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Schwindende Anreize – Stand und Entwicklung der Parteimitgliedschaften

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Ende 1990 waren in den fünf neuen Bundesländern noch 485.000 Bürgerinnen und Bürger Parteimitglieder, 1,9 Mill. in Westdeutschland. In Ostdeutschland waren Ende 1990 gut 4,2 Prozent der Beitrittsberechtigten in einer Partei organisiert, in Westdeutschland hingegen gut 3,5 Prozent. Dies änderte sich jedoch in der Folgezeit dramatisch.

Plakate zur Bundestagswahl 2017, Juli 2017 in Krefeld. (© picture-alliance, Geisler-Fotopress)

Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften

Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung wiesen die Parteien in Ostdeutschland aufgrund ihrer unterschiedlichen Vorgeschichte deutliche Unterschiede in der Mitgliederstärke auf. Der abrupte Wandel der Anreizstruktur zum Parteieintritt bzw. -austritt durch die Systemtransformation führte vor allem in den ersten Jahren nach 1990 bei den Parteien mit einer DDR-Vorgeschichte zu gravierenden Mitgliederverlusten. Insgesamt hat sich die Zahl der Parteimitglieder von Ende 1990 bis Ende 2018 in Ostdeutschland um 79 Prozent und in Westdeutschland um 42 Prozent verringert.

Die Transformation des Parteiensystems in Ostdeutschland

Im Rahmen der friedlichen Revolution in der DDR 1989/90 wandelte sich auch das Parteiensystem grundlegend. Das DDR-System war ein Hegemonialsystem ohne echte Parteienkonkurrenz. Die SED war Staatspartei, den Blockparteien war ein freier politischer Wettbewerb verwehrt. Mit der Bildung einer offenen Opposition gegen die SED ergab sich zunächst eine bipolare Aufstellung. Dann folgte eine Phase der Aufgliederung durch die interne Auffächerung der Oppositionsbewegung. Zudem gründeten sich neue Parteien ohne direkte Verankerung in den oppositionellen Gruppen aus der Zeit vor der Systemtransformation. Und die alten Blockparteien nabelten sich ab. Darauf folgte die Phase der von westdeutschen Parteieliten forcierten Angleichung an die Struktur des westdeutschen Parteiensystems, die schließlich noch vor der staatlichen Vereinigung zu Zusammenschlüssen im Parteienbereich führte.

Die Ausgangslage Ende 1990

Vor dem Systemwechsel hatte die Staatspartei SED etwa 2,3 Millionen Mitglieder. Nach massiven Austrittswellen verzeichnete die in PDS umbenannte Partei Ende 1990 in den fünf neuen Bundesländern – im Folgenden als Ostdeutschland bezeichnet – noch 230.000 Mitglieder. In Berlin waren es gut 50.000, in Westdeutschland schätzt man die damalige Mitgliederzahl auf etwa 600. Zweitstärkste Partei in Ostdeutschland war mit gut 134.000 Mitgliedern die CDU, ein Zusammenschluss aus den ehemaligen Blockparteien CDU und Demokratische Bauerpartei Deutschlands (DBD) sowie des aus der Oppositionsbewegung hinzukommenden Demokratischen Aufbruchs (DA). Angesichts der 655.000 Westmitglieder (einschließlich Berlin) bedeutete dies eine Steigerung der Mitgliederzahl der nunmehr gesamtdeutschen CDU von 20 Prozent.

Mitgliederentwicklung der Parteien in Ostdeutschland seit 1990 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Eine noch deutlich stärkere Steigerung des Mitgliederbestands verbuchte die FDP: Zu den gut 71.000 Westmitgliedern kamen durch den Zusammenschluss der von Mitgliedern des oppositionellen Neuen Forums gegründeten Deutschen Forumpartei mit dem Bund Freier Demokraten, einem Zusammenschluss der früheren Blockparteien LDPD und NDPD, und mit der erst Anfang Februar 1990 gegründeten Ost-FDP nun 96.500 ostdeutsche Mitglieder hinzu, wodurch die FDP im Osten zeitweise zur drittstärksten Partei aufrückte.

Die in Westdeutschland mit fast 921.000 Mitgliedern mit Abstand größte Partei, die SPD, konnte ihren Mitgliederbestand durch die Vereinigung nur um 2,5 Prozent steigern, da ihr aus der Oppositionsbewegung heraus gegründetes Ost-Pendant Ende 1990 nur knapp 23.000 Mitglieder zählte.

Mitgliederentwicklung der Parteien in Westdeutschland seit 1990 (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/4.0/deed.de

Eine Ausnahme im schon vor der staatlichen Vereinigung abgeschlossenen Vereinigungsprozess auf der Parteienebene blieb das grün-alternative Spektrum. Die West-Grünen vollzogen den Zusammenschluss mit den Ost-Grünen erst am Tag nach der Bundestagswahl 1990, wodurch den 40.000 Westmitgliedern knapp 1.300 Ostmitglieder gegenüber standen. Der Zusammenschluss mit dem aus verschiedenen Oppositionsgruppen gebildeten Bündnis 90 kam erst 1993 zustande.

Insgesamt waren Ende 1990 in den fünf neuen Bundesländern 485.000 Bürgerinnen und Bürger Mitglied in einer der genannten Parteien. Dem standen über 1,9 Mill. Mitglieder in Westdeutschland gegenüber. Betrachtet man aber nicht die absoluten Zahlen, sondern die Rekrutierungsfähigkeit, also den Anteil der Parteimitglieder an der parteibeitrittsberechtigten Bevölkerung (siehe Tabelle), dann waren in Ostdeutschland Ende 1990 gut 4,2 Prozent der Beitrittsberechtigten in einer Partei organisiert, in Westdeutschland hingegen gut 3,5 Prozent. Dies änderte sich jedoch in der Folgezeit dramatisch.

Der Mitgliederschwund und seine Gründe

In der alten Bundesrepublik war die Rekrutierungsfähigkeit des gesamten Parteiensystems – bei durchaus unterschiedlicher Entwicklung der einzelnen Parteien – schon seit den Achtzigerjahren stetig zurückgegangen und diese Entwicklung setzte sich auch nach der Vereinigung fort. Von 1990 bis 2018 verloren die SPD weitere 55 Prozent ihrer Mitglieder, die CDU 42 Prozent, die Linke – trotz der Vereinigung mit der WASG – 27 Prozent, die CSU 26 Prozent und die FDP 20 Prozent. Die Grünen hingegen steigerten ihre Mitgliederzahl um 74 Prozent und die AfD konnte seit ihrer Gründung 2013 einen Mitgliederzuwachs von 72 Prozent verbuchen (siehe Abbildungen 1 und 2).

Geht man von einem Modell zur Erklärung von Parteieintritten und -austritten aus, das auf Anreizen, Hemmnissen und Handlungsalternativen basiert, lassen sich als Gründe für diese Entwicklung zunächst Prozesse des ökonomischen und kulturellen Wandels nennen, die Auswirkungen auf die verschiedenen Beitrittsanreize haben. Zentrale Bedeutung hat hierbei die Erosion der sozial-moralischen Milieus, die die soziale Basis des deutschen Parteiensystems historisch prägten – bei den großen Parteien das Arbeitermilieu und das katholische Milieu –, was zu einer deutlichen Abnahme der normativen Beitrittsanreize führt. Zudem verlieren die Vorfeldorganisationen (z.B. Gewerkschaften und konfessionelle Vereine), die diese Milieus in der Vergangenheit gestützt haben, als Rekrutierungsfelder für potenzielle Mitglieder zunehmend an Bedeutung.

Hinzu kommen Veränderungen der Beitrittshemmnisse sowie der verfügbaren Handlungsalternativen. Das Auseinanderdriften von gesellschaftlich anerkannten Partizipationsnormen und -formen und einer anachronistischen Organisationskultur in den Basiseinheiten der Parteien lässt viele potenzielle Mitglieder vor einem Parteibeitritt zurückschrecken. Die Menschen sind zudem in ihrem politischen Informations- und Einflussstreben seit geraumer Zeit nicht mehr allein auf die Parteien angewiesen, stehen diese doch zunehmend in Konkurrenz mit anderen Beteiligungsformen wie Bürgerinitiativen und neuen sozialen Bewegungen. Hinzu kommt, dass die Gründung neuer Parteien die zwischenparteiliche Mitgliederkonkurrenz verschärft. Zur Verbreiterung der für die Bürger verfügbaren Handlungsalternativen gehören neben den politischen Angeboten auch die unpolitischen Alternativen; die Freizeitgestaltungsmöglichkeiten haben sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht. Für den Mitgliederrückgang gibt es zudem parteispezifische Gründe, die zu Austrittswellen geführt haben, wie z.B. die Agenda 2010 bei der SPD oder die Koalitionswechsel der FDP 1969 und 1982. In Ostdeutschland nahm der Mitgliederschwund anfangs noch weitaus größere Ausmaße an als im Westen: Innerhalb von nur drei Jahren halbierte sich die Zahl der Parteimitglieder. Dies lässt sich nicht allein damit erklären, dass die Mitgliederdaten der neuen Bundesländer in der unmittelbaren Nachwendezeit von teilweise fragwürdiger Qualität waren.

Ein wesentlicher Grund ist der abrupte Wandel der Anreizstruktur zum Parteieintritt bzw. -austritt durch die Systemtransformation. Im DDR-System gab es eine Art ‚Zwangspolitisierung’, die durch eine spezifische Kombination von extrem starken Beitrittsanreizen normativer und materieller Art bewirkt wurde: DDR-Bürger sahen sich einer hochwirksamen sozialen Norm ausgesetzt, ihrer Loyalität zum Staat durch die Mitgliedschaft in der SED oder zumindest in einer der Blockparteien Ausdruck zu verleihen. Eine solche Mitgliedschaft war in den unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Vorteilen verbunden; eine Nichtmitgliedschaft brachte umgekehrt Nachteile mit sich.

Mit dem Systemwechsel entfielen diese Anreize zum Beitritt bzw. zum Verbleib in den Parteien, sodass es in der SED-Nachfolgepartei PDS und bei Mitgliedern der ehemaligen Blockparteien, die jetzt in der CDU und der FDP organisiert waren, zu massiven Austrittswellen kam. Hinzu kam die Auslastung der Bürger durch die persönlichen und beruflichen Folgen der ökonomischen und sozialen Umwälzungen, d.h. es gab unpolitische Handlungsalternativen zu einem Parteibeitritt, die mit deutlich größeren Handlungsanreizen verbunden waren.

Bei der CDU kam hinzu, dass der Katholikenanteil und damit die traditionelle Kerngruppe, in welcher normative, wertbezogene und politische Anreize zum CDU-Beitritt zu erwarten sind, in Ostdeutschland sehr klein war, was sich bis heute nicht geändert hat. Zudem bildeten sich die sozialen Gruppen der Selbstständigen, Beamten und Freiberufler, aus denen sich die Mitgliedschaft der CDU und auch der FDP traditionell zum Teil rekrutiert, in den neuen Bundesländern erst allmählich heraus. Die SPD blieb eine mitgliederschwache Partei. Da in der DDR die traditionelle Milieubindung der Arbeiterschaft nicht überdauern konnte, hatte die Partei große Probleme, diese traditionelle Kerngruppe an sich zu binden, was noch dadurch erschwert wurde, dass die Gründergeneration der Ost-SPD aus anderen gesellschaftlichen Schichten stammte.

Nicht zuletzt waren auch die Parteien selbst am Fortwirken von Beitritts- bzw. Bleibehemmnissen schuld. Vor allem in den Anfangsjahren schufen bei CDU und FDP zuweilen heftige innerparteiliche Auseinandersetzungen zwischen ‚Blockflöten’ und ‚Erneuerern’ ein sowohl für die Mitgliederrekrutierung als auch für den Verbleib von Mitgliedern hinderliches Klima, während bei den von Blockparteien-Vergangenheiten unbelasteten ostdeutschen Organisationseinheiten der SPD und der Grünen oftmals Vorbehalte der Gründergeneration gegenüber der Aufnahme neuer Mitglieder und ein viele potenzielle Mitglieder eher abschreckender moralischer Rigorismus herrschten. So verfolgte z.B. die ostdeutsche SPD einen strikten Abgrenzungskurs gegenüber ehemaligen SED-Mitgliedern.

Regionale Unterschiede

Die Mitgliederstärke der einzelnen Parteien unterscheidet sich regional sehr deutlich. Bei der CDU z.B. stehen 2018 den 2170 Mitgliedern in Bremen 124.567 Mitglieder in Nordrhein-Westfalen gegenüber. Das sind fast 16.000 mehr, als die SPD in ihrem traditionellen Stammland NRW noch aufzuweisen hat. In den ostdeutschen Bundesländern ist die CDU in Sachsen mit 10.444 Mitgliedern der Spitzenreiter, während die FDP in Mecklenburg-Vorpommern gerade einmal 685 Mitglieder zählt.

Die absoluten Zahlen sind jedoch nur begrenzt aussagefähig. Betrachtet man die Rekrutierungsfähigkeit der einzelnen Parteien, dann bilden bei der CDU (mit Ausnahme von Thüringen), der SPD und den Grünen die ostdeutschen Bundesländer das Schlusslicht, bei der FDP sind dies Bayern und Bremen. Die Linkspartei ist von ihrer Mitgliederverteilung her immer noch eine ostdeutsche Regionalpartei. Im Westen weist sie – mit Ausnahme des Saarlands – eine geringe Organisationsbasis auf. Aber auch in ihren ostdeutschen Hochburgen erreicht sie nicht annähernd die Rekrutierungsfähigkeit von CDU, CSU und SPD im Westen. Bei der AfD lassen sich keine ausgeprägten Ost-West-Unterschiede feststellen.

Parteimitglieder nach Bundesländern: Anzahl 2018 und Rekrutierungsfähigkeit 1 2017

1Rekrutierungsfähigkeit meint den Anteil der Parteimitglieder an der parteibeitrittsberechtigten Bevölkerung eines Landes.
2Bayern: CSU; CDU Westdeutschland ohne Bayern.
CDU2SPDFDPGRÜNELINKEAfD
20182017 20182017 20182017 20182017 20182017 20182017
Baden-Würtemberg61.4700,6835.6530,377.5290,0810.8250,103.5320,044.7100,04
Bayern138.3541,2758.7170,526.5340,0611.5850,083.4170,034.9460,04
Berlin12.2390,4020.0960,613.3180,107.1300,207.8610,251.5070,04
Brandenburg 5.8060,276.3620,291.2730,061.3840,055.8020,281.4850,05
Bremen 2.1700,384.2190,713860,067990,126240,101680,03
Hamburg 6.6660,4411.5750,711.4970,092.4300,111.6390,105640,03
Hessen 37.0000,7150.8080,966.3220,126.0480,103.2550,062.8730,04
Mecklenburg-Vorpommern 5.1050,373.1010,206850,057770,053.5810,267490,05
Niedersachsen 58.4640,8956.6970,835.9570,097.5160,103.1120,042.8230,04
Nordrhein-Westfalen 124.5670,84108.8560,7117.2860,1114.8540,088.1830,055.1480,03
Rheinland-Pfalz 38.9771,1434.8941,014.4110,133.5160,091.7690,052.2090,05
Saarland 16.2361,9117.0622,041.0000,131.4490,152.1240,284800,05
Sachsen 10.4440,304.9820,132.0640,061.9230,047.9880,232.3600,05
Sachsen-Anhalt 6.5850,353.5760,181.2660,078730,043.5960,191.0280,04
Schleswig-Holstein 19.4940,7917.3140,692.6520,103.3530,101.2980,051.1190,04
Thüringen 9.4810,523.8420,201.2580,078490,044.2240,231.2040,05

Quellen / Literatur

Niedermayer, Oskar (2013), Parteimitgliedschaften, in: Oskar Niedermayer (Hrsg.): Handbuch Parteienforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 147-177.

Niedermayer, Oskar (2019): Parteimitgliedschaften im Jahre 2018, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 50. Jg., Heft 2, S. 385-410.

Niedermayer, Oskar/Stöss, Richard (1994): DDR-Regimewandel, Bürgerorientierungen und die Entwicklung des gesamtdeutschen Parteiensystems, in: dies. (Hrsg.): Parteien und Wähler im Umbruch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 11-33.

Fussnoten

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