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Die Suche nach Gemeinschaft und Halt

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Maria Beyer ist Pfarrerin in der Evangelisch-Lutherischen Kirchgemeinde Hartha im Landkreis Mittelsachsen. (© privat)

Überall im Lande wird in diesen Tagen zurückgedacht. Ich selbst sehe mich als junge Theologiestudentin am Morgen des 9. Oktobers 1989 in die Straßenbahn steigen. Eine beklemmende Stimmung liegt über der Stadt. Wie wird dieser Tag enden? "Zur Not auch mit der Waffe in der Hand!", hallt es durch das Schweigen in der Bahn. Schwarz auf Weiß stand es am Wochenende in der Leipziger Volkszeitung, dass die Errungenschaften des Sozialismus mit allen Mitteln verteidigt werden sollen. An der Theologischen Fakultät ist an diesem Montag kaum an Studieren zu denken. Wir konnten nicht bis zum Abend warten. Wir mussten etwas tun, unsere Sorgen aussprechen – miteinander, füreinander, für unsere Stadt. Dankbar feierten wir Studentinnen und Studenten der Theologischen Fakultät schon am Morgen einen Gottesdienst, der sich noch stärker in meine Erinnerung gebrannt hat als das Friedensgebet am Abend. Wir sangen die alten Lieder - "Sonne der Gerechtigkeit". Wir stimmten in die Klagen und Vertrauensgebete der alten Propheten ein und beteten selbst für die Stadt und das Land und alle, die am Abend – auf welcher Seite auch immer – Dienst zu tun hatten. Wir wussten nicht, was geschehen würde. Aber wir waren getrost.

Schon lange wurde in den Kirchen weitgreifender gedacht und freier geredet. Sie boten denen Raum, die anderswo keinen mehr hatten. Nun öffneten sich auch an jenem Abend die Türen. Viele kamen, die selten oder nie eine Kirchenschwelle übertraten. Drinnen wurde ausgesprochen, was die Menschen bewegte, sie erlebten Gemeinschaft und erfuhren Stärkung. Das Gebet für den Frieden war auch ein Gebet für die, die noch nie gebetet hatten. Es einte uns nicht die Agitation gegen die Mächtigen im Land, sondern die Hoffnung auf Veränderung, die Suche nach neuen Wegen. Wir hatten ein gemeinsames Ziel. Das Miteinander bei den Friedensgebeten erlebten wir als eine große Kraft. Im Licht der Laternen standen wir endlich auf der Straße. Unwirklich der Moment – bis heute. Aus den Lautsprechern erklang der Aufruf zu Besonnenheit. Keine Gewalt! Er trug sich fort. Und wir gingen immer weiter. Schritte auf einem neuen Weg. Das Erstaunen ist geblieben.

30 Jahre danach denken wir zurück und kennen neben dem Wunderbaren auch Ernüchterndes. Die Aufbruchstimmung flaute ab. Auch waren die Kirchen wieder so gut oder schlecht besucht wie zuvor – es gab keine Wiedereintrittswelle, wie Einzelne hofften. Die besondere Rolle der Kirchen in der DDR verlor sich schnell. Wohl blieb die Erfahrung, dass die Kirche da war, als sie gebraucht wurde. Sie tat ihren Dienst mit und für die Menschen. Viele standen gemeinsam für eine Sache ein – lebensbejahend und gewaltlos.

Die Gesellschaft hat sich verändert, driftet offenbar mehr und mehr auseinander. Die Kirchen wirken häufig still oder mit sich selbst beschäftigt. Für fast 80 % der Ostdeutschen spielen Kirche und Glaube kaum oder gar keine Rolle im Alltag, sagen Statistiken. Geblieben ist die Sehnsucht nach einem guten gelingenden Leben. Dabei scheint die Suche nach neuen Wegen der großen Sorge vor unüberschaubarem Wandel gewichen. Wir sehen viel Unzufriedenheit und reden von Klage auf hohem Niveau. Und übersehen leicht, dass es nicht zuerst um materielle Sorgen geht. Wir hören den Ruf nach Heimat und etwas, was Bestand hat und überhören dabei leicht den Schrei nach Gemeinschaft und Halt.

Die Erfahrung, die gerade in diesen Tagen durch die Erinnerung gespeist wird, zeigt, dass die Kirchen dort wichtig werden, wo Menschen ihre ganz persönlichen Fragen stellen dürfen, wo sie sich einer gemeinsamen zukunftsweisenden Sache annehmen, die ihnen und ihrem Umfeld dient, dem Dorf, der Stadt. Welche das im Einzelnen ist, darum gilt es zu ringen. Der Ruf: "Keine Gewalt!" darf dabei nicht verstummen und das Gespräch miteinander nicht abreißen. So lautet die Losung der Kirchen für 2019 nicht umsonst: "Suche Frieden und jage ihm nach!"

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