebiszitären und dialogischen Verfahren. Die wenigen dazu vorliegenden Daten zeigen, dass auch diese Formen der Einflussnahme sich zwischenzeitlich im politischen Leben festsetzen konnten. Dies gilt für Westdeutschland noch etwas stärker als für den östlichen Landesteil. Wie die Daten des ALLBUS 2018 zeigen, ist die Teilnahme an Wahlen nach wie vor die in Deutschland am weitesten verbreitete Form politischer Partizipation. Doch auch Aktivitäten wie die Beteiligung an Unterschriftensammlungen, die Konsumentenpartizipation und die Mitwirkung an plebiszitären Verfahren, öffentlichen Diskussionen und legalen Protestdemonstrationen spielen eine beachtliche Rolle im politischen Leben Deutschlands (vgl. Abbildung 3).
Stärken erweiterte Beteiligungsangebote die Demokratie?
Seit den 1970er Jahren ist das Beteiligungssystem in Deutschland offener, breiter und vielfältiger geworden. Ein wachsender Teil der Bevölkerung nutzt aus unterschiedlichen Motiven und mit verschiedenen Ergebnissen verschiedenartige Formen der Einflussnahme. Besonders auffällig ist der Bedeutungsgewinn von Partizipationsformen, die sich auf Einzelprobleme beziehen, zeitlich befristet und außerhalb institutionell klar geregelter Prozesse angesiedelt sind. Veränderungen dieser Art gehören zur Demokratie. Denn deren Lebendigkeit und Innovationskraft hängt unter anderem von ihrer Fähigkeit ab, sich veränderten politischen Bedingungen anzupassen, neue Formen der Beteiligung aufzunehmen, neue Beteiligungsangebote zu entwickeln und die neuen Aktivitäten in die bestehenden Institutionen und Prozesse einzubinden.
Dieser Wandlungsprozess setzte weltweit in den 1970er Jahren ein und wurde in Deutschland seit 1990 durch die vom demokratischen Umbruch in der DDR ausgehenden Impulse verstärkt und beschleunigt. Das Verschwinden des über Jahrzehnte hinweg bestimmenden Gegensatzes zwischen pluralistischen Demokratien und kommunistischen Regimen sensibilisierte die Bevölkerung zugleich für tatsächliche und vermeintliche Mängel der existierenden Demokratien. Die Demokratiekritik brachte einerseits den reformorientierten Typus des kritischen Demokraten und andererseits rechts- und linkspopulistische Protestbewegungen hervor, die unter Berufung auf den wahren, sprich: einheitlichen – Volkswillen die liberal-pluralistische Demokratie in Frage stellen.
Insbesondere die Entwicklung seit der Jahrtausendwende macht auf die Chancen, aber auch auf die Risiken einer erweiterten politischen Partizipation aufmerksam. Partizipation ist ein Kernelement der Demokratie: Ohne ein Mindestmaß an politischer Beteiligung würden grundlegende demokratische Verfahren wie die Bestellung und Kontrolle der Regierenden und die Rückbindungen ihrer Handlungen an die Bedürfnisse und Forderungen eines möglichst großen Teiles der Bevölkerung nicht funktionieren. Deshalb sind alle in den letzten Jahrzehnten eingetretenen Veränderungen grundsätzlich vereinbar mit Funktionsprinzipien der Demokratie. Dies gilt selbst für die veränderte Nutzung des Stimmrechts bei Wahlen. Politische Unzufriedenheit muss in der Demokratie legitime Ausdrucksmöglichkeiten haben. Wachsender politischer Protest signalisiert der politischen Führung, dass ihre Politik an den Bedürfnissen bestimmter Bevölkerungsgruppen vorbeigeht.
Zugleich verdeutlicht die neuere Entwicklung: Selbst wenn eine breite Mobilisierung gelingt, können einzelne politische Aktionen wie Demonstrationen, Politikerkontakte, Parteiaktivitäten und Volksinitiativen nicht "den" Volkswillen zum Ausdruck bringen, weil es in pluralistischen Demokratien keinen einheitlichen Volkswillen gibt. Fast immer konkurrieren die berechtigten politischen Forderungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen und Akteure mit anderen, ebenso berechtigten Forderungen. Die Bereitschaft zur Selbstbeschränkung und zum Kompromiss bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, dass aus der Zusammenführung konkurrierender Einzelforderungen möglichst breit akzeptierte politische Entscheidungen entstehen. Bisher haben die Institutionen der repräsentativen Demokratie, insbesondere Parteien und Parlamente, diese Aufgabe erfüllt. Partizipation und Repräsentation bilden deshalb eine Einheit. Es ist schwer vorstellbar, wie Demokratien funktionieren könnten, wenn eine dieser beiden Säulen entfällt. In einem weiteren Punkt geht die populäre Forderung nach partizipativen Neuerungen an der Wirklichkeit vorbei. Das Hauptproblem auf dem Weg zu breiteren und besseren bürgerschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten liegt nicht im Fehlen von Angeboten, sondern in der Art ihrer Nutzung. Die meisten Menschen sind an einem punktuellen politischen Engagement interessiert und werden nur dann aktiv, wenn sie einen Anlass hierzu sehen. Darüber hinaus bilden die politischen Aktivisten keinen repräsentativen Querschnitt der Gesamtbevölkerung ab, sondern entstammen überdurchschnittlich häufig den mittleren Altersgruppen und oberen Bildungsschichten. Eine Erweiterung von Beteiligungsangeboten hat bisher nicht wesentlich dazu beigetragen, politikferne Gruppen zu mobilisieren und sie zu politisch zu integrieren. Erweiterte Angebote kommen in erster Linie den bereits aktiven Gruppen zu Gute und verstärken auf diese Weise das Gefälle zwischen den Aktivisten und den Passiven. Politische Reformen sollten sich deshalb vorrangig darauf richten, die Teilnahmemotive und -kompetenzen politikferner Gruppen zu erhöhen und deren Integration ins politische Leben zu fördern.
em. Prof. Dr. am Institut Institut für Sozialwissenschaften der Technischen Universität Stuttgart. Forschungsgebiete: Politische Einstellungen und politisches Verhalten, insbesondere politisches Vertrauen und politische Unterstützung, politische Partizipation in Deutschland und im internationalen Vergleich; Theorien und Methoden der vergleichenden Politikwissenschaft.
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