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Soziale Strukturen in Ostdeutschland | Lange Wege der Deutschen Einheit | bpb.de

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Soziale Strukturen in Ostdeutschland

Michael Hofmann

/ 14 Minuten zu lesen

Arbeiter, Kleinbürger, Eliten: Welche Auswirkungen hatte die Wende auf die sozialen Milieus? Michael Hofmann mit einem Überblick über Entwicklungen und Veränderungen der sozialen Strukturen in Ostdeutschland.

Straßenszene am Brandenburger Tor. (© picture-alliance/AP)

Ein kurze Sozial(struktur)geschichte der DDR

Die Eigenarten ostdeutscher Sozialstruktur lassen sich vor allem mit dem historischen Bruch nach dem 2. Weltkrieg erklären. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland wurde in der DDR nicht versucht, die soziale Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft wiederherzustellen. Die alten Eliten (wie Unternehmer, Bankiers, Richter, hohe Beamte und Offiziere, auch viele Wissenschaftler und Künstler) wurden, soweit sie nicht in den neuen Staatsapparat übernommen wurden, entmachtet, entlassen und enteignet, der Entnazifizierung unterzogen oder flohen in den Westen. Gleichzeitig erreichten 4.326.053 Vertriebene die sowjetische Besatzungszone. 1948 gab es in Ostdeutschland nur eine schmale kommunistische Parteielite, aber wenig etablierte Autoritäten. 24,2 Prozent der Bevölkerung bestanden aus den entwurzelten Flüchtlingen und Vertriebenen. In Mecklenburg waren es sogar 43,6 Prozent.

So konnte und musste die DDR in historisch kurzer Zeit neue Eliten herausbilden. Sie versuchte das, indem sie die Bildungsschleusen öffnete. Die Bildungsaufsteiger der 1950er und 1960er Jahre kamen in der Mehrzahl aus unteren sozialen Rängen. Vor allem Vertriebene nahmen das Integrationsangebot höherer Bildung gern an. So bildete sich ein neues sozialistisches Establishment heraus, loyale, staats- und parteitreue Personen, die bis zum Ende die DDR verteidigten, weil sie dankbar für ihren Aufstieg waren. Allerdings gingen bis zum Bau der Mauer 1961 auch rund zwei Millionen DDR-Bürger, oft aus der Reihe der Bildungsaufsteiger, in den Westen. Aber dieses sozialistische Establishment entstand in allen "Volksdemokratien" und bildet das wesentlichste sozialstrukturelle Unterscheidungsmerkmal zum Westen.

Demgegenüber mussten sich andere Teile der Bevölkerung, d. h. die traditionellen Facharbeiter und insbesondere auch das Kleinbürgertum (Angestellte, kleine Selbstständige), an die politischen Verhältnisse in der DDR ohne vergleichbare Prämien sozialen Aufstiegs anpassen. Auch das durch die Bodenreform vergebene Bauernland, dass in der Sowjetischen Besatzungszone über 200 000 Neubauernstellen mit durchschnittlich acht Hektar entstehen ließ (43 Prozent davon gingen an Vertriebene), ließ mit der Kollektivierung eher Landarbeiter als eine ökonomisch unabhängige Bauernschaft entstehen. So blieb das soziale Leben der DDR von der großen Mehrheit der traditionellen proletarischen und kleinbürgerlichen Lebenskulturen geprägt. Besonders die Arbeitermilieus wurden in der DDR ideologisch hofiert und in der "arbeiterlichen Gesellschaft" konserviert.

Ostdeutsche Sozialverhältnisse im Jahr 1960 (Legende siehe Beitragsende). (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Legende zur Abbildung: Ostdeutsche Sozialmilieus im Jahr 1960

Alte Unternehmer und Ingenieure: In der DDR verbliebene Besitzer kleiner Betriebe und leitende Ingenieure sowie selbstständige Ingenieure, Architekten usw. Das Milieu der Selbstständigen und Freiberufler mit mittleren und höheren Bildungsabschlüssen wurde in der DDR politisch und steuerlich als Vertreter der kapitalistischen Klasse stark bedrängt und löste sich dann im Zuge der Verstaatlichungswelle Anfang der 1970er Jahre endgültig auf. Viele Vertreter wuchsen jedoch auch als unverzichtbare Fachleute mit Einzelverträgen oder anderen Privilegien ins neue sozialistische Establishment hinüber.

Alte Akademiker: Die DDR sah sich als Sammelbecken des Antifaschismus und bot vielen deutschen Emigranten aus den Bereichen Kultur, Kunst und Hochschulen Wirkungschancen an. So rekonstruierten sich für kurze Zeit die Netzwerke der alten Akademiker an den Universitäten und in Kultur und Kunst, die gewissermaßen zu Paten für die kulturellen Aufsteiger wurden. Diese führenden Vertreter der Geisteswelt gerieten jedoch immer öfter in Konflikt mit der Macht, verließen die DDR wieder oder gingen im systemkonformen sozialistischen Establishment auf.

Nach dem Ende der sozialistischen Bildungsanstrengungen in der Mitte der 1960er Jahre rekrutierte sich das sozialistische Establishment dann vorwiegend aus sich selbst heraus. In den späten Jahren der DDR legte es sich wie eine Bleiplatte über die traditionellen Lebenswelten. Weiterer massenhafter Aufstieg wurde dadurch blockiert. Die soziale Mobilität der sozialistischen Gesellschaft ging in den 1970er und 1980er Jahren stark zurück.

Dennoch entwickelten sich seit den 1970er Jahren auch in der DDR moderne Lebenswelten. Im Gefolge der wachsenden internationalen Anerkennung, des Empfangs westdeutscher Massenmedien und der Honeckerschen Sozialpolitik erhielt die DDR trotz aller Einschränkungen Anschluss an den Massenkonsum, den – freilich auf "Bruderstaaten" beschränkten – Massentourismus und an die westliche Massen- und Musikkultur. Wer in dieser Zeit sozialisiert worden ist, konnte auch in der DDR an der Modernisierung der Lebenswelten teilnehmen. Neue soziale Milieus entstanden, die sich aber schwer etablieren geschweige denn aufsteigen konnten. Diese musik- und bildungsorientierten bzw. subkulturellen Lebensstile verband deshalb auch kaum noch etwas mit der DDR. Entweder sie pflegten in privaten Nischen ihre Neigungen oder sie versuchten, ein alternatives Gegenmilieu in der DDR aufzubauen, oft unter dem Dach der Kirche.

Bildhaft kann man sich also die soziale Kernstruktur der späten DDR als eine vom sozialistischen Establishment überwölbte traditionelle gesellschaftliche Schichtung vorstellen. An ihrem linken Rand waren modernisierte Milieus und Subkulturen von jungen Facharbeitern und links-alternativen Intellektuellen entstanden.

Sozialstruktur der DDR im Jahr 1989 (Legende siehe Beitragsende). (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Legende zur Abbildung: Sozialstruktur der DDR im Jahr 1989

Im sozialistischen Establishment hatten sich die verschiedenen Aufsteiger der DDR zu sozialen Milieus formiert und zwar in ein:

Statusorientiertes Milieu: Diese Menschen hatten ein mittleres und hohes Bildungsniveau, errangen mittlere und hohe Führungspositionen mit hohen Einkommen. Es waren oft auch politische Funktionäre in der DDR. Wichtigstes Lebensziel war es, sich gesellschaftliches Ansehen und Macht zu erwerben. Das geschah durch die Identifikation mit der herrschenden Ideologie, oft verbunden mit Fortschrittsglaube und Technik-Faszination.

Technokratisches Milieu: Die Vertreter dieses Milieus hatten höhere Bildungsabschlüsse, häufig im wirtschaftlichen und technischen Bereich, waren leitende Angestellte in den Betrieben der DDR. Sie waren effizienz- und erfolgsorientiert, mit Vertrauen in wissenschaftliche Rationalität und Zukunftsoptimismus. Erfolg zu haben, war in diesem Milieu Pflicht, man durfte sich nicht mit Mittelmaß zufriedengeben. In Beruf und Alltag wurde nach Perfektion gestrebt, bei durchaus pragmatischen Grundeinstellungen.

Humanistisches Milieu: Diese Menschen hatten hohe Bildungsabschlüsse, waren qualifizierte und leitende Angestellte in den Bereichen Bildung, Kultur, Verwaltung, Gesundheit, darunter viele Hochschullehrer, Naturwissenschaftler, Rechtsanwälte, Ärzte, Lehrer. Sie erzielten auch in der DDR hohe Einkommen. Tugenden der "Protestantischen Ethik" wie Pflichterfüllung, Disziplin und soziales Engagement dominierten die Lebensziele. Sehr auf humanistische Bildung bedacht, familien- und traditionsbezogen, in Ablehnung materialistischen Strebens, versuchten sie im harmonischen Einklang mit dem sozialen Umfeld zu leben.

Die traditionalen Lebenswelten hatten sich im Wesentlichen die Dimensionen ihrer Lebensführung erhalten können. Sie bestandenen aus dem:

Gelegenheitsorientierten Arbeitermilieu: Überwiegend Menschen mit einfacher und mittlerer formaler Bildung, Facharbeiter, Angelernte. Ihr Lebensziel hieß, Anschluss an die in der DDR gut verdienende Facharbeiterschaft zu halten, anerkannt zu werden. Aufgrund der begrenzten finanziellen Mittel oft "von der Hand in den Mund" lebend, spontan, neue Trends aufgreifend, heute und hier lebend.

Traditionellen Arbeitermilieu: Berufsstolzes Facharbeitermilieu, überwiegend mit einem Schulabschluss der Klasse 10. Das Lebensziel hieß hier, sein Ding zu machen, sein gutes Auskommen zu haben, d.h. vor allem einen sicheren Arbeitsplatz oder eine sichere Rente bei bescheidenen Konsumansprüchen. Geselligkeit unter Kollegen und Freunden wurde hoch veranschlagt, man mochte unter seinesgleichen sein und integriert und anerkannt werden. Wenig Prestigedenken, statt modischer werden solide und haltbare Produkte bevorzugt.

Kleinbürgerlichen Milieu: Dieses umfasste Menschen mit meist mittlerer Bildung, Facharbeiter, oft in leitenden Funktionen (Meister), die in der DDR verbliebenen Handwerksmeister und Einzelhändler, aber auch Verwaltungsangestellte im Finanzwesen, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Sicherheit und familiäre Geborgenheit waren die wichtigsten Ziele, den Verhältnissen wurde das Beste abgerungen, meist eine optimistische Lebenseinstellung. Es wurde Wert auf Statusdemonstration und Politikferne gelegt, allerdings hielt man sich an die Konventionen und geltenden Regeln, wollte nicht exponieren.

Die seit Ende der 1960er Jahre neu entstandenen sozialen Milieus werden vom Sinus-Institut beschrieben als:

Hedonistischen Arbeitermilieu: Die Kinder traditioneller Arbeiter und Angestellter bildeten dieses Milieu. Sie hatten eine mittlere Bildung mit Zusatzqualifikationen, waren Facharbeiter oder Angestellte, die das Arbeitsethos von ihren Eltern übernommen hatten, aber nicht mehr so bescheiden leben wollten wie jene. Ihre Lebensziele waren ein angenehmes Leben, den Lebensstandard genießen, sich nicht unter Druck setzen lassen und alle sich bietenden Gelegenheiten und Vorteile in Anspruch nehmen. Der Besitz materieller Güter war wichtig, auch das Repräsentieren mit Neuem, was man sich leisten kann.

Links-alternatives Milieu: Hohes Bildungsniveau und Tätigkeiten zumeist in Bildung, Forschung und Kultur, mittlere bis hohe Einkommen. Wichtigstes Lebensziel war die Selbstverwirklichung, oft gekoppelt mit einem ausgeprägten ökologischen Denken. Die eigene Selbstverwirklichung sollte jedoch der Gesellschaft dienen. Charakteristisch war eine Distanz zur Konsumgesellschaft und ein Engagement für eigene Ideale und Wertvorstellungen in sozialen, künstlerischen oder ökologischen Projekten.

Subkulturelles Milieu: Jüngere Menschen, meist mit mittlerer Bildung, viele Abbrecher, viele noch in Schule oder Ausbildung befindlich, auch Facharbeiter. Meist geringes Einkommen. Wichtigster Lebenswert war Eigenständigkeit. Man wollte ungebunden von den ideologischen Vorgaben der DDR das Leben genießen, gab sich sehr kommunikativ, spontan, ohne Schablonen. Demonstrative Geringschätzung materieller Güter und längerfristiger Lebensplanung, Abgrenzung von den Normalbürgern, der eigene Geschmack (z. B. Punk, Grufti, Skin usw.) wurde ostentativ zur Schau gestellt.

Die Akteure der friedlichen Revolution von 1989/90 kommen im Wesentlichen aus diesen blockierten, neuen sozialen Milieus, die sich in den letzten 20 Jahren der DDR herausgebildet hatten. Das "hedonistische" – was meint: genussorientierte, nicht auf Askese ausgerichtete – Arbeitermilieu zum Beispiel stellt den größten Anteil an Antragstellern auf Ausreise aus der DDR, und das links-alternative Milieu könnte man auch als Bürgerrechtlermilieu bezeichnen. Aber auch in den traditionellen sozialen Lagen der Arbeiter und Angestellten wird in den 1980er Jahren mit dem sichtbaren Niedergang der Industrie und der Städte das Arrangement mit dem System vielfach aufgekündigt, und selbst im sozialistischen Establishment melden sich jetzt Reformer.

Die friedliche Revolution leitete in der DDR einen raschen sozialstrukturellen Wandel ein. In den 1990er Jahren ist die soziale Mobilität in Ostdeutschland außerordentlich hoch. Über Jahre hinweg werden im Zwölfmonatsschritt mehr als die Hälfte aller sozialen Positionen (Arbeitsstellen und Berufspositionen) gewechselt. Für die große Mehrheit bedeutete dies eher einen sozialen Abstieg, nämlich den Verlust beruflicher Stellungen bzw. des Arbeitsplatzes. 1993 zum Beispiel stehen 23 % Aufstiegen 77 % Abstiege gegenüber.

Von den Abstiegen sind vor allem die traditionellen sozialen Formationen der Arbeiter und Angestellten betroffen. Die industrielle Basis des Arbeitermilieus, des größten Sozialmilieus Ostdeutschlands, bricht ein. Auf diese Weise schrumpfen die in der DDR tradierten Milieus im Verlauf der Transformation bis zum Jahr 2000 etwa um die Hälfte. Auch das historisch langlebigste und stabilste kleinbürgerliche Milieu schrumpft. Anders verläuft die Entwicklung im Bereich der Selbstständigen, da sich nun ein selbstständiger ostdeutscher Mittelstand neu bildet. Ebenso aber wächst ein Sozialmilieu, das in der Sozialforschung als "das gelegenheitsorientierte oder auch traditionslose Arbeitermilieu" umschrieben wird. Gemeinsam mit dem hedonistischen Milieu bildet dieses eine immer größer werdende Unterschicht, die heute fast ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung umfasst. Entgegen manchen politischen Erwartungen und öffentlichen Selbstdarstellungen können die Vertreter des sozialistischen Establishments im Transformationsprozess ihre sozialen Positionen oftmals halten. Nur die höchsten Partei- und Sicherheitsfunktionäre der DDR finden keinen Anschluss in der Bundesrepublik Deutschland. Die große Mehrheit aber bekommt im modernen Dienstleistungs-sektor neue, gut bezahlte Anstellungen. In den Schulen und regionalen Verwaltungen bleiben die Dienstverhältnisse weitgehend bestehen. Die Vertreter des technokratischen Milieus sind zum Beispiel bei der Abwicklung der DDR-Industrien und für die Neuordnung der Wirtschaft gefragte Akteure. Die Statusorientieren des ehemaligen DDR-Establishments fanden zum großen Teil "good jobs" im neu auf- und ausgebauten Dienstleistungsbereich. Die größten Anpassungsschwierigkeiten und -konflikte traten im bürgerlich-humanistischen Milieu auf, aber auch hier konnten sich die meisten im oberen sozialen Raum Ostdeutschlands behaupten.

Für die modernen, in der DDR wenig integrierten Sozialmilieus der hedonistischen Arbeiter und Subkulturen öffnen sich in der in der Phase des Systemwechsels breite Entfaltungsspielräume. Die hedonistischen Arbeiter, meist beschäftigt in den Industriekernen des Ostens, finden in der offenen Konsum- und Medienwelt neue Ufer.

Im linksalternativen Milieu (der Lebenswelt vieler Vertreter der Bürgerbewegungen der DDR) erzeugen die neuen Verbürgungen und Möglichkeiten der Demokratie nun ein Auffächern der Orientierungen und entsprechende Gegensätze.
Nach der Transformation formiert sich am linken Rand des sozialen Raumes in Ostdeutschland auch ein neues soziales Milieu, das von Sinus so genannte postmoderne Milieu. Schematisch lässt sich die soziale Struktur Ostdeutschlands 10 Jahre nach der Transformation so darstellen:

Ostdeutsche Sozialmilieus nach der Transformation im Jahr 2000 (Legende siehe Beitragsende). (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Legende zur Abbildung: Ostdeutsche Sozialmilieus im Jahr 2000

Veränderte und neue Milieubildungen:

Hedonistisches Milieu: Ein aus den Subkulturen hervorgegangenes Milieu ohne deutlichen Bildungsschwerpunkt. Alle möglichen Bildungsstufen kommen hier vor, Arbeiter, Hilfskräfte, Studenten, Schüler und Lehrlinge sowie Abbrecher. Die Orientierungen sind Freiheit, Ungebundenheit und Spontanität und die Ablehnung konsumorientierten Lebens. Hedonismus meint hier das Leben genießen, intensiv leben, Spaß, Action und Kommunikation haben.

Modernes bürgerliches Milieu: Umfasst vor allem Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen (Angestellte, Beamte, kleine Selbständige). Lebensziel ist es, ein angenehmes, behütetes Leben zu führen, kontrollierter Hedonismus: keine Extreme, keine Risiken. Diese Menschen setzen auf Sicherheit in Beruf und Familie, versuchen eine private Idylle zu schaffen (Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis) und in Harmonie mit der Umwelt zu leben. Sie sind anpassungsbereit und haben Achtung vor sozialen Werten wie Gerechtigkeit, Toleranz und Fairness. Im Grunde genommen sind dies die modernisierten (Klein)Bürger.

Postmodernes Milieu: Vorwiegend jüngere Menschen mit gehobener Bildung. Hier finden wir Menschen, die etwas aus ihrem Leben machen wollen, (risikobereit) Herausforderungen suchen und ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen wollen. Sie versuchen oftmals sich selbständig zu etablieren (im Handwerk, im Fachhandel, der Gastronomie oder auch in der IT-Branche), aber auch aufstrebende Angestellte in Wirtschaft und Verwaltung. Sie sehen sich als Gewinner der friedlichen Revolution in der DDR. Es ist wichtig für sie, sich von der Masse durch ihren Erfolg abzuheben, bewusster Unkonventionalismus, "Sekt oder Selters-Mentalität".

Humanistisches und DDR-verwurzeltes Milieu: Das humanistische Milieu integriert nach wie vor auch die (vorwiegend älteren) Menschen, die mit der friedlichen Revolution ihren Status verloren und/oder die sich mit den in der DDR betonten Ideale wie soziale Angleichung der Gesellschaft, Fortschritt, Frieden, Völkerfreundschaft und Antiimperialismus identifizieren.

Fassen wir zusammen: Für den Wandel der Sozialstruktur der DDR sind die zehn Jahre von 1990 bis 2000 entscheidend. Während dieser Dekade kam es

  • Erstens zum Abschmelzen der traditionellen Lebenswelten in den Arbeitermilieus und im kleinbürgerlichen Milieu von 58 auf 39%. Diese traditionellen Volksmilieus Ostdeutschlands halbieren sich. Hier treten die größten Abstiegsprozesse und Statusverluste ein.

  • Zweitens zu einer Stabilisierung des ehemaligen sozialistischen Establishments im oberen sozialen Raum. Die friedliche Revolution veränderte die politischen, nicht aber die sozialen Strukturverhältnisse in Ostdeutschland grundlegend.

  • Drittens auch in Ostdeutschland zur Herausbildung neuer, vor allem hedonistisch-orientierter Milieus. Die neuen und jungen sozialen Gruppen entstammen weitgehend den traditionellen Lebenswelten. Diese Milieus sind seit 1990 besonders stark gewachsen. Hier gibt es keine Unterschiede mehr zum Westen.

Ostdeutsche im gesamtdeutschen Sozialraum

Verteilung Ostdeutscher im gesamtdeutschen Sozialraum in 2018 (Legende siehe Beitragsende). (bpb) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Verteilung Ostdeutscher im gesamtdeutschen Sozialraum auf Basis der Sinus-Milieus 2018

Liberal-intellektuelles Milieu (7%) Eine aufgeklärte Bildungselite mit ihrer (links)liberalen Grundorientierung und dem Streben nach Selbstbestimmung und -verwirklichung ist in West- und Ostdeutschland in etwa gleicher Stärke vertreten (7% der Bevölkerung). In diesem Milieu gingen vor allem die Kinder des ehemaligen bürgerlich-humanistischen Milieus des Ostens auf.

Konservativ-etabliertes Milieu (10%) Dieses klassisch konservative Establishment, mit seinem Führungsanspruch und dem auf Eigentum und hohen beruflichen Positionen beruhendem Standes- und Verantwortungsbewusstsein ist in Ostdeutschland noch deutlich unterrepräsentiert. Im Osten rekrutiert sich dieses Milieu zum Teil aus den wertkonservativen Lebenswelten des ehemaligen sozialistischen Establishments, zum Beispiel aus Ingenieuren, Ärzten und oder Unternehmern.

Bürgerliche Mitte (13%) Der bürgerliche Mainstream, mit seiner grundsätzlichen Bejahung der gesellschaftlichen Ordnung und der Orientierung auf Sicherung des Erreichten, das Zentrum einer Mittelschichtgesellschaft also, ist in Ostdeutschland weniger stark ausgebildet. Die Sicherung des Erreichten, aber auch Abstiegsängste beschäftigen in Ostdeutschland vor allem die Angestellten in den öffentlichen Institutionen und privaten Betrieben.

Traditionelles Milieu (11%) Die Sicherheit und Ordnung liebende ältere Generation aus traditionellen Arbeiter- und kleinbürgerlichen Verhältnissen ist in Ostdeutschland stark überrepräsentiert. Das traditionelle Facharbeiter- und das kleinbürgerliche Milieu gehörte schon am Ende der DDR schon zu den größten Sozialwelten des Ostens. Hier zeigt sich, dass der Osten Deutschlands noch immer die traditionellere Gesellschaft ist.

Prekäres Milieu (9%) Die Grundorientierung in diesem Milieu ist es, Anschluss an die gesellschaftlichen (Konsum)Standards zu halten. Die Zahl der Personen, die sich trotz geringerer Integration in den Arbeitsmarkt und niedrigen Einkommen um Respekt und Anerkennung bemühen, ist in Ostdeutschland weit größer als im Westen. Als Folge konzentrieren sich in den prekären Lagen auch Ausgrenzungserfahrungen und Ressentiments und das Selbstbild als Benachteiligte verfestigt sich.

Hedonisten (15%) Die an die flexible, "atypische" Arbeitswelt vor allem in den Dienstleistungen angepasste junge, erlebnisorientierte Generation ist inzwischen zum größten sozialen Milieu in Deutschland angewachsen. Unter den modernen Angestellten und Jobbern mit spontaner Konsum- und Genussorientierung gibt es keine Unterschiede mehr zwischen West und Ost. Dieses Milieu ist im Osten leicht überrepräsentiert.

Adaptiv-pragmatisches Milieu (11%) Eine aufgeklärte Bildungselite mit ihrer (links)liberalen Grundorientierung und dem Streben nach Selbstbestimmung und -verwirklichung ist in West- und Ostdeutschland in etwa gleicher Stärke vertreten (7% der Bevölkerung). In diesem Milieu gingen vor allem die Kinder des ehemaligen bürgerlich-humanistischen Milieus des Ostens auf.

Sozial-ökologisches Milieu (7%) Die Lebenswelt der sozialkritisch Engagierten mit ihren normativen Vorstellungen vom "richtigen Leben" und dem ausgeprägten ökologischen Bewusstsein und Gewissen ist seit den 1980er Jahren angewachsen und im Westen noch stärker verbreitet als im Osten. Aber wenn es um die Kritik der Wachstums- und Konsumgesellschaft und den Einsatz für Minderheitsrechte geht, gibt es hier keine Unterschiede mehr zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Osten ging dieses Milieu zum großen Teil aus dem ehemaligen linksalternativen Milieu hervor.

Milieu der Performer (8%) Das alternative Establishment, die effizienzorientierte Leistungselite mit ihrem Nachhaltigkeitsdenken und exklusiven Avantgardestil ist eine typisch westdeutsche Lebenswelt, in die im Osten vor allem jüngere Gebildete hineinwachsen, die aber insgesamt im Osten noch nicht so verbreitet ist.

Expeditives Milieu (9%) Das ist die kreative und ambitionierte Avantgarde, die nach neuen Grenzen und Lösungen sucht, transnational agiert und sich außerhalb konventioneller und konservativer Institutionen und Karrieren zu etablieren sucht. Dieses Milieu ist in Westen und Osten gleichermaßen verteilt, wobei man im Osten vor allem von den Erfahrungen und Freiräumen der raschen Transformation in den 1990er Jahren profitieren kann.

Ab dem Jahre 2010 werden nur noch gesamtdeutsche Milieustrukturen dargestellt und die Milieubezeichnungen verändert. Aber alle zehn sozialen Milieus, die das Sinusinstitut 2018 für die Bundesrepublik Deutschland ausweist, gibt es sowohl in West- wie in Ostdeutschland. 30 Jahre nach der deutschen Vereinigung haben sich, vor allem in den jüngeren Generationen die sozialen Strukturen in West- und Ostdeutschland soweit angenähert, dass man von einem einheitlichen deutschen Sozialraum sprechen kann. Freilich finden wir Ostdeutsche in den traditionellen Lebenswelten und den unteren sozialen Lagen überrepräsentiert wieder. Die bürgerliche Mitte, liberale, sozial-ökologische und expeditive Lebenswelten sind in Ostdeutschland nicht so stark ausgebildet. In der Mitte, zwischen traditionellen und adaptiv-pragmatischen Lebenswelten, ist der soziale Raum in Ostdeutschland eher dünn besiedelt. Die schwache bürgerliche Mitte ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass die soziale und politische Polarisierung in Ostdeutschland stärker zu spüren ist als in Westdeutschland.

Quellen / Literatur

  • Breit, Gotthard; Massing, Peter (Hg.)(2011): Soziale Milieus. Politische und gesellschaftliche Lebenswelten in Deutschland. Eine Einführung, Schwalbach

  • Geißler, Rainer (2014): Die Sozialstruktur Deutschlands, Wiesbaden

  • Frankenberger, Rolf; Frech Siegfried (Hg.)(2017): Soziale Milieus. Lebenswelten in Deutschland, Schwalbach

  • Sinus-Markt und Sozialforschung (GmbH): Sinus- Milieus Deutschland 2018, Heidelberg

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Entwicklung der ostdeutschen Sozialstruktur wird hier ein Milieumodell gewählt. Soziale Milieus sind Gruppen mit ähnlichen Lebensweisen und Grundeinstellungen. Soziale Strukturen als Milieus abzubilden hat den Vorteil, dass neben Einkommen und Lebensstandard kulturelle Faktoren wie Grundorientierungen, Lebensstile und Sozialgeschichte berücksichtigt werden und die Sozialstrukturmodelle damit näher an die Lebenswirklichkeit der Menschen heranrücken.

  2. Uta Bretschneider (2016): "Vom Ich zum WIR"? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG, Leipzig, S. 100f.

  3. Ebd. S. 210

  4. Wolfgang Engler (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land, Berlin

  5. Diese Zahlen stammen aus dem DFG-Projekt "Ostdeutschland: Soziallagen im Umbruch" von Frank Adler und Albrecht Kretzschmar. Siehe ihr Paper auf der Arbeitstagung der Gruppe Arbeitsmarkt/Sozialstruktur in Bremen am 01.12.1994. Die Zahlen wurden durch die aktuelle Sozialberichterstattung ergänzt. Vergleiche auch Thomas Buhlmann (1996): Sozialstruktureller Wandel. In: Zapf/Habich (Hg.)(1996): Wohlfahrtsentwicklung im vereinten Deutschland. Berlin, S. 25 - 49

  6. siehe dazu: Hofmann/Rink (1993): Die Auflösung der ostdeutschen Arbeitermilieus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26 - 27/1993

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Prof. Dr. Michael Hofmann ist außerplanmäßiger Professor für Soziologie an der TU Dresden, Gastdozent am Institut für Soziologie der FSU Jena und Gastdozent an der Fachhochschule der Sächsischen Verwaltung in Meißen. Seine Forschungen widmen sich der Milieusoziologie und der Transformationsforschung sowie verschiedenen kultursoziologischen Themen wie soziale Reziprozität, Männerforschung oder Alltagsgeschichte.