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Die Verkehrsanarchie muss ein Ende haben

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Der Mathematik-Professor Karl Michael Ortmann lehrt an der Berliner Beuth Hochschule für Technik.

Des einen Freud – des anderen Leid. So kann man die Veränderungen der Verkehrssituation in Berlin durch den Mauerfall bezeichnen. Leider ist es 30 Jahre danach immer noch nicht gelungen, den öffentlichen Personennahverkehr in Berlin und dem Umland so auszubauen und aufeinander abzustimmen, dass zumindest der berufliche, motorisierte Individualverkehr weitgehend aus der Stadt herausgehalten wird. Denn der tägliche Pendlerstrom aus dem Speckgürtel geht zulasten der Gesundheit und der Lebensqualität der Bewohner am Stadtrand von Berlin.

Ein Beispiel hierfür ist das Waldseeviertel in Hermsdorf. Der Schleichweg durch den Kiez ist eine klassische Abkürzung. Vier Ampeln entlang der Hauptverkehrsstraßen machen die Route unattraktiv und stauanfällig. Täglich leiten deshalb Echtzeit-Navigationssysteme den Durchgangsverkehr in das Waldseeviertel. Das führt zu einer großen Verkehrsbelastung im Kiez. Das Wohnviertel wird als Transitstrecke missbraucht. Nach Messungen der Polizei fahren an einem Werktag rund 6400 Kraftfahrzeuge durch das reine Wohngebiet am Waldsee. Insbesondere die kleine Schildower Straße ist vollkommen überlastet. Laut Stadtentwicklungsplan Verkehr des Senats ist sie keine Verbindungs- und keine Ergänzungsstraße. Das faktische Verkehrsaufkommen auf der Straße widerspricht somit ganz klar dem Nutzungsanspruch. Ähnliche Verkehrskonflikte dürfte es in Berlin zigfach geben.

Die Kombination aus zu engen Straßen und übermäßigen Verkehr führt zu Konflikten, Aggressionen und Gefahren. Gerade zu den Stoßzeiten stehen die Verkehrsteilnehmer in Konkurrenz zueinander. Fußgänger, insbesondere Kinder und ältere Mitbürger, können im Berufsverkehr kaum die Straße überqueren. Fahrradfahrer werden gejagt oder geschnitten. Die Rechts-vor-links-Vorfahrtsregel wird reihenweise missachtet. Die Fahrweise der auswärtigen Verkehrsteilnehmer ist weitgehend durch Egoismus und Aggression geprägt. Da wird gedrängelt, gehupt, gefährlich überholt und über Bürgersteige und Absperrungen gefahren. An die Geschwindigkeitsbegrenzung in der Tempo-30-Zone hält sich gemäß der Polizei nahezu niemand. Es wird notorisch und hemmungslos gerast. Kurzum, im Kiez ist die Hölle los. Proteste gegen den Durchgangsverkehr gibt es seit mehr als zwanzig Jahren; seit fünf Jahren ist die Bürgerinitiative für mehr Verkehrsberuhigung aktiv. Sie setzt sich aus Anwohnern in Berlin-Hermsdorf und Glienicke/Nordbahn zusammen. Was wurde nicht schon alles seit den neunziger Jahren vergeblich durchgeführt: Ertüchtigung der Knotenpunkte auf der Bundesstraße B96, Anschaffung von Kiezbussen, Tempo-30-Zone, Durchfahrverbot für LKW, Piktogramme auf den Straßen, Poller auf Bürgersteigen sowie Fahrbahnschwellen und Verkehrseinengungen. Es hat alles nichts gebracht – im Gegenteil: Im Laufe der Zeit nahm der Durchgangsverkehr immer mehr zu!

Leider gab es kürzlich einen schweren Motorradunfall am Waldsee, der vermutlich auf Verkehrsanarchie zurückzuführen ist. Man fragt sich, wie viele Menschen einen Verkehrsunfall erleiden müssen, bis sich etwas an der unsäglichen Verkehrssituation ändert. Jedes weitere Zaudern und Zögern der politisch Verantwortlichen stellt für die betroffenen Anwohner ein Verbrechen dar. Im Oktober 2018 hat die Bürgerinitiative innerhalb von drei Wochen über 600 Unterschriften gesammelt, damit am Ortsschild Poller aufgestellt werden, die die Durchfahrt von motorisierten Kraftfahrzeugen verhindern. Das Aufstellen von Pollern an diesem Ort käme dem Errichten einer neuen Mauer gleich, sagen die einen. Die Polemik des Vergleichs von einfachen Pollern zur Verkehrslenkung mit den Todesstreifen und Selbstschussanlagen der Berliner Mauer stellt letztlich eine Verhöhnung der Mauertoten dar, sagen die anderen.

Die betroffenen Anwohner in Ost wie in West wollen endlich ihren Lebensraum zurückhaben. Es ist deshalb das eindringliche Anliegen der Anwohner beiderseits der Landesgrenze, dass die politisch verantwortlichen Personen den Mut aufbringen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die Menschen aus Berlin und Brandenburg 30 Jahre nach dem Mauerfall in Sicherheit, Einheit und Frieden am idyllischen Waldsee begegnen können.

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