Am 9. November 1989 drückten die Ostberliner nach einer verhaspelten Pressekonferenz die Mauer in die Freiheit auf. Ich saß in dieser Nacht heulend vor dem Fernseher und hatte viele Schlüsselbunde zu bewachen. Meine Nachbarn gingen alle mal schnell nach Westberlin, sie wollten mal schauen und hofften, dass nichts Schlimmes passiert. Ich traute der Sache nicht und blieb bei den Kindern. Ein Haus, 12 Wohnungen, viele schlafende Kinder, einschließlich meiner Tochter. Wir hatten in Deutschland das Glück, dass uns die große Schwester die Hand reichte und wir dann als ostdeutsche Länder Teil der Familie wurden. Das größte Geschenk haben uns die Alliierten gemacht, auch sie entließen uns in die Selbstständigkeit und in eine größere außenpolitische Verantwortung. Das war damals nicht alles selbstverständlich und wie wir heute wissen, gab es wirklich nur dieses kurze Zeitfenster, diese Zeit in der sich alles überschlug, in der alle Ideen schon beim Aufschreiben veralteten. Diese Zeit mussten wir nutzen.
Der Wunsch nach einer gemeinsamen deutschen Verfassung konnte sich nicht erfüllen. Dafür haben sich viele Bürgerinnen und Bürger mit ihren Vorschlägen, Ideen und mit ihrer Leidenschaft in die Verfassungsgestaltung ihrer jeweiligen Länder eingebracht. Auch die Ideen des Runden Tisches flossen mit ein. Zahlreiche Experten aus den Partnerländern gaben Anregungen und berichteten von Ihren Erfahrungen. Ich gebe es zu: Noch nie im Leben habe ich mich so mit Kollegen gefetzt und gestritten, wie in den neunziger Jahren in der Staatskanzlei des Landes Brandenburg. Ich habe mich als Ostdeutsche nicht selten diskriminiert gefühlt, musste "Anpassungsfortbildungen" machen und wurde ständig irgendwie überprüft. Aber im Unterschied zu früher konnte ich mich fetzen, ohne Gefahr zu laufen, rausgeschmissen zu werden. Die Fronten verliefen auch nicht immer Ost gegen West, sondern Frauen gegen Männer, Jung gegen Alt oder entlang unterschiedlichster Überzeugungen. Und ja – in diesem Streiten, in diesem Ringen um den besten Weg und ja auch um die eigene Würde, wuchs so etwas wie gemeinsame Verantwortung. Gemeinsame Verantwortung über alles Trennende, alle Unterschiede hinweg.
Und auch schon 1999, zehn Jahre nach der friedlichen Revolution, die Frage: "Sind wir ein Land, sind wir ein Volk?" – womit ja immer wieder die Sehnsucht verknüpft ist, alles wird gut, irgendwann ist man angekommen, kann sich kuschelig einrichten. Wie in einem alten Märchenbuch. Aber nein, es gibt kein kuscheliges Happy End, es gibt kein Ende der unerwarteten Situationen und Verwerfungen. Es gibt kein Ende von Strukturumbrüchen, es gibt kein Ende der Angst, den Herausforderungen nicht gewachsen zu sein. In der Welt haben sich viele Konflikte verschärft, die neoliberale Wirtschaftsform ist heute stärker denn je in der Kritik. Auch Europa ist nicht die feste Burg, für die es viele hielten. Der Populismus von links und von rechts ist auf dem Vormarsch und wir kämpfen weiter darum, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Bei fremden Kulturen sind wir im Zweifel, ob sie uns bereichern oder bedrohen. Welche Antworten finden wir zum Klimawandel, welche neue Lebensweise werden wir finden? Nur starke Menschen bekommen da keine Angst oder die, die sich in einer bunten, kreativen, verantwortungsbewussten Gemeinschaft befinden, die krisenerprobt ist.
Als Ostberlinerin, die seit dreißig Jahren das Glück hat, das vereinte Deutschland mitzugestalten, bin ich unendlich dankbar für diese Wendung der Geschichte. Ich habe viele neue Freunde im vereinten Deutschland und in aller Welt gefunden. Besonders von außen schaut man mit großer Bewunderung und Respekt auf Deutschland. Sind wir nun ein Land? Ja, wir sind ein Land. Die Einigkeit liegt in der gemeinsamen Verantwortung für ein konstruktives, solidarisches und friedliches Deutschland, egal wo jemand geboren ist: ob in Neuruppin, Münster, Warschau, Hanoi oder Damaskus.