Die deutsche Sprache hat die sympathische, doch schwierige Eigentümlichkeit, dass sie beim Reden vom Ort der Herkunft das klangreiche Wort "Heimat“ anbietet – klangreich deswegen, weil es das Herkommen, Zurückkehrenwollen und Träumen von einem vergangenen Zustand in einem Ausdruck zusammenzieht. Zum Verständnis der Sache führen andere Sprachen weiter.
Im amerikanischen Englisch kann man ohne Pathos sagen: Home is where we start from. Das ist ein aufschlussreicher Satz – vor allem deswegen, weil Amerikaner, die sich zu ihm bekennen, fürs erste allesamt nicht von dort kommen, wo sie heute leben. In einem Einwanderungsland meint die Rede von being at home per se etwas anderes als in Ländern mit seit langem "bodenständigen“ Bevölkerungen. Dennoch ist evident, dass Amerikaner, obschon sie in ihrer großen Mehrheit aus Einwanderern und Zuwandern bestehen, die Erfahrung des Zu-Hause-Seins nicht entbehren wollen. Das Experiment der Mobilitätsgesellschaft beweist: Das Zu-Hause-Sein-Können ist offensichtlich eine Mitgift der beweglich gewordenen Menschen und nicht ein Privileg derer, die meinen, die Menschen und ihre Landschaften seien irreversibel miteinander verklebt.
Zu den bizarren Erfindungen der Amerikaner gehören die mobile homes, das heißt jene vom Boden abhebbaren Einfamilienhäuser, die man auf Lastwagen in beliebig weit entfernte Gegenden transportieren kann, um sie an neuer Stelle abzusetzen. Das mobile home bringt eine Tatsache von anthropologischer Reichweite zum Vorschein: Der Mensch ist von Grund auf ein Wesen, das aufs Wohnen hin angelegt ist; sein Verhältnis zur Umgebung der Wohnung jedoch bleibt mobil und reversibel. Wenn die Amerikaner auch kein Wort haben, das unser Nationalwort "Heimat“ mit all seinen Nebentönen wiedergibt, teilen sie mit uns und allen Menschen in vergleichbaren Situationen die Erfahrung des Ausgehens und Nachhausekommens. Ganz ohne das Zurück geht es nicht. Das home, die Heimat erklärt sich als der Ort, wo deine Traumata auf Speichern unterm Dach, in versiegelten Schubladen, in vergessenen Kellerregalen wieder zum Sprechen kommen. In diesem Sinn wären home und Heimat Orte, an denen wir die Verletzungen, die Konfusionen, die Halbheiten, von denen wir herkommen, wieder aus der Nähe studieren können. Sie bilden Areale des Gedächtnisses, in denen die dunkle Materie der verlorenen Zeit abgelegt ist.
Der zweite Weg, sich aus dem Dunstkreis des deutschen Heimatbegriffs zu entfernen, führt wie üblich in den Süden. Es sind die Römer, denen man den zweiten maßgeblichen Satz über das Wesen von In-der-Heimat-Sein verdankt: ubi bene ibi patria – wo es dir gut geht, dort bist zu zuhause. Sieht man näher zu, lässt sich in dem schlichten Satz ein reiches Potential an subversiven Bedeutungen entdecken. Er ruft geradezu nach einer kritischen Umkehrung: Wo es dir nicht gut geht, da bist du nicht zuhause – oder besser noch: da musst du nicht länger bleiben. Treue zu einem schlechten Platz ist keine Tugend. Was auf den ersten Blick das Motto eines robusten Ortspatriotismus zu sein schien, erweist sich bei näherer Betrachtung als Lizenz zum Aufbruch. Damit verändern sich Sinn und Richtung des patria-Komplexes: Wenn er zunächst und zumeist das Herkommen bezeichnet, mit seinen Frachten an hellen und dunklen Erinnerungen, so kann er in zweiter Lesung auch einen Ort in der Zukunft bezeichnen, wo wir aufatmend sagen können: ibi bene, hier lässt es sich aushalten. Es muss ja nicht jenes Gasthaus Zum ewigen Frieden sein, an das Immanuel Kant in seiner gleichnamigen Schrift mit grimmiger Ironie erinnerte. Aus der Sicht der Gäste jenes Hauses sind freilich alle Lebenden bloße Migranten; das Leben selbst ist nichts anderes als komparative Exilforschung.
Was könnte man den Toten antworten? Außer, dass Heimat eben dies bedeutet: das wie auch immer vorübergehende Dasein in einem Nicht-Exil.