Die Grenzen des Systemwettstreits
Trotz der strukturellen Defizite der Wirtschaftsreformen hatte sich der wirtschaftliche Strukturwandel seit 1964/65 zunächst positiv auf den Lebensstandard der Bevölkerung ausgewirkt. Durch überdurchschnittliche Wachstumsraten konnte der staatliche Handel mehr industrielle Konsumgüter als in den Vorjahren anbieten. Fernsehapparate, Kühlschränke und Waschmaschinen waren keine unerreichbaren Luxusgüter mehr. Die schrittweise Abschaffung der Samstagsarbeit führte zu Arbeitszeitverkürzungen und mehr Freizeit. Durch steigende Nettogeldeinnahmen konnten sich immer mehr Familien einen neuen PKW der Marke "Trabant" oder "Wartburg" leisten. Der "Trabi" oder auch die "Rennpappe", wie das in der DDR produzierte Auto aufgrund seiner Karosserie aus Kunststoff genannt wurde, avancierte zum Statussymbol. Die sozialistische Mangelwirtschaft und der erzwungene Konsumverzicht schienen der Vergangenheit anzugehören.
Die alltägliche Praxis stand der offiziell verkündeten Überlegenheit des sozialistischen Wirtschaftsmodells allerdings immer spürbarer entgegen. Für hochwertige Konsumgüter mussten nicht nur horrende Preise gezahlt werden. Gleichzeitig blieb das Angebot deutlich hinter der Nachfrage zurück. Für den Kauf eines Autos mussten die Interessenten nach einer Wartezeit von durchschnittlich zehn Jahren fast ein ganzes Jahreseinkommen aufbringen: 8000 DDR-Mark für einen "Trabant" und 15 000 DDR-Mark für einen "Wartburg". Das Ansparen des Geldes wurde vielen durch den Umstand erschwert, dass die Preise für Kleidung und langlebige technische Gebrauchsgüter verglichen mit denen in der Bundesrepublik ungleich höher lagen. Darüber hinaus konnten viele Industriewaren technisch und im Bedienungskomfort mit westlichen Standards nicht Schritt halten. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik und damit der materielle Lebensstandard der Bevölkerung waren auch in den 1960er Jahren permanent höher als in der DDR.
Am Ende der 1960er Jahre häuften sich die ökonomischen Probleme. Im Sommer 1969 konnte die Sowjetunion auf Grund eigener wirtschaftlicher Schwierigkeiten die lebenswichtigen Rohstoffe – Erdöl, Steinkohle, Walzstahl, chemische Ausgangsstoffe – nicht mehr in dem ursprünglich vereinbarten Umfang liefern. Die großen ostdeutschen Stahlwerke liefen daher beträchtlichen Rückständen hinterher. So betrug der Ausfall in der Produktion von Rohstahl im Stahl- und Walzwerk Brandenburg im Dezember 1969 40000 Tonnen bei anhaltend negativer Tendenz. Der Rhythmus wichtiger Industriebetriebe geriet ins Stocken. Davon betroffen waren u.a. der Metallleichtbau, der Waggonbau sowie Verlade- und Transporterzeugnisse. 1970 steckte die DDR in einer wirtschaftlichen Krise, die auch eine politische Destabilisierung befürchten ließ. Während Ulbricht an seinem Kurs "Überholen ohne einzuholen" eisern festhielt, regte sich im Politbüro des ZK der SED Unmut.
Quellentext"Goldene" Sechziger?
[...] Seit 1964/65 begannen sich die Investitionen auszuwirken: Der Handel konnte mehr industrielle Konsumgüter als in den Vorjahren anbieten. [...] Infolge der besseren Angebote waren auch mehr und mehr Haushalte mit technischen Konsumgütern ausgestattet.
Bestand ausgewählter industrieller Konsumgüter
Diese Zunahme ist umso bemerkenswerter, als die Preise für industrielle Konsumgüter im Verhältnis zu den Durchschnittseinkommen erheblich waren: Ein Fernsehgerät kostete 1965 2050 Mark, ein Kühlschrank 1350 Mark und eine Waschmaschine 1350 Mark. Zugleich lag das durchschnittliche Nettoeinkommen der Arbeiter und Angestellten bei 491 Mark. Etwa 40 % des Endverbraucherpreises von Fernsehgeräten und Kühlschränken kamen dem Staatshaushalt zu. Damit sollten die Subventionen der Preise für Grundbedarfsgüter finanziert werden. [...] Der Einzelhandelsumsatz stieg von 1960 bis 1971 jährlich um durchschnittlich knapp 4 %, die Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung dagegen um über 3 %. Damit wurde der Anstieg des Geldüberhangs bei der Bevölkerung lediglich etwas gebremst.
Ein beträchtlicher Teil der Umsatzzuwächse – 1970 nahezu die Hälfte – beruhte jedoch auf gestiegenen Preisen. [...] Die Preise von Industriewaren stiegen zwischen 1962 und 1967 um insgesamt 2,5 % und dann allein im Jahr 1968 um mehr als 3 %. Diese Preissteigerungen setzten sich bis 1970 fort und erfaßten fast alle Gruppen von Industriewaren und teilweise auch Nahrungsmittel. Bis Anfang 1970 verteuerten sich gegenüber 1967 Herrenmäntel beispielsweise um 65 % und Kühlschränke um 10 %. Die höheren Preise hätten den Wirtschaftsverantwortlichen eigentlich gefallen können, wurde so doch der Kaufkraftüberhang reduziert. Weil diese Ent- wicklung aber als verdeckte Inflation und als Wortbruch wahrgenommen wurde, störten sie sich daran.
Der Lebenshaltungskostenindex stieg grob geschätzt von 1960 bis 1971 im Mittel jährlich um 1 %, wobei sich die Inflationsrate nach ihrem Höhepunkt 1962 wohl zunächst verlangsamt und erst wieder zum Ende des Jahrzehnts hin beschleunigt hat. Vom nominalen jährlichen Zuwachs der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung während der 60er Jahre in Höhe von 3 % blieb preisbereinigt nur etwas mehr als 2 %. [...] In der Bundesrepublik nahmen zur gleichen Zeit – je nach Berechnungsgrundlage – die Reallöhne um 5 bis 6 % jährlich zu. Die Entwicklung des Lebensstandards in der DDR blieb so immer weiter hinter dem westdeutschen zurück.
Gleichwohl hatten sich die Verhältnisse gebessert: 1965 und 1967 wurde die oft schon praktizierte Fünf-Tage-Woche schrittweise legalisiert und verallgemeinert. Der Mindestlohn stieg 1967 von 220 auf 300 Mark, das Kindergeld wurde angehoben, die Renten etwas verbessert und 1968 ein freiwilliges Zusatzrentensystem eingeführt. [...] Der höhere Lebensstandard und der mit der Wirtschafts- reform demonstrierte Veränderungswille der SED-Spitze waren wohl Ursachen dafür, daß die 60er Jahre in der DDR eher positiv erinnert wurden. [...]
André Steiner, Von Plan zu Plan, München 2004, S. 156 ff.
Der Sturz Ulbrichts
Im SED-Politbüro hatten sich im Verlauf der 1960er Jahre zwei Lager herausgebildet: Die Befürworter von Reformen um Parteichef Walter Ulbricht wollten das gesellschaftliche System modernisieren und damit attraktiver machen. Die Gegner der Reformen, eine Politbüromehrheit um Erich Honecker, sahen darin ein Risiko, das die gesamte Parteiherrschaft ins Wanken bringen konnte. Seit Anfang des Jahres 1971 arbeiteten sie aktiv und mit Wissen, Duldung und partieller Unterstützung des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew daran, Ulbricht abzulösen.
Von Honecker gezwungen, bat Ulbricht Anfang Mai 1971 schließlich das Zentralkomitee, als das laut Parteistatut zuständige Gremium, ihn aus Altersgründen – was bei einem 77-Jährigen auch öffentlich glaubhaft war – von der Funktion des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees zu entbinden und den damals 58 Jahre alten Honecker zu seinem Nachfolger zu wählen. Das ZK entsprach dieser "Bitte". Ulbricht wurde zum Vorsitzenden der SED gewählt – ein bedeutungsloses Amt, das es laut Statut gar nicht mehr gab – und blieb Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Allerdings verlor der Staatsrat an politischer Bedeutung, indem er einen Teil seiner durch die Verfassung zuerkannten Rechte an die von Willi Stoph geführte Regierung abtreten musste.
Ulbrichts Sturz durch Honecker am 3. Mai 1971 wurde in internen Auseinandersetzungen im SED-Politbüro mit wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen des bisherigen Parteichefs begründet. Tatsächlich ging es Honecker um einen wirtschaftspolitischen Richtungswechsel und die Rückkehr zur Planwirtschaft der 1950er Jahre. Darüber hinaus spielten auch Richtungskämpfe in anderen Politikfeldern eine Rolle, so beispielsweise in der Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen. Gegenüber der seit dem 28. Oktober 1969 in Westdeutschland regierenden sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt hatte Ulbricht einen vorsichtigen Annäherungskurs verfolgt und den DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph zu zwei deutsch-deutschen Gipfeltreffen entsandt. Die Regierungschefs beider deutscher Staaten – Brandt und Stoph – trafen sich am 19. März 1970 in Erfurt und am 21. Mai in Kassel. Ihre Verhandlungen erbrachten zwar keine greifbaren Resultate, doch die ideologischen Dogmatiker im Politbüro sahen die westdeutsche Sozialdemokratie und ihre Repräsentanten noch immer als "Klassenverräter" an, die im Interesse des Monopolkapitals handelten. Honecker plädierte daher entschieden dafür, den deutsch-deutschen Dialog durch Maximalforderungen wie die volle völkerrechtliche Anerkennung der DDR abzublocken und sich gegenüber der Bundesrepublik strikt abzugrenzen.
Dies befürwortete auch der damalige KPdSU-Chef Breschnew. Zwar hatte Ministerpräsident Stoph in Erfurt und Kassel nicht ohne Zustimmung und Direktiven Moskaus verhandelt, das an gesamteuropäischer Entspannung durchaus interessiert war. Doch einen deutschen Sonderweg lehnte die sowjetische Führung kategorisch ab. Deshalb drängte Breschnew während eines Gesprächs mit einer SED-Delegation am 21. August 1970 in Moskau darauf, die Verhandlungen zwischen der DDR und der Bundesrepublik abzubrechen. Das entsprach ganz dem Ansinnen Honeckers, der sich durch die Haltung des sowjetischen Generalsekretärs bestätigt sah.
QuellentextDie Einsamkeit an der Spitze
Es ist merkwürdig genug. Die sechziger Jahre waren recht eigentlich Ulbrichts Jahrzehnt. Trotz Jugendrevolte, Generationswechsel und dem vielbeschworenen Aufbruch der neuen Generation wurde das Land von einem alten Mann regiert. Er war der ideale Vertreter jener verknöcherten, provinziellen, beschränkten Funktionäre. [...]
Trotz alledem ist es nicht zu bestreiten, dass es Ulbricht war, der seit 1962 eine größere wirtschaftliche Beweglichkeit des Systems einleitete. Er setzte diese Neuerungen durch gegen Leute, die teilweise wesentlich jünger waren, führte dauernd die Zukunft im Munde, pries die Neuerungen der Wissenschaft und Technik und feierte die Jugend als die Hausherren von morgen.
Er diskutierte mit Werktätigen und referierte gerne vor Wissenschaftlern aller Fachrichtungen. Natürlich wusste Genosse Ulbricht über alle Belange gründlich Bescheid, korrigierte die Werke von Historikern mit einem dicken, weichen Bleistift, schrieb seine Randbemerkungen an die Berichte über Theaterinszenierungen, Filme und Romane.
Die Volksmeinung quittierte diese Bemühungen ausschließlich mit Hohn und Spott. Beliebt war Ulbricht auch in dieser Phase keineswegs. Und doch gewöhnte man sich irgendwie an den alten Mann, der dem Sandmann aus dem Fernsehen so ähnlich sah.
[...] Gleichzeitig wurde es einsam um den ersten Mann des Staates. Die Bilder zeigen ihn mit fremden Staatsmännern oder Persönlichkeiten aus Kunst und Wissenschaft, aber kaum noch mit seinen Genossen aus der Führungsmannschaft des Politbüros.
Ein Bild aus den 1960er Jahren zeigt ihn beim Mittagsessen mit einer Arbeiterfamilie. So sehen sich Diktatoren gerne, als Sonntagsbesuch in einer einfachen Familie. [...] Und doch überdeckt das Bild nur die Tatsache, dass es zwischen dem Führer der Arbeiterklasse und den wirklichen Arbeitern der DDR keine Gemeinsamkeit mehr gab. [...] Ob Ulbricht diese Tragik empfunden hat, wird niemand sagen können. Seine schriftliche Hinterlassenschaft, die im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde einsehbar ist, enthält kaum persönliche Zeugnisse. Der Umgang der führenden Genossen untereinander schien mehr als unterkühlt gewesen zu sein. Die Schreiben im Nachlass Ulbrichts sind fast ausschließlich rein amtlicher Natur, im besten Fall enthalten sie einen Gruß an die werte Gattin oder beste Wünsche für die Gesundheit. Ulbricht soll ein Aktenmensch gewesen sein, und in der Tat gibt es unendliche anuskripte im Archiv, die der Staatsratsvorsitzende teils selbst verfasst, teils redigiert hat. Doch menschliche Züge treten hier kaum hervor.
[...] Merkwürdig ist die Geschichte des Erinnerns an die Ulbricht-Zeit. Als Ulbricht am 3. Mai 1971 sein Amt als erster Sekretär der SED an Erich Honecker abtreten musste, hielt sich das allgemeine Bedauern in deutlichen Grenzen. Der neue Mann profilierte sich mit durchaus volkstümlichen Maßnahmen. [...]
Ulbricht mit seinen zehn Geboten der sozialistischen Moral, seinem Bitterfelder Weg und der sozialistischen Menschengemeinschaft wirkte bald schon wie ein ferner Dogmatismus.
Ulbricht starb am 1. August 1973, als die Jugend der Welt auf den Straßen der Hauptstadt der DDR die Weltfestspiele feierte. Die DDR hatte den Zenit ihrer Geschichte erreicht, war endlich international als Staat anerkannt, wirtschaftlich nicht ohne Erfolge und von einem Teil ihrer Bürger als eine Art Wohlfahrtsstaat akzeptiert.
In diesen Jahren war wenig von Ulbricht die Rede. Sein Bild und sein Name verschwanden fast völlig aus der Parteigeschichte, und niemand vermisste ihn. Erst in den späten achtziger Jahren, in der Phase offenkundiger Agonie, entdeckten manche Parteimitglieder die Ulbricht-Zeit neu. Im Vergleich zu dem ideenlosen Fortwursteln angesichts der herannahenden Katastrophe erschienen die sechziger Jahre als eine Zeit des Aufbruchs zu neuen Ufern. [...]
Stefan Wolle, Aufbruch nach Utopia, Berlin 2011, S. 395ff.
aus: Informationen zur politischen Bildung,3/2011, Geschichte der DDR.