Die Bedeutung politischer Parteien für die Demokratie
Parteien, so steht es im Grundgesetz, "wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit" (Artikel 21, Absatz 1 GG). Obgleich Parteien demnach kein Monopol auf den Willensbildungsprozess haben, sind sie für ein funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem unentbehrlich. Sie sind laut Bundesverfassungsgericht "Wahlvorbereitungsorganisationen" (BVerfGE 8, S.51, 63). Sie agieren als Mittler "zwischen dem Bürger und den Staatsorganen" und sie sorgen dafür, dass "der Wille der Bürger auch zwischen den Wahlgängen verwirklicht werden kann" (BVerfGE 52, S. 63, 82).
Als Scharnier zwischen Gesellschaft und Staat übernehmen Parteien vor allem folgende Aufgaben: Sie artikulieren Interessen der Bevölkerung, bündeln diese Interessen programmatisch, repräsentieren sie in Parlamenten und leisten Integrationsdienste, indem sie untereinander die Zusammenarbeit mit konkurrierenden Parteien ermöglichen. Außerdem tragen sie dadurch, dass sie in der Gesellschaft um Einverständnis mit (wiederholt unpopulären) Entscheidungen der politischen Führung werben, zur Entlastung des verantwortlichen politischen Personals bei.
Parteien übertragen – obschon selbst keine Staatsorgane – den sich bei Wahlen äußernden Volkswillen als Fraktionen in die staatliche Sphäre der Gesetzgebung. Mittels Parteien wird das politische Geschehen in Bund, Ländern und der kommunalen Ebene miteinander verbunden. Der zentralen Bedeutung des Parteienfaktors Rechnung tragend, hat das bundesdeutsche Verfassungsrecht "die klassischen Strukturen für ein starkes Parteiwesen" geschaffen (Morlok 2013, S. 243). Die politische Ordnung der Bundesrepublik weist eindeutig die Merkmale eines Parteienstaates auf.
Um das Verständnis der Erscheinungsformen und des Wandels des bundesdeutschen Parteiensystems seit der Wiedervereinigung zu erleichtern, werden im Folgenden einige allgemeine Erläuterungen vorgeschaltet: Was steckt hinter dem Begriff Parteiensystem? Wie lässt sich ein solches in vergleichender Betrachtung typologisch einordnen? Welche Funktionen übernimmt es im politischen System?
Das Parteiensystem – Begriffsklärung und Funktionslogik
Nach einem Definitionsvorschlag Oskar Niedermayers wird unter einem Parteiensystem "die Gesamtheit der Parteien in einem politischen System sowie deren Beziehungsgeflecht" verstanden (Niedermayer 2013a, S. 84). Die Existenz lediglich einer Partei ist hierfür, streng genommen, nicht ausreichend. Wie für jedes System, ist auch für ein Parteiensystem die Wechselbeziehung, die Interaktion seiner Teile kennzeichnend. Von einem demokratischen Parteiensystem sprechen wir dann, wenn Parteien sich frei gründen und in einen echten, auf Chancengleichheit basierenden Wettbewerb treten können. Grundsätzlich müssen "jeder Partei, jeder Wählergruppe und ihren Bewerbern gleiche Wahlchancen eingeräumt werden" (BVerfGE 120, S. 82ff.). Daher ist beispielsweise die Fünf-Prozent-Sperrklausel, wie sie hierzulande bei Bundestags- und Landtagswahlen greift, laut Bundesverfassungsgericht gerade noch zulässig.
Politische Steuerungsaufgaben und Verankerung in der Gesellschaft
Parteien wurzeln in der Gesellschaft und bringen deren Interessenvielfalt politisch zu Gehör. Verändern sich Interessenlagen, Wertorientierungen oder soziale Strukturen, bildet sich ein solcher Wandel in der Regel mit zeitlicher Verzögerung auch im Parteiensystem ab: Alte Parteiloyalitäten verlieren dann an Bindekraft, neue "soziale Koalitionen" gesellschaftlicher Gruppen mit anderen oder neuen Parteien entstehen. Für derartige Bewegungen im deutschen Parteiensystem gibt es anschauliche Beispiele wie den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD, die Protest gegen "Altparteien" und etablierte Eliten bündelt, und der rapide gewachsene Wählerzuspruch für die Grünen, beflügelt durch die in der Bevölkerung gestiegene akute Besorgnis vor einer "Klimakatastrophe". Kommt es zu dauerhaften tiefgreifenden Umschichtungen der parteipolitischen Kräfteverhältnisse, spricht die Politikforschung von einem "Realignment" im Wahlverhalten und im Parteiensystem.
Ein Parteiensystem übernimmt zentrale politische Steuerungsaufgaben: Es ermöglicht den Wechsel zwischen Regierungsmehrheit und Opposition und es trägt die entsprechende Rollenverteilung bei der Parlaments- bzw. Regierungsarbeit. Nicht zufällig saßen und sitzen die Parteivorsitzenden der Berliner Koalitionsparteien meistens mit am Kabinettstisch. Zudem fungieren Bundesparteien, die in Bund, Ländern und Kommunen vertreten sind, im föderalstaatlichen System der Bundesrepublik, für das eine dichte Politikverflechtung dieser drei Ebenen charakteristisch ist, als wichtige Mittler, die bei der Gesetzgebung drohende Entscheidungsblockaden zwischen Bundestag und Bundesrat auflösen helfen.
Typologie von Parteiensystemen
Vergleichend betrachtet weisen Parteiensysteme Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf. Auch kann ein nationales Parteiensystem im Laufe seiner Entwicklung einen Gestaltwandel durchmachen, so wie nach dem Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie 1989/90 in Ostdeutschland. Um die Vielfalt existierender Parteiensysteme zu unterscheiden, greift die Parteienforschung auf Typologien zurück. Als typenbildend für Parteiensysteme werden strukturelle Merkmale, wie Art und Intensität des Parteienwettbewerbs und/oder inhaltliche Merkmale, wie programmatische Nähe oder Unvereinbarkeit der Kontrahenten, herangezogen.
Die in Abbildung 1 dargestellt Typologie Giovanni Sartoris (1979) kombiniert strukturelle und inhaltliche Merkmale. Sartori unterscheidet "nicht-kompetitive", d.h. Wettbewerb nur eingeschränkt oder gar nicht zulassende Parteiensysteme, von "kompetitiven" Systemen, die keine Wettbewerbsbeschränkung vornehmen. Der nichtkompetitive Typus ist zweigeteilt: Entweder gibt es nur eine Partei oder es existiert eine Hegemonialpartei, die einen unechten Wettbewerb beherrscht. Dem kompetitiven Typus rechnet Sartori vier Spielarten zu, nämlich Zweiparteiensysteme, moderat-pluralistische Systeme (mit geringem Polarisierungsgrad), ferner polarisiert-pluralistische Systeme (mit großer ideologischer Distanz) und prädominante Systeme (mit langer Regierungszeit ein und derselben Partei).