Von Oliver Nadig
Digitalisierung ist nicht automatisch barrierefrei
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In meiner flapsigen Art sage ich gerne: Wir blinden Menschen betrachten die Digitalisierung mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das lachende Auge schaut zurück auf die 1970er Jahre. Blinde Menschen gehörten zu den Ersten, die von den aufkommenden IT-Arbeitsplätzen profitierten. Zu dieser Zeit kommunizierte man mit "elektronischen Datenverarbeitungsanlagen" über Textbefehle, und die Ein- und Ausgabegeräte konnten so erweitert werden, dass sie im wahrsten Wortsinne blind bedienbar waren. Als in den 1980er Jahren PCs in die Büros einzogen, standen sie sehr früh auch bei blinden Kollegen, denn Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Datenbankverwaltung und Programmierung waren Aufgaben, die wir mit elektronischen Hilfsmitteln schon damals selbständig ausführen konnten.
Die drei wichtigsten Hilfsmittel waren und sind Bildschirmausleseprogramme, Sprachausgaben und Braille-Zeilen. Sprachausgaben lesen Bildschirminhalte laut vor. Braille-Zeilen sind Zusatzgeräte, die Bildschirmbereiche als Text in der Blindenschrift darstellen, die mit den Fingern gelesen wird. Sprachausgaben und Braille-Zeilen sind "dumme" Ausgabe-Medien, denen eine Software mitteilen muss, welcher Text am Bildschirm wichtig und blindengerecht darzustellen ist. Diese Aufgabe übernehmen Bildschirmausleseprogramme, neudeutsch: Screenreader. Aber wie gibt ein blinder Mensch Daten in einen Computer ein und steuert Software? Er hat das Zehnfinger-Tastschreiben auf der Computertastatur erlernt und tippt blind. Die Maus als Eingabegerät ist blind nicht praktikabel.
Spätestens als in den 1990ern die heute gebräuchlichen grafischen Bedienoberflächen von Windows und Co. die bis dahin aktuellen textorientierten Programme ablösten und das Internet seinen Siegeszug begann, wurde eines deutlich: Genauso, wie Menschen im Rollstuhl auf bauliche Barrierefreiheit angewiesen sind, brauchen wir blinde Personen für die digitale Teilhabe auch digitale Barrierefreiheit. Dies bedeutet für Entwickler, ihre Programme, Dokumente und Internetseiten so zu gestalten, dass sie mit unseren Blindenhilfsmitteln vollständig wahrnehmbar und bedienbar sind. Wenn z. B. in einem Online-Shop die "Zur Kasse gehen"-Schaltfläche als Grafik gestaltet, aber nicht mit dem Beschreibungstext "Zur Kasse gehen" hinterlegt ist, kann ich dort nicht einkaufen. Wenn ich mich im Rahmen einer Internet-Abstimmung als Mensch zu erkennen geben muss, indem ich in einem Grafik-Sammelsurium alle Bildchen mit Fahrzeugen anklicken soll, kann ich nicht teilnehmen.
Im Jahr 2009 kam mit dem iPhone 3GS das erste Smartphone mit Touchscreen auf den Markt, das von blinden Menschen bedient werden konnte. Die Firma Apple hatte dazu dem iPhone-Betriebssystem einen Screenreader mit integrierter Sprachausgabe spendiert. Etliche Firmen haben dieses Prinzip kopiert, so dass mittlerweile Smartphones, Tablets sowie einige Ebook-Reader und Fernseher barrierefrei bedienbar sind. Aber immer noch gilt: Eine App kann ich nur dann einsetzen, wenn sie barrierefrei programmiert ist.
Dank einiger neuerer Gesetze können Menschen mit Behinderungen digitale Barrierefreiheit von "öffentlichen Stellen" einfordern. Doch sollte sie gar nicht erst eingefordert werden müssen, sondern gleich von Anfang an mitgedacht werden; nur dann ist sie weder aufwendig noch teuer! Leider ist die Privatwirtschaft derzeit noch nicht zu digitaler Barrierefreiheit verpflichtet. Weil Haushalts- und Unterhaltungselektronik häufig nur noch über Touchscreens und Sensortasten gesteuert wird, ist sie immer schlechter blind nutzbar. Wir hoffen auch dort auf Touchscreens mit Sprachausgabe oder die immer verbreitetere Sprachsteuerung, denn digitale Barrierefreiheit nützt nicht nur behinderten, sie hilft ALLEN Menschen!
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