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Deutschlands Identität im Europa der Nationen

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Eberhard Diepgen war von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister von Berlin. (© Ladan Rezaeian)

Deutschland erscheint mir als ein Land, in dem gerne schnelle Thesen aufgrund aktueller Beobachtungen aufgestellt werden. Das denke ich momentan besonders beim Blick auf die Diskussionen um eine "Mauer in den Köpfen" oder eine "fortschreitende Spaltung" unseres Landes. Deutschland ist kein Einheitsstaat, vielmehr leben wir in einem ausgeprägt föderalistischen Staat mit bemerkenswerten regionalen Ausprägungen. Dabei sind wir dennoch viel mehr ein Land als beispielsweise Italien, Spanien, Belgien oder Großbritannien.

Die aktuelle Diskussion um die Frage der Einheit unseres Landes kreist zu sehr um die Entwicklung in den beiden ehemaligen deutschen Staaten. Das hat seine Ursachen auch darin, dass Wirtschaftsstatistiken zu selten das Nord-Süd- oder das Stadt-Land-Gefälle herausstellen und nur zögerlich die wirklich vergleichbaren strukturschwachen Gebiete an der Grenze zu Polen, im Ruhrgebiet oder den alten Zonenrandgebieten einander gegenüberstellen. Bottrop und Herne stehen in der Einkommensentwicklung weit hinter Brandenburg und Frankfurt/O. Das Credo "Aufbau Ost vor Ausbau West" hat zu einem Nachholbedarf im Westen Deutschlands und selbst im Westen von Berlin geführt. Ich rate also, nach fast 30 Jahren deutscher Einheit den Blick nicht auf Herausforderungen östlich der Elbe zu verengen.

Der Jahrestag des Mauerfalls reizt dennoch zu einem Blick auf die Träume und Erwartungen der ostdeutschen Revolution. Da gab es viele Enttäuschungen und Fehler in der Politik nach 1990. So war die Treuhandanstalt allzu schnell mit der Privatisierung ganzer Industrien, stellte sich und ihren Mitarbeitern zu spät die Frage, ob nicht vor dem Verkauf eines Unternehmens dessen Sanierung und Anpassung an den Markt liegen könnten. Viele Menschen mussten ihre Lebenschancen im Westen suchen, vor allem die Regionen im Südwesten Deutschlands profitierten davon. Lebensleistungen im real existierenden Sozialismus wurden nicht hinreichend anerkannt und "Wessis" machten Karriere. Da gibt es Enttäuschungen und Verletzungen, die noch heute nachwirken. Doch eine Konzentration auf diese Themen führt zu einem schiefen Bild. Die Ursachen für den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen hat nicht die Treuhand sondern die Wirtschaftspolitik der DDR selbst gelegt. Man kann es im Schürer-Bericht nachlesen, einer noch von der SED-Führung in Auftrag gegebenen Analyse.

Auch die größeren Erfolge der AFD bei den letzten Landtagswahlen in den neuen Bundesländern dokumentieren aus meiner Sicht keine Spaltung des Landes. Mit solchen "Analysen" wird nur von den entscheidenden Herausforderungen der deutschen und europäischen Politik abgelenkt. "Traditionelle" Parteien zeigen nicht genug Bodenhaftung, wirken inhaltlich ausgezehrt und leiden in Landtagswahlen unter dem Blick auf die Politik ihrer Bundesvorstände.

"Sind wir ein Land?" Das ist für mich in erster Linie eine Frage nach der Identität Deutschlands im Europa der Nationen, nach gemeinsamer Kultur und Geschichte. Die Wartburg, Weimar und der "Alte Fritz" gehören genauso wie die dunklen Jahre 1933-45 und die Revolutionen von 1848, 1918 und 1989 zur gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Deswegen sind wir ein Land, regionalen Sonderheiten und wirtschaftlichen Unterschieden im deutschen Bundesstaat zum Trotz. Und: Selbst die Wanderungsbewegungen zwischen einst Ost und einst West ab 1990 haben das Land nicht zusätzlich geteilt. Im Gegenteil: Bayern, Schwaben und Sachsen lernten ihre Nachbarn von der je anderen Seite der Elbe besser kennen. In der Migrationspolitik nennt man das wachsende Integration.

Fussnoten