Von Anastassia Pletoukhina
Religionen sind keine exotischen Inseln
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Ein Freitagvormittag in Berlin-Charlottenburg ist immer eine Mischung aus entspanntem Schlendern, Kaffeedates und dem Endspurt vor dem Wochenende. Das jüdische Leben fügt sich nahtlos in dieses Tempo ein. Einige laufen noch schnell zum koscheren Supermarkt, um den Wein für den Kiddusch zu kaufen. Andere genießen einen entspannten Freitagmorgen vor dem Schabbat und treffen sich mit Freunden. Die lautstarken Begrüßungen mit "Gut Schabbes" oder "Schabbat Schalom" am Ku’damm oder in den Einstein-Cafés gehören hier zur Norm. An einem Tisch unterhalten sich Mädchen begeistert über die Planung ihrer Bat Mitzwot, ein paar Tische weiter werden noch die Verträge zwischen zwei israelischen Geschäftsmännern geschlossen. Jüdisches Leben ist hier eine Selbstverständlichkeit.
Doch diese Selbstverständlichkeit ist in Deutschland nicht überall anzutreffen. Ein schneller Test: Wie viele der bereits erwähnten Begriffe aus dem Alltag einer jüdischen Person haben Sie auf Anhieb verstanden?
Im protestantischen Norden Deutschlands könnte leicht der Eindruck entstehen, Religion spielte in der Dominanzgesellschaft keine große Rolle. Kopftuch- oder Kippa-tragende Menschen, die sich auch an Speisegesetze und eigene Feiertage halten, stechen heraus. Stechen sie heraus, weil sie gläubig und religiös sind oder weil sie nicht christlich sind? Schon beim oberflächlichen Hinschauen stellen wir fest, dass unser Alltag sehr stark von der christlichen Tradition bestimmt wird. Die überwiegende Anzahl der gesetzlichen Feiertage ist christlich-religiöser Herkunft, Sonntage sind Ruhetage, die Christlich Demokratische Union ist eine der führenden Parteien Deutschlands. Für eine religiöse Person wie mich ist es sehr schön, von Menschen umgeben zu sein, die religiöse Werte pflegen, an Weihnachten und Ostern zu ihren Familien fahren, denn Familie und religiöse Feierlichkeiten spielen auch im Judentum eine zentrale Rolle. Dann kommen die jüdischen Feiertage und Traditionen und da sieht es ganz anders aus. Jüdische Studierende müssen an hohen jüdischen Feiertagen oder am Schabbat Pflichtseminare besuchen, im Labor arbeiten oder Prüfungen schreiben. Diejenigen, die es aus religiösen Gründen nicht tun wollen, verlängern ihr Studium oder können es gar nicht abschließen. Religiöse Juden und Jüdinnen berichten regelmäßig von Schwierigkeiten, die sie am Arbeitsplatz haben, weil sie freitags früher gehen müssen oder samstags nicht arbeiten können. Jegliche Erhebung des Anspruchs auf die eigene nicht-christliche Religionsfreiheit wird als "Extrawurst" wahrgenommen. Ja, und was ist falsch daran?
Gerade die Geschehnisse in Halle haben gezeigt, dass wir es uns nicht leisten können, weiter zu denken, dass Juden und Muslime nicht zu Deutschland gehören. Das jüdische und das muslimische Leben sind keine exotischen Inseln in der mehrheitlich christlichen Gesellschaft, sie sind ein unentbehrlicher und prägender Teil davon. Je mehr wir uns dem verschließen, desto schwieriger wird es, die Demokratie in Deutschland aufrechtzuerhalten.
Wenn ich als moderne Frau, Akademikerin und Feministin über meinen Alltag einer orthodoxen Jüdin mit einer Kopfbedeckung erzähle, reagieren meine nicht-jüdischen Gegenüber in der Regel interessiert, überrascht, manchmal sogar begeistert. Ich sehe trotz dem, was mir in Halle widerfahren ist, dass wir in fantastischen Zeiten leben, in einem Land der Freiheit und in einer großartig diversen Gesellschaft. Ich bestehe vehement darauf, dass wir diese Vielseitigkeit und Offenheit nicht nur auf der zwischenmenschlichen Ebene zelebrieren, sondern sie auch zum strukturellen Teil unserer gesellschaftlichen Ordnung machen, dass wir sensibel und respektvoll miteinander und den religiösen Bedürfnissen aller in Deutschland lebenden Personen umgehen. Es ist an der Zeit, auch diese Mauern fallen zu lassen.
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