1. Wie haben Sie den Herbst 1989 erlebt?
Zuerst war man etwas beunruhigt, weil man nicht wusste: Was passiert eigentlich? In Lokalen wurden Gespräche geführt, die man sonst nicht kannte. Nun muss ich dazu sagen: Ich wohnte in einer Gegend, die von Stasi-Leuten nur so wimmelte. Das war Berlin-Hohenschönhausen. Ich bin da 1988 erst hin gezogen, und da war man nun besonders vorsichtig. Man hatte auch mal Besuch gehabt. Da stellten sich zwei Herren vor, nannten ihren Vornamen und wollten mit uns mal diskutieren über Sachen wie wir uns das so vorstellen, oder was so los ist. Vielleicht war es das große Glück, dass ich zur Arbeit musste und meine Frau mich begleitet hatte. Ich habe nie Angst gehabt vor irgendwelchen Repressalien oder sowas. Aber vielleicht war es auch zu dem Zeitpunkt gut gewesen, dass wir weg mussten, und wir haben uns da nicht weiter drauf eingelassen. Die haben sich dann höflich verabschiedet und so weiter. Im Nachhinein wurde uns erst mal klar, was das so für Leute gewesen sein könnten, denn ansonsten stellt man sich ja mit Nachnamen vor und nicht mit dem Vornamen. Und da wussten wir: Aha, die kamen von der anderen Fakultät, die Leute. Na ja, und dann hörte man allmählich über den RIAS, was sich in Leipzig abspielte und so weiter. Da konnte man an und für sich beinahe mit Sicherheit annehmen: Irgendwann klappt es jetzt, dass sie fällt. Ja, das waren so die Vorerlebnisse, so ahnungsmäßig beziehungsweise, dass man nachher letzten Endes schon fast sicher annahm, dass irgendwas Richtig passiert.
2. Was hat sich nach dem Ende der DDR für Sie verändert?
Zunächst war man voller Hoffnung, weil man uns ja klar gemacht hatte, in was für einem Staat wir gelebt hatten. Das heißt, das wussten wir an und für sich schon. Und nun mit der Maßgabe, jetzt wird alles besser. Bloß, als sie kurze Zeit danach unsere Lebensmittel alle rausschmissen. Ich arbeitete beim Handelstransport, und wir mussten Fahrzeuge zur Verfügung stellen, um die Lebensmittel aus den Lebensmittelhallen abzutransportieren und es wurde vollgepackt mit Westwaren. Ja, das war das erste Erlebnis. Das zweite war dann kurze Zeit danach, als unser Betrieb aufgelöst und praktisch abgewickelt wurde. Warum? Weiß man bis heute noch nicht. Jedenfalls waren wir wahrscheinlich eine Konkurrenz gewesen und die musste beseitigt werden. Anders kann man sich das nicht erklären. So ist das ja nicht nur mit uns alleine gegangen, da sind ja auch die anderen Betriebe. Und da kam an und für sich das große Kuriosum. Hülsmann [vom Sender RIAS; Anm. d. Red.] sagte: Also gut, jetzt haben wir die Freiheit, jetzt haben wir die Demokratie. Aber letzten Endes: Was haben wir jetzt? Und das gab uns und mir persönlich zu denken.
3. Wie haben Sie sich 1989 die Zukunft vorgestellt?
Also, dass ich auf alle Fälle arbeiten kann, meine Arbeit beibehalte. Ich bin vom Prinzip her gerne arbeiten gegangen. Ich bin natürlich nicht so vermessen, dass mir jeder Tag gleich gewesen ist. Manchmal konnte man den Tag auch irgendwie in den Mond schießen. Aber ansonsten bin ich gerne arbeiten gegangen und wollte an und für sich bis zu meinem Rentenalter da meine Arbeit verbringen, und dann einen schönen Ruhestand genießen. Weit gefehlt!
4. Welche Erinnerung an die DDR ist für Sie die wichtigste?
Grundsätzlich das soziale Wesen. Es gab keine Arbeitslosen. Das Gesundheitswesen war auf Zack gewesen. Die Frauen hatten keine Probleme mit ihren Kindern, wegen den Kindergärten und so weiter. Also, praktisch rundum das soziale Netz. Dann auch das Schulwesen, das sich völlig änderte. Die Unterteilung in unterschiedlichen Ländern, dass jedes Land sein eigenes Schulwesen hatte, das kannten wir nicht. Wir konnten von der Ostsee bis hoch ins Erzgebirge fahren, überall war die gleiche Schule. Für die Kinder sehr angenehm, falls mal ein Umzug war. Das ist alles weg. Und das waren an und für sich sehr gute Sachen.
5. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass endlich so gehandelt wird, dass wir alle gleichberechtigt sind. Gleichberechtigt: steuermäßig, arbeitsmäßig und entgeltmäßig. Die Einigung Europas ist eine schöne Sache. Aber dass in Deutschland nicht mal vorher die Einigkeit gemacht worden ist, das ist an und für sich unbegreiflich. Denn wir sind zwar ein Land, aber doch sehr unterschiedlich.
Juni 2004