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Wir brauchen die Emanzipation des Ostens

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Torsten Schlüter studierte an der Bauhaus-Universität in Weimar Architektur, heute lebt und arbeitet er als freischaffender Künstler in Berlin und auf der Insel Hiddensee. (© privat)

August 1961. Das junge Paar Ingrid und Ulrich Schlüter aus dem Berliner Osten besucht in Schleswig-Holstein Ulrichs Vater. Ihr anderthalbjähriger Sohn ist bei den Großeltern mütterlicherseits am Stadtrand Berlins zu Besuch. Die Verhältnisse in der DDR sind angespannt, die Menschen unzufrieden. 15 Jahre nach Kriegsende verlieren viele den Glauben an den Sozialismus in der DDR. Die Wirtschaft klemmt. Eine Massenauswanderung ist im Gange. Auch Ingrid und Uli beschäftigt ihre Zukunft. Teile der Familie leben in Köln und Westberlin. Der andere Teil verharrt am Rande Berlins in der Ofenstadt Velten, zu stark sind für sie Familientradition und regionale Verbundenheit. Ulrichs Vater ermuntert das Paar zum Übersiedeln. Auf Ingrid als Krankenschwester wartet eine Arbeitsstelle. Und dem Lehrer Uli, Fußballtorwart der Berliner Auswahl, liegt ein verlockendes Profiangebot von Hannover 96 vor.

Da erreicht sie die Nachricht, dass über Nacht die Grenze geschlossen wurde. Die jungen Eltern sind verzweifelt. Der erste Gedanke, wir müssen zurück zu unserem Kind! Ulrichs Vater überlegt wie man den Jungen nachholen könnte. Da melden sich aus dem Osten Ingrids Eltern und berichten, dass Kinder deren Eltern sich im Westen aufhielten, vom Staat in Heime gebracht würden. Das Paar kehrt sofort nach Ostberlin zurück. Es sollte eine endgültige Entscheidung sein für die nächsten 28 Jahre. Der Junge wächst auf mit den Besuchen des Großvaters, der Verwandten aus Köln und Westberlin. Im "Tränenpalast", Bahnhof Friedrichstrasse fließen jedes Mal die Abschiedstränen. Die einen hier, die anderen dort.

Die Verhältnisse sind zementiert. Der tägliche Schulweg führt ihn an den Grenzschildern vorbei. Einmal fragt er in seiner Not die Mutter, ob sie glaube, dass die Mauer für immer da sein werde. Die Mutter atmet tief durch. Dann antwortet sie mit fester Stimme: "Irgendwann wird die Mauer verschwinden und wir werden es erleben!" Nach Abitur und Wehrdienst studiert er Architektur in Weimar. Durch die Liebe zur Malerei steigt er nach dem Diplom aus der Architektur aus. Dafür erklärt man ihn in Weimar zur unerwünschten Person. Danach Subsubkultur in Weimar, als Aussteiger zieht es ihn auf die Insel Hiddensee. Ab September 89 engagiert er sich für das Neue Forum. An seinem 30. Geburtstag betritt Genscher den Balkon der Prager Botschaft. Das Jahr 89 geht zu Ende, die Mauer ist gefallen, die Welt scheint auf den Kopf gestellt. Da beginnen die Eltern in der Weihnachtszeit eine Geschichte zu erzählen, wo sie damals waren, in dem Moment als die Mauer errichtet wurde.

Nach der bald verflogenen Anfangseuphorie bestimmte das ökonomisch erfolgreichere System dem revolutionär Erfolgreichen die Regeln des Zusammengehens. Dabei trafen ostdeutsche Minderwertigkeitsgefühle auf westdeutsche Großspurigkeit. Im Westen karrieremäßig zu kurz Gekommene fluteten den Osten und besetzten Führungspositionen. Banken, Kapital, Glücksritter melkten und bedienten sich. Mancher im Osten pflegt daher bis heute kleinbürgerliche Rachegelüste und meint, es "dem Westen" heimzahlen zu müssen, indem er die Demokratie in Frage stellt.

Was es aber heute braucht, das ist die Emanzipation des Ostens. Dazu gehört die Stärkung ostdeutschen Selbstwertgefühls, das Publikmachen von Erfolgsgeschichten und mehr Ostdeutsche in Führungspositionen. Und vielleicht hilft uns bei der Suche nach innerer Einheit auch ein Blick ins Ausland. International veränderten vor allem zwei Ereignisse das Deutschlandbild. Die in den 1980ern entstandene ökologische Bewegung im Westen und die friedliche Revolution im Osten. Dafür bewundert man die Deutschen und sieht sie in einem neuen Licht mit großen Sympathiewerten: Freiheit und Ökologie als verpflichtende Themen, die uns auch in Zukunft vereinen könnten.

Fussnoten