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1989 stand das Land still Holger Uske

/ 9 Minuten zu lesen

Holger Uske erinnert sich ungern an das Land, in dem er aufwuchs, seinen Zwang und seiner ideologischen Einsilbigkeit. An Deutschland appelliert er: Gleichgültig, wie man die Einheit im Nachhinein bewertet: "Nun haben wir sie und man sollte sie nutzen."

1. Wie haben Sie den Herbst 1989 erlebt?
Den "Tag der Wende" gibt es nicht, aus meiner Sicht. Das ist ein Prozess gewesen, der mit der schleichenden Erosion der DDR zusammen hängt. Ich habe bis 1990 im Elektrogerätewerk hier in Suhl gearbeitet, einst Europas größter Küchengerätekonzern. (Das wusste nur niemand, weil die Geräte unter Privileg, oder was weiß ich, sehr viel im Westen verkauft wurden). Dort bekamen wir sehr genau mit, wie die Wirtschaftslage ist, und wir haben schon manchmal im Betrieb darüber nachgedacht: Na, wie lange wird es noch gehen? Man merkte schon, dass die DDR wirtschaftlich sehr stark auf Talfahrt war: Material kam nicht mehr, Produktionseinsätze mehrten sich. (...)

Der Tag der Wende, das kann ich Ihnen gar nicht erzählen. Weil es einfach irre ist. Vorangegangen war – heute weiß man das ja nicht mehr – dass eine Menge Leute immer über die Grenze wollten und dann über die Tschechei und überall in den Westen gingen, und die Länder auch dieser Sache nicht mehr Herr wurden. Und dann kam diese Pressekonferenz. Das müsste der 8. November gewesen sein. Ich war in Berlin, in diesem Elektrogerätewerk. Wir hatten dort überall so Kombinatsbetriebe. Wir hatten da so eine Kaffeemaschinenbude. Ich habe dort bei einem Freund übernachtet. Wir haben diese Pressekonferenz gesehen und ich habe nicht geschnallt, dass ich jetzt in den Westen könnte. Ich habe es nicht geschnallt! Ich habe das für mich so verstanden, dass jetzt all die, die dauernd raus wollen aus diesem Land, praktisch nicht mehr über die Tschechei müssen, sondern direkt fahren können. Das fand ich so okay. Ich wollte ja nicht raus. Ich habe gesagt: Sollen die doch raus gehen, die dieses Land verheeren. Ich bin also früh nach Suhl zurückgefahren, von Berlin, und habe mich gewundert, warum die Bahnhöfe so leer waren, in Berlin. Ja, klar, die sahen alle Westberlin! Und da kam ich hin, und dann erzählten die ersten: Ich fahr' heut' Nacht in den Westen! Alle sagten: Du spinnst. Einer ist mit dem Bus rüber gefahren. Das sprach sich herum, wie ein Lauffeuer. Und dann haben wir uns, Sonnabend glaube ich, angestellt. Ich hatte gedacht: Och, fährste irgendwann. Da kamen also Leute und sagten: Das müssen wir probieren, wir müssen das machen.. Genau, der 9. war ein Freitag, und Sonnabend haben wir uns angestellt. So glücklich haben wir nie in einer Schlange gestanden, haben wir gesagt. Da gab es einen Stempel in den Personalausweis der DDR, und dann sind wir zur Staatsbank getrabt. Wir haben uns noch mal angestellt, in eine Riesenschlange, und haben 15 Mark getauscht. Davon habe ich noch ein Foto. Und dann sind wir, an dem Sonntag, das müsste der 11. November gewesen sein, mit dem Trabant rüber gefahren, zu Freunden. Und da standen die Leute am Straßenrand und winkten und warfen Bananen. Wir sind dann gar nicht bis Coburg gefahren. Wie sind bis Medard gefahren, das ist ein kleiner Ort vor Coburg. Und da war echt ein wahres Volksfest im Gange. Die ganzen DDR-Leute kamen da. Bänke wurden raus geräumt, Kaffee gekocht, einige hatten Kuchen angeschlepptt. Die Sparkasse war geöffnet, damit wir unser Begrüßungsgeld kriegen konnten. Und sogar in den Läden – die Bananen waren schon ausverkauft, weil natürlich alle dahin kamen. Das war einfach unglaublich. Und man konnte ein paar Freunde besuchen, die ausgereist waren. Das haben wir dann gleich gemacht. Und ich habe im Januar '90 meine erste Lesung gemacht, im Nürnberger Raum..

2. Was hat sich nach dem Ende der DDR für Sie verändert?
Alles! In meinem Freundeskreis gibt es eigentlich niemanden, der noch in seinem Beruf oder an seiner früheren Arbeitsstelle arbeitet. Die Umbrüche in kurzer Zeit waren schon gewaltig. Für mich, das hat sich am Ende so ergeben, ich habe geschrieben. Vor allen Dingen Gedichte und sowas. Ich war Anfang '90 dann soweit, dass ich mit meinem Arbeitgeber hier, also dem Elektrogerätewerk, vereinbart hatte, nur noch vier Tage zu arbeiten, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben. Und dann kam im März ein alter Kumpel von mir und sagte: Ich mach' jetzt 'ne Wochenzeitung in Schmalkalden. Willst du nicht bei mir anfangen, als Redakteur? Ich habe dann einfach gerechnet: Jetzt hast du einen Tag pro Woche Zeit, in der Wochenzeitung, dann haste zwei Tage für dich. Das machst du. Im Betrieb, da haben die mich alle bedauert: Sind Sie sicher? Und im April '90 habe ich in Schmalkalden bei der Redaktion "Offenheit", wie die Zeitung damals hieß, dann angefangen. Da war ich dann von 0 auf 100 Redakteur. Das war damals einfach so. Klar, wir waren zusammen im Schriftstellerverband gewesen, er war Kandidat, ich war nur Gasthörer. Aber man kannte sich. Man wusste, man kann schreiben. Und es ging ja nur darum, frei schreiben zu können. Es war eigentlich ein zähes Geschäft. Keiner wollte die Zeitung kaufen, und er hatte sich mit seinem Partner aus Hessen überworfen. Also, es war prima, ging aber nicht lange, und dann war ich irgendwann im Tageszeitungsgeschäft. (...) Das hat sich also geändert, beruflich. Für alle, auch für meine Frau. Die hat auch was ganz anderes macht.

Für die Kinder, die haben wir, denke ich, relativ problemlos rüber gekriegt, weil, wir haben ja zu Hause natürlich immer über die Dinge gesprochen. Ich kann mich genau erinnern: Mein Großer kam zu DDR-Zeiten mal nach Hause und da sprachen wir über Watzlav Havel. Und ich habe das natürlich auch offen angesprochen und habe gesagt: Ja, das ist ein Bürgerrechtler. Und, das ist klar, die stoßen einfach an, weil, da wurde in der Schule nicht drüber gesprochen, da wollten sie das nur wissen.

3. Wie haben Sie sich 1989 die Zukunft vorgestellt?
Ich habe Anfang '89 ein Gedicht geschrieben: Zeitbild 1989. Das habe ich dann später, weil die Zeit so schnell war, ergänzt: Zeitbild. Januar 1989. Da ging es darum, dass eigentlich alles das Selbe geblieben ist. Die selben Gesichter, die selben Autos und am Ende die – etwas sarkastisch – gute alte Zeit. Ich hatte den Eindruck, dass das sehr festgefahren war und wir waren ja in diesem doch strengen Dualismus aufgewachsen: Entweder, oder. Und die haben nie gesehen, dass es überhaupt eine friedliche Möglichkeit gibt, oder haben nicht gesehen, dass das System einfach mal so – im Prinzip ist es ja implodiert – so einfach zusammenrutscht.

Für mich waren die schlimmsten Zeiten 84/85. Da habe ich manchmal an Orwell (Anm. d. Red.: George Orwell, "1984", Utopie) gedacht. '84 war das schlimmste Jahr, da ging überhaupt nichts, da scheiterte alles. Die Nachrüstung lief und es war alles so starr. Dann war ja Gorbatschow schon wieder, da kam er dann irgendwann. Das war ja so ein Lichtschimmer am Horizont, weil, da waren ja die in der DDR die, die verharrten. Da kamen diese Leute, die schon so alt waren, dass sie überhaupt nicht lange in Russland am Ruder waren.

Und '89 war alles irgendwo – das Land stand still. Hatte ich ja eben schon gesagt: im Sommer. Auf jeden Fall war Anfang '89 dieses Ende '89 nicht zu sehen. Und es war Ende 89 nicht zu sehen, dass wir in einem weiteren Jahr vereinigt sein werden. Das war nicht zu sehen. Ich weiß, wir haben noch – ich denke, das war Januar oder Februar '90 – ich war noch in meinem Betrieb, da tauchte zum ersten Mal überhaupt der Begriff "Konföderation Deutscher Staaten" auf. Da haben wir gedacht: Das kann ja gar nicht sein, Überlegt doch mal, was das bedeuten würde! Und dann war da eine solche Dynamik drin, es war einfach unglaublich. Es war einfach eine unglaubliche Dynamik und für mich war es vollkommen folgerichtig, dass nach den ersten freien Wahlen, am 18. März '90, dass das natürlich – was sollen zwei deutsche Staaten eigentlich? Das war für mich nur folgerichtig. Dass vielleicht dann auch der Westen noch zu sehr der Propaganda, sag ich mal, der DDR, zusammen mit den zehn stärksten Industrienationen der Welt, geglaubt hat, ist vielleicht eine ganz andere Kiste. Das hat man sich nicht vorstellen können, wie marode hier alles war.

4. Welche Erinnerung an die DDR ist für Sie die Wichtigste?
Ich bin in dem Land groß geworden. Und ich habe es geglaubt. Ich bin betrogen worden. Ich bin belogen worden. Vielleicht bin ich ja auch so ein bißchen ein Mensch, der die Dinge gerne erst mal für pur nimmt. Ich habe mal ein Gedicht geschrieben: 'Grenze viel später': "Ich durfte schon Zukunft leben", Ende des Gedichts. Ich wusste nicht, dass der Stacheldraht mir galt. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass wir sozusagen schon die kapitalistische Gesellschaftsordnung überwunden haben und in der nächst höheren leben, weil, es geht ja immer höher, und wir sind ja schon ein Sozialismus, während der arme Westen ja noch im Kapitalismus dahin darben muss. Deswegen: "Ich durfte schon Zukunft leben". Es lebt sich ja gut, in der Zukunft, oder mit diesem Begriff. Den bringe ich immer gerne, weil, das ist einfach so irre: "Sieger der Geschichte". Wir waren Sieger der Geschichte. Als ob es in der Geschichte Sieger gäbe! Das ist einfach purer Unsinn. Aber eIne ganze Fernsehsendung hieß so. Und so sind wir aufgewachsen. Das ist meine stärkste Erinnerung an die DDR, dass eigentlich alles unter diesen ideologischen Prämissen gesehen wurde.(...)

Ich habe fast 10 Jahre gebraucht, um das, sozusagen auch für mich, so richtig, mit allem Wissen, was man braucht, zu überwinden, weil, klar, man hatte erst hinterher das Gefühl: Du bist betrogen worden. Die haben dir irgendwelchen Scheiß erzählt. Aber ich glaube, ich kann jetzt langsam relativ gelassen damit umgehen.

Eines möchte ich gerne noch sagen, weil es wesentlich dazu beigetragen hat, dass man überhaupt Abstand zu dem System bekam: Das war bei mir die Musik. Ich bin ja Jahrgang '55 und mit den Beatles groß geworden. Die ersten Beatles-Platten wurden ja verkauft. Ich kann mich daran erinnern, diese Platten, wo die Baetlesköpfe aus dem Kinderwagen gucken, so diese ganz frühen. Und plötzlich ging das alles nicht, weil so eine Eigendynamik entstand und da war diese Musik plötzlich verboten. Und ich habe natürlich als 11/12-Jähriger überhaupt nicht verstanden, wieso diese Musik verboten wurde. Warum? Über die Kultur, sozusagen, ist bei mir so ein richtiger Riss mit dem sozialistisch-kommunistischen System passiert. Die russische Musik sollte uns bewahren. Die fand ich immer ziemlich ätzend. Und das, was uns gefallen hat, war verboten. Das war vollkommen unklar, warum und weshalb. Und das war der Stachel, und der wuchs dann, der wucherte. Über den Rest brauchen wir nicht zu reden.

5. Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass ehemalige DDR-Bürger und ehemalige Bundesbürger sich viel mehr ihre privaten Geschichten erzählen. Weil genau die privaten Geschichten die Dinge sind, die die Prozesse verständlich machen und die die Prozesse durchsichtig machen. Wir haben inzwischen etliche Freunde im Westen, im Rheinland und auch in Bayern. Und ich mache zum Beispiel auch immer mal Vorträge hier. Da bringt einer busweise Leute aus dem Emsland ins schöne Thüringen. Da erzähle ich immer so ein bißchen was von Suhl. Da sind wir immer ganz schnell bei: Wie war's denn früher bei euch? Und da muss man einfach immer Geschichten erzählen: Wie hat man hier gelebt, warum ging etwas und warum ging etwas nicht. Und wie war das bei euch? Ja, und wenn man die Geschichten nicht hat, kann man sich auch nicht verstehen. Ich verstehe jetzt zum Beispiel viel mehr auch den Frust von älteren Leuten im Westen, wenn die erzählen: Pass mal auf, unsere Frauen haben alle nicht arbeiten können, weil es gar keine Kindergärten gab. Und Ihr habt die hohen Renten! Ja, und hier haben natürlich die Frauen gearbeitet. Solche Themen. Wenn man nicht mal mit den Leuten gesprochen hatte, welche Ursache was hat, geht das nicht. Aber auch die müssen mit uns reden. Also, mehr Geschichten erzählen. Das wünsche ich mir. Und hinfahren, das ist so ein Thema. Wir haben es ja auch gemacht. Wir haben da so ein Nachholprogramm Europa gemacht, nach '90 oder so. Und ich treffe heute noch Leute, die noch nie im Osten waren. Hinfahren, angucken, mit den Leuten reden. Ich weiß, die Einheit wollte der Osten, der Westen gar nicht so sehr. Aber nun haben wir sie und man sollte sie nutzen.

Juni 2004

Fussnoten

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