Von Harald Welzer
Es geht nicht um die nächste Wahl, sondern um die nächste Generation
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Was uns das Klima wert ist? Kommt darauf an, wer mit "uns" gemeint ist. Wenn man weite Teile der sogenannten Funktionseliten aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung meint, dann lautet die Antwort leider: nichts. Wenn man weite Teile der erwachsenen Bevölkerung meint: nicht viel. Wenn man weite Teile junger Menschen unter 25 meint: alles.
Nie wurde diese radikale Spaltung der Gesellschaft deutlicher als am 20. September 2019. Es könnte sein, dass dies ein Tag von historischer Bedeutung war. Denn an diesem Tag demonstrierten allein in Deutschland 1,4 Millionen junge Menschen für eine überlebenstaugliche Zukunft, während eine Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm verkündete, das nach Auffassung aller Expertinnen und Experten nicht einmal entfernt dazu taugt, die von derselben Regierung verkündeten Ziele zu erreichen. Eine krassere Demonstration von Totalversagen in Sachen Daseinsvorsorge hat noch keine Regierung der Bundesrepublik gezeigt, und die erbärmliche Show, die der Präsentation des "großen Wurfs" vorausging, passte perfekt dazu. Denn diese Gruppe älterer uninspirierter Damen und Herren gab ihre Beratungsergebnisse nach einer 18-stündigen Nachtsitzung bekannt, so als hätten sie erstens heroisch um irgendetwas gerungen und zweitens erst letzte Woche Mitteilung von der Erderhitzung bekommen. Wer von den jungen Menschen das nicht als dreiste Provokation empfindet, muss ein zutiefst sanftes Gemüt haben.
Ich bin Sozialpsychologe und frage mich, ob in der politischen Klasse niemand darüber nachdenkt, welche Wut diese ostentative Ignoranz bei der jungen Generation auszulösen vermag, die ja seit einem Jahr demonstriert und das friedlich und mit allen Argumenten der Wissenschaft im Rücken. Wenn man weiß, dass Generationenungerechtigkeit der stärkste Treiber von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Rebellionen und Revolutionen ist: Warum verhält man sich dann so, als seien einem die mehr als berechtigten Anliegen, wie sie in der Bewegung Fridays For Future artikuliert werden, einfach egal?
Ein radikales Nicht-Handeln beim Menschheitszukunftsthema Erderhitzung fortzusetzen, hat sogar noch eine weiterreichende Dimension: Wenn nämlich eine komplette Generation unabhängig von ihren politischen Präferenzen damit konfrontiert ist, dass die Herrschenden sich für sie und die damit verbundene Gerechtigkeit nicht interessieren, werden Teile der Bewegung sich radikalisieren und die Politik damit auf ungute Weise unter Druck setzen, was wiederum neue Dynamiken erzeugt. Kurz: Etwas Kurzsichtigeres als das, was man am 20. September getan hat, hätte man gar nicht tun können.
Und diese geradezu lächerliche Angst, auch in Deutschland käme es zu Gelbwesten-Protesten, wenn man den Leuten – mit sozialem Ausgleich – Energiepreiserhöhungen zumutet, ist völlig irrational. Erstens kann man die französische Protestgeschichte auch in Sachen Radikalität mit der deutschen überhaupt nicht vergleichen und zweitens könnte man auch mal sagen, dass die Kaufkrafterhöhung pro Kopf in den vergangenen Jahren jeweils bei 600 bis 700 Euro lag – wo ist da das Problem, für Klimaschutz mehr Steuern zu bezahlen? Und drittens: Wie kommt man auf die bizarre Idee, sich vor künftigen Protesten autoaffiner Gestriger zu fürchten, wenn ganz real und gegenwärtig nahezu anderthalb Millionen auf der Straße sind, viele von ihnen jede Woche? Nichts könnte die Entrücktheit und das Schlafwandlerische der gegenwärtigen Politik deutlicher machen als das.
Der politische Lernprozess, den die sogenannte Realpolitik zu absolvieren hat, besteht darin, zu verstehen, dass Klimapolitik ein eigenständiges Politikfeld mit besonderer Dringlichkeit ist. Man kann das nicht behandeln wie die Mütterrente oder irgendetwas anderes, mit dem die vorwiegend mit sich selbst beschäftigte GroKo sich zu befassen gewohnt ist. Hier geht es nicht um die nächste Wahl, sondern um die nächste Generation. Wer das nicht versteht, macht sich schuldig.
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