Im Dresdener Hygienemuseum herrscht turbulentes Treiben an diesem Mittwochnachmittag vor Ostern - die Ferien nahen. Das Obergeschoss mit der verglasten Wandelhalle füllt sich und bei Kaffee und Kuchen beginnen die ersten Gespräche dieses diskussionsfreudigen Abends. 90 Gäste sind für die Tischrunden gekommen, um an diesem Tag über das Thema "Deutschlands Rolle in Europa" zu diskutieren. An vielen Tischen wird schnell deutlich, dass Europa für viele weit entfernt und im eigenen Alltag wenig greifbar erscheint. Ein Diskutant wird am Ende der Veranstaltung sogar sagen, er hätte selbst in der Schule nichts über Europa gelernt. Aber stimmt das wirklich?
Die Tische sprechen über Frieden und Freiheit, Wohlstand, Spracherwerb und (Schüler- und Studierenden) Austausch in der EU, ebenso über Regeln und Normierungen, die von der EU ausgehen. Auch die Finanz- und Währungskrise Griechenlands ist ein intensiv diskutiertes Thema - welchen Weg soll die EU einschlagen? Für welche Werte stehen wir ein? Die Starken aufnehmen und die Schwächeren wieder hinausstoßen? Ein solcher Diskurs schürt soziale Ängste, schafft ein schwarz-weiß-Bild, das es in dieser Form nie gibt und nährt nationalistische Strömungen, darin sind sich die Teilnehmenden an den verschiedenen Tischen schnell einig. Dass die europäische Vielfalt hinsichtlich Sprache und Kultur Berührungsängste hervorrufen kann, die aktiv abgebaut werden müssen, um ein gegenseitiges Verständnis möglich zu machen, wird ebenso klar gesehen. Das Podium wird später bestärken, dass Europa eine große Errungenschaft ist, die in ihrer Historie von Krieg, Versöhnung und Aussöhnung einzigartig ist. Auch können viele, vermeintlich innenpolitischen Themen heute nicht mehr allein national entschieden werden, weil Themen wie z.B. Datenschutz, Sicherheits- und Flüchtlingspolitik auf europäischer oder internationaler Ebene diskutiert werden müssen. Das gemeinsame Lösen dieser Fragen ist jedoch wichtig, um Frieden, Wachstum und Wohlstand zu erhalten. Diskutiert wurde auch die Frage, weshalb Europa tendenziell techno- und bürokratisch gesehen werde und wenig Emotionen entfache. Eine Erklärung könnte sein, dass in Deutschland das Gefühl zu Europa tendenziell von dem Prozess der inneren Aussöhnung und deutschen Einheit überlagert wird - hierbei werden Emotionen entfacht. Im Unterschied zu anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, kam Europa "Huckepack" zur Deutschen Einheit und war nicht das Ziel der Friedlichen Revolution als Solches. Eine Annäherung an Europa könnte auch über Themen funktionieren, die den Alltag betreffen, diskutiert das Podium später.
Als leistungsfähige Industrienation nimmt Deutschland heute wirtschaftlich eine wichtige Rolle in der EU ein. In den Gesprächen an den Tischen wird deutlich, dass es ein großes Bewusstsein gibt, dass andere Nationen von Deutschland auch politisch mehr Verantwortung und internationales Engagement fordern. In den Gesprächen und später auch auf dem Podium wird hervorgehoben, wie schmal jedoch der Grat zwischen einer gewachsenen Verantwortung und einer zu dominanten Führung ist. Es fällt der Begriff der partnerschaftlichen Führung, die anzustreben sei.
An den Tischen waren die Meinungen unterschiedlich: Deutschland sollte eine Richtung vorgeben und Engagement zeigen, sagten die Einen. Andere wiederum waren nicht sicher, ob Deutschland aufgrund seiner historischen Vergangenheit eine "Führungsrolle" einnehmen sollte. Auf dem Podium fiel später das Wort "praktisch". Es sei bequem, wenn jemand die Führung übernimmt, dann könne man als Nachbarland einfach mitgehen oder sich dem entgegenstellen. Praktisch für andere, aber für uns?
Der Bundesinnenminister bestätigt, dass es eine große Kluft zwischen den äußeren Erwartungen und der inneren Bereitschaft gibt, eine Führungsrolle mitzutragen. Diese Interessen gilt es auszubalancieren. Es bestand jedoch überwiegend Einigkeit, dass für Deutschland eine Politik ohne internationale Verantwortung und Engagement gar nicht mehr möglich ist, aber dass die neue Rolle noch gefunden werden muss.
Das bedeutet, die Realität zu erkennen und sie nach eigenen Wünschen zu formen, fasste der Moderator zusammen und so wurde in einer weiteren Runde an den Tischen diskutiert, was diese Veränderung für die Zukunft bedeutet. Wie möchte Deutschland in Zukunft wahrgenommen werden? Wie möchten wir international auftreten? Welche Hilfe und politische Unterstützung kann das Land leisten? Und wie profitieren wir davon?
Das Podium spricht am Ende der Veranstaltung darüber, dass der Wert der Europäischen Union vielen häufig erst deutlich werde, wenn sie im internationalen Ausland einen Mangel an Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Meinungs- und Reisefreiheit, Frieden und Wohlstand erleben. Die fehlende Wertschätzung der in Europa geschaffenen Werte, ist das Paradox der Europäischen Union. Das Paradox der deutschen Rolle ist, dass das Land als wirtschaftliche Kraft auch politisch eine Vorreiterrolle einnehmen soll, die es noch nicht gefunden hat. In einem Tischgespräch resümiert eine Dame, dass der Weg dann wohl "zwischen den Extremen des 3. Reichs und der internationalen Abschottung im Kalten Krieg" liegen muss. Ein Mitdiskutant lächelt und sagt treffend: "Ich weiß gar nicht, worin das Problem besteht: wir im Osten waren im Ostblock immer führend, das war nie ein Problem. Ihre Sicht ist die einer Westdeutschen, oder?". Die Frau blickt erstaunt.
Ein Tischgespräch, das deutlich macht, wie präsent 25 Jahre nach der Wiedervereinigung einige Unterschiede geblieben sind und sich auf hervorragende Weise ergänzen können.