Einleitung
Auf einer Dienstbesprechung der Leitungsebene des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS)
Dass Mielke auch noch rund 30 Stunden vor Beginn der Grenzschließung in Berlin nicht offen vor den führenden MfS-Kadern sprach, gehörte in das Konzept der absoluten Geheimhaltung der Aktion. Nicht einmal die gesamte Führungsriege der SED war über das Vorhaben zu diesem Zeitpunkt informiert. Neben Walter Ulbricht, der die Federführung nicht aus der Hand gab, waren nur Erich Mielke, Innenminister Karl Maron, Verteidigungsminister Heinz Hoffmann, Verkehrsminister Erwin Kramer, Willi Stoph sowie Paul Verner (1. Parteisekretär Berlin) und Alois Pisnik (1. Parteisekretär Magdeburg) involviert.
Über die Rolle der Staatsicherheit bei der Durchführung der Aktion "Rose" und ihre Einschätzung der Lage in den folgenden Tagen und Wochen wusste man bislang wenig. Die bisherige Forschung stützte sich überwiegend auf den gut dokumentierten SED-internen Informationsstrang, in dem sich vor allem die Bevölkerungsstimmung abbildet.
Über die Aktion "Rose" und die "Reaktion auf die Maßnahmen zur Sicherung der DDR" wurden bis zum 16. August zwölf Berichte verfasst, davon allein fünf noch am 13. und vier am 14. August (s. die Abbildung der PDF-Version). Von da an wurde (bis zum 3. September) zu diesem Thema nur noch einmal täglich berichtet. Wichtigste externe Adressaten der Berichte waren - neben sowjetischen Verbindungsoffizieren - der Zentrale Einsatzstab, der unter der Leitung von Honecker stand und für die Umsetzung der Abriegelungsmaßnahmen zuständig war. Ulbricht steht nur selten im Verteiler, ihm dürften die Berichte aber von Honecker oder Mielke, dem oftmals mehrere Exemplare zur Verfügung standen, zugänglich gemacht worden sein. MfS-intern gingen die Berichte - außer an Mielke - in der Regel an seinen Stellvertreter Bruno Beater, an einen internen Einsatzstab unter der Leitung des späteren Ministerstellvertreters Alfred Scholz und häufig auch an die Auswertungsabteilung VII des Stasi-Auslandsspionagebereichs (HV A) oder später direkt an ihren Chef, Markus Wolf.
13. August 1961
"Nach vorliegenden Meldungen wurden die bewaffneten Kräfte entsprechend dem Zeitplan zum Einsatz gebracht. Sie befinden sich im Marsch zu den laut Plan vorgesehenen Einsatzorten. Bisher keine Vorkommnisse. Stimmung normal." Mit diesem Satz beginnt der erste Bericht des MfS am frühen Morgen des 13. August 1961. Bei der Aktion hielt sich die Staatssicherheit - entsprechend ihren Aufgaben als Kontroll- und Sicherungsorgan - zumeist im Hintergrund. Wie die Dokumente belegen, musste sie aber auch direkt in das Geschehen eingreifen, um Versäumnisse anderer Stellen auszugleichen.
Eine ernste Panne gleich in der Nacht der Grenzschließung machte ein direktes Eingreifen des MfS erforderlich: "Der Gesamtverlauf der Aktion ist bisher zufriedenstellend, bis auf den Einsatz der Transportpolizei, die wegen falscher Einsatzzeit (X+4) ausfiel",
Die Staatssicherheit hob jedoch nicht nur ihre Fähigkeit hervor, Versäumnisse anderer Sicherheitsorgane zu kompensieren, sondern empfahl sich auch als übergeordnete Kontrollinstanz, die in jeder Situation den Überblick behielt und die richtigen Entscheidungen traf. So wusste sie zu berichten: "Gegen 3.00 Uhr kam es im Raum Mahlow auf Westberliner Boden zu einer Konzentration von Bürgern aus der DDR, die sich in Westberlin aufgehalten hatten und zunächst von der VP [Volkspolizei] an der Rückkehr in die DDR gehindert wurden. Lage wurde durch entsprechende Anweisungen des MfS, diese Personen sofort in die DDR einzulassen, normalisiert."
Ein besonders heikler Punkt im Vollzug der Aktion "Rose" war der Einsatz der sogenannten Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Operativ spielten die Feierabendkämpfer der SED zwar keine entscheidende Rolle, dafür war aber ihre propagandistische Funktion von eminenter Bedeutung, sollten sie doch die Beteiligung der Bevölkerung an der Sicherung der DDR durch den "antifaschistischen Schutzwall" symbolisieren. Bereits am 13. August vermerkte das MfS jedoch "Mängel in der Benachrichtigung der Kampfgruppenmitglieder".
Charakteristisch für viele Berichte des MfS zum Mauerbau ist die Kombination von DDR-Inlandsinformationen mit Meldungen aus dem Westen, die zumeist von der HV A stammten. Das ist insofern eine Besonderheit, als in der gewohnten MfS-Berichterstattung Inlands- und Auslandsinformationen in aller Regel scharf getrennt waren. Die Berichte der HV A wurden von der ZIG an die politische Führung nur weitergereicht. In der besonderen sicherheitspolitischen Situation nach der Grenzsperrung, als die innenpolitische Situation und die Reaktion des Westens nicht zu trennen waren, ging das MfS von dieser Praxis ab. Die meisten Berichte weisen eine thematische Dreiteilung auf: westliche Reaktionen, gegnerische Tätigkeit (unter dieser Rubrik sind Meldungen aus dem Westen und dem Osten gemischt) sowie Bevölkerungsstimmung in der DDR.
Reaktionen des Westens
Sehr zeitnah hat das MfS über die interne Meinungsbildung sowohl bei den Westalliierten als auch in der West-Berliner und Bonner Politik informiert, was angesichts der weltpolitisch heiklen Situation nicht nur für die DDR-Führung, sondern auch für die Sowjets von eminenter Bedeutung war. In den Berichten werden zum einen die offiziellen Verlautbarungen westdeutscher, britischer, amerikanischer oder französischer Politiker sowie ein Teil der Berichterstattung der Westmedien zusammengefasst. Zum anderen werden Informationen aus wie es heißt "internen" oder "verlässlichen" Quellen, also von Agenten beschafftes Material, präsentiert. Nach einer sehr kurzen Phase der Unsicherheit wusste die Staatssicherheit schon nach wenigen Tagen, dass massivere westliche Gegenmaßnahmen nicht zu erwarten waren.
Am 13. August schrieb die Stasi noch: "In der ersten offiziellen Reaktion führender politischer Kreise Bonns, Westberlins und der Westmächte wird von schärfsten Protesten gegen die Maßnahmen der DDR und von sogenannten Gegenmaßnahmen gesprochen, jedoch zugleich vor 'Unbesonnenheit' gewarnt."
Im Laufe des 14. August wurde die Berichterstattung entspannter. Jetzt stellte das MfS die Bereitschaft der Westmächte in Frage, Forderungen der Bundesregierung und des Berliner Senats nach entschlossenen Gegenmaßnahmen und Rückgängigmachung der Grenzschließung nachzukommen. Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes hätten die Auffassung geäußert, "dass man sich mit den gegebenen Tatsachen abfinden müsse. Einen Krieg würden die Westmächte auf Grund der Maßnahmen der DDR keinesfalls riskieren."
Bald verdichteten sich in den Berichten der Staatssicherheit die Hinweise, dass mit keiner für die DDR in irgendeiner Form bedrohlichen Situation zu rechnen sei. Dass das MfS "Entwarnung" geben konnte, lag nicht zuletzt an Top-Meldungen aus "führenden Westberliner SPD-Kreisen". Bereits am 15. August wusste die Staatssicherheit zu berichten, "Brandt habe sich mit den westlichen Kommandanten darüber geeinigt, dass alles unternommen werden soll, um von Westberlin aus keinerlei Anlass für weitere Komplikationen zu geben"
Reaktionen in der DDR
Ulbricht hatte den Beginn der Aktion "Rose" nicht zufällig auf die Nacht von einem Samstag auf Sonntag gelegt. Als die Kunde von der Grenzschließung die Runde machte, waren die meisten "Werktätigen" zuhause. Ein von den Betriebsbelegschaften ausgehender Aufruhr wie am 17. Juni 1953 war an diesem Tag auszuschließen. Noch saß das "Juni-Trauma" beim SED-Chef tief. Laut Erinnerungen des sowjetischen Diplomaten Julij A. Kwizinskij hatte er einige Wochen zuvor gegenüber Botschafter Michail G. Perwuchin geäußert, "man müsse mit Massenaufläufen, offenen Versuchen des Ungehorsams, Schlägereien und vielleicht sogar mit Schießereien"
Am Morgen des 13. August meldete das MfS zunächst: "Nach der bisherigen Übersicht ist die Lage an den Grenzübergängen als ruhig einzuschätzen. Es ist sogar auffällig, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch keine oder kaum neugierige Passanten sich von den eingeleiteten Maßnahmen überzeugten."
Einen besonderen Unruheherd bildeten die sogenannten Grenzgänger - Ost-Berliner, die bisher in West-Berlin arbeiteten und die jetzt nicht mehr zu ihren Arbeitstellen gelangen konnten.
Im letzten noch am 13. August verfassten Bericht stellte die Staatssicherheit fest, "die Maßnahmen der Regierung" würden "in allen Bevölkerungskreisen lebhaft diskutiert", und versuchte, die Stimmung zu bilanzieren. Es sei zwar nicht möglich, "das Verhältnis zwischen positiven und negativen Stimmen umfassend einzuschätzen", doch "aufgrund der bisher vorliegenden Informationen" würden "die positiven Stellungnahmen weit überwiegen".
Doch ungeachtet dieses obligatorischen, diktaturimmanenten Selbstbetrugs nehmen die "negativen" Äußerungen in der MfS-Berichterstattung einen deutlich breiteren Raum ein. An erster Stelle stehen "Vergleiche mit der Situation am 17. Juni 1953", die in Berlin etwa in "Ansammlungen" an S- und U-Bahnhöfen und an "mehreren Grenzübergängen" angestellt würden.
Wie stark die Befürchtungen waren, dass es zu Streiks kommen könnte, zeigt die Berichterstattung des 14. August, bei der vor allem die Ost-Berliner Großbetriebe unter verstärkter Beobachtung standen.
Das MfS kam schon am Tag nach der Grenzsperrung nicht umhin zu bilanzieren: "Allgemein ist festzustellen, dass bei negativen Erscheinungen in der DDR und im demokratischen Berlin die Jugendlichen eine besondere Rolle spielen."
Großes Kopfzerbrechen bereitete den MfS-Verantwortlichen auch die Tatsache, dass die Flucht mithilfe von falschen oder gefälschten West-Berliner Personalausweisen zunächst offenbar nicht besonders schwierig war.
Schlussbemerkungen
Die Berichte des MfS an die Parteiführung während des Mauerbaus und danach verdeutlichen, dass die DDR-Führung nicht nur umfassend und schnell über die Reaktionen im eigenen Land, sondern auch über offizielle und interne Stimmen in westalliierten Stellen, der Bundesregierung, im Berliner Senat und bei West-Berliner Parteien informiert war. Letzteres versetzte die DDR-Machthaber in die Lage, abzuschätzen, dass sie ihre Pläne zur weiteren Grenzabdichtung ohne größere Risiken verfolgen konnte.
Auch die Rolle des MfS während und nach dem Mauerbau nimmt schärfere Konturen an: Der Staatssicherheit gelang es, Versäumnisse und Mängel anderer Organe zu identifizieren und zu kompensieren. Offenbar sah die MfS-Führung, namentlich Erich Mielke, den Mauerbau als Chance, die Stellung der Staatssicherheit im Herrschaftsgefüge des SED-Staates weiter auszubauen. Nicht zuletzt durch ihre spezifischen Mittel der Informationsbeschaffung besaß die Geheimpolizei tatsächlich eine Art Gesamtüberblick. Sie benannte Entwicklungen, die im Hinblick auf die Herrschaftssicherung und die Stabilität der DDR Probleme aufwarfen, und versuchte dies - wie sich bald zeigen sollte - teilweise in eigene Kompetenzerweiterungen und eine personelle Expansion umzumünzen.
aus: Aus Politik und Zeitgeschichte, 31-34/2011, 50 Jahre Mauerbau