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Keine Durchsetzung einer "besseren Moral"

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Der Staatsrechtler Hans-Jürgen Papier war von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts. (© LMU München)

Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist laut Bundesverfassungsgericht "in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt". Meinungen sind Werturteile und lassen sich somit weder als wahr noch als unwahr qualifizieren. Es spielt für den verfassungsrechtlichen Schutz keine Rolle, ob die Meinungsäußerung begründet oder grundlos erscheint, ob sie von anderen für nützlich oder für schädlich, für wertvoll oder für wertlos gehalten wird. Von den Meinungsäußerungen sind die Tatsachenbehauptungen abzugrenzen. Hier geht es um Äußerungen über gegenwärtige oder vergangene Zustände oder Ereignisse, die dem Beweise zugänglich sind. Allerdings sind Meinungsäußerungen oftmals nahezu untrennbar mit Tatsachenbehauptungen vermischt. Deshalb fallen auch Tatsachenbehauptungen unter den Schutz der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG, wenn und soweit sie Voraussetzung der Bildung von Meinungen sind.

Dem Grundrecht der Meinungsfreiheit sind allerdings von Verfassung wegen Grenzen gesetzt. Diese ergeben sich aus Art. 5 Abs. 2 GG, wobei die Schranke der allgemeinen Gesetze im Vordergrund steht. Unter einem allgemeinen Gesetz versteht man gemeinhin ein Gesetz, das dem Schutz eines schlechthin, also ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dient. Das Bundesverfassungsgericht geht darüber hinaus von einer Wechselwirkung zwischen den allgemeinen Gesetzen, die der Meinungsfreiheit Grenzen setzen, und den Rechten aus Art. 5 Abs. 1 GG aus. Somit setzen die allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken, müssen ihrerseits aber in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden.

Neben der klassisch-liberalen Funktion des Grundrechts der Meinungsfreiheit als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe ist dieses Grundrecht auch Ausdruck einer objektiv-rechtlichen Wertentscheidung. Es setzt mithin Maßstäbe bei der Auslegung und Anwendung allen Gesetzesrechts, vor allem auch des Privatrechts. Bei der Überprüfung von straf- oder zivilgerichtlichen Sanktionen wegen mehrdeutiger Meinungsäußerungen ist von dem Grundsatz auszugehen, dass die Gerichte bei der Auslegung der Meinungsäußerung nicht für den zur Sanktion führenden Sinn entscheiden dürfen, ohne zuvor die Alternativen mit tragfähigen Gründen ausgeschlossen zu haben. Andernfalls müsste der Meinungsäußernde stets befürchten, wegen einer Deutung, die den gemeinten Sinn seiner Äußerung verfehlt, mit staatlichen Sanktionen belegt zu werden.

In Zeiten der Digitalisierung und des Internets wird die Frage diskutiert, ob die Meinungsfreiheit neu zu denken sei. Es ist unzweifelhaft, dass das Internet kein rechtsfreier Raum ist, die materiell-rechtlichen Vorschriften zum Schutz öffentlicher oder privater Rechtsgüter gelten selbstverständlich uneingeschränkt auch bei der Nutzung des Internets. Was nötig ist, ist die vom Rechtsstaatsprinzip geforderte effiziente Durchsetzung geltenden Rechts. Hier muss die Gesetzgebung durch eine Anpassung von Organisation und Verfahren dafür Sorge tragen, dass unter den veränderten technologischen Bedingungen sowohl die Herrschaft des Rechts wie auch die staatliche Justizgewährung uneingeschränkte Geltung behalten oder wiedererlangen.

Herausforderungen wie die durch den Populismus, Hassreden und die Verbreitung von Fake News gehören schon immer zu den Risiken, die die Demokratien um der Freiheit willen stets aufs Neue eingehen und bestehen müssen. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit darf auf gesetzlicher Grundlage und zum Schutz höher- oder zumindest gleichrangiger Rechtsgüter der Allgemeinheit oder des Einzelnen eingeschränkt werden – nicht aber zur Durchsetzung einer "besseren Moral".

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