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Wandel der Sozialstruktur Nachholende Modernisierung

Rainer Geißler

/ 11 Minuten zu lesen

Vier Jahrzehnte lang existierten die zwei deutschen Staaten nebeneinander. Unterschiedliche Systeme in Wirtschaft, Politik, Recht und Ideologie führten dazu, dass sich auch die Sozialstrukturen in Ost und West auseinanderentwickelten.

Die ostdeutschen Lebensbedingen haben sich nach 1989 den westdeutschen angenähert, aber immer noch nicht angeglichen. Die Folgen einer Teilung, die mehr als vier Jahrzehnte gedauert hat, konnten nicht innerhalb von zwei Jahrzehnten beseitigt werden. (© AP)

Am besten erfassen lassen sich die wesentliche Trends dieser Entwicklung mit dem – durchaus nicht unumstrittenen – Konzept der Modernisierungstheorie. Im Folgenden soll am Beispiel von vier wichtigen Bereichen der Sozialstruktur – den materiellen Lebensbedingungen, der Erwerbs- und Schichtstruktur, der Bevölkerungsstruktur und den Macht-Eliten – gezeigt werden, dass sich die Situation um 1989 als Modernisierungsrückstand der DDR kennzeichnen lässt. Wesentliche Trends des sozialstrukturellen Wandels in Ostdeutschland nach der Vereinigung lassen sich dann als "nachholende Modernisierung" charakterisieren. Diese ist mit erheblichen Problemen verbunden und noch nicht abgeschlossen.

1. Materielle Lebensbedingungen: Nachholende Wohlstandsexplosion

Das westdeutsche "Wirtschaftswunder" in der Nachkriegszeit hatte eine "Wohlstandsexplosion" zur Folge: Die Wirtschaftsleistung schnellte in die Höhe – und mit ihr die Einkommen und der Lebensstandard. So stiegen die inflationsbereinigten Nettojahresverdienste der Arbeitnehmer zwischen 1950 und 1980 auf das 3.2-fache – von 7. 730 DM (3.952 Euro) auf 24.622 DM (12.589 Euro). (Berechnet nach der Kaufkraft von 1985). Die DDR konnte mit diesem Tempo nicht Schritt halten. Die Folge: das West-Ost-Wohlstandsgefälle wurde kontinuierlich größer. 1988 erzielten ostdeutsche Arbeitnehmer nur 31 Prozent der westdeutschen Bruttoverdienste. Das entsprach in etwa dem Leistungsniveau der DDR-Wirtschaft; die ostdeutsche Produktivität wird in den 80er Jahren auf nur etwa ein Drittel der westdeutschen geschätzt. Da in der DDR sehr viel mehr Frauen berufstätig waren, fiel der Rückstand bei den Nettohaushaltseinkommen nicht ganz so drastisch aus. Diese lagen 1988 bei 47 Prozent (Kaufkraft) des Westniveaus. Entsprechend niedrig war der Lebensstandard: DDR-Bürger wohnten enger, einfacher und in älteren Häusern. Und nur jeder zweite ostdeutsche Haushalt verfügte über ein eigenes Auto. Meist handelte es sich dabei um den in der DDR gefertigten Trabant mit Plastik-Karosserie oder Modelle der russischen Firma Lada – beide standen schon damals für einfache Technik und minimalen Komfort. Im Westen konnten sich hingegen mehr als zwei Drittel der Haushalte einen im Westen produzierten Pkw auf dem aktuellen Stand der Technik leisten. Auch bei Haushaltsgeräten hinkte die DDR um mindestens 15 Jahre hinterher, bei der Ausstattung mit Telefonen um drei Jahrzehnte: 1988 besaßen in der DDR nur 16 Prozent der Haushalte ein eigenes Telefon, im Westen waren es 93 Prozent.

Dieser gravierende Rückstand im Lebensstandard war neben den Defiziten an Freiheit, politischer Teilnahme und Arbeitsqualität eine wichtige, wenn nicht sogar die zentrale Ursache für die wachsende Unzufriedenheit in den 80er Jahren, die Massenflucht im Jahr 1989 und schließlich den Zusammenbruch der DDR, nachdem auch außenpolitischer Druck das System nicht mehr erhalten konnte.

In der ersten Hälfte der 90er Jahre erlebten die Ostdeutschen eine historisch einmalige "nachholende Wohlstandsexplosion". Das rapide Tempo, mit dem der Lebensstandard anstieg, stellte das der westdeutschen Nachkriegsgeschichte bei weitem in den Schatten. Die Annäherung an die Westeinkommen stagnierte allerdings im letzten Jahrzehnt. 2006 lagen die Nettohaushaltseinkommen der ostdeutschen Arbeitnehmerhaushalte bei 81 bis 83 Prozent des Westniveaus, die Ost-West-Lücke wurde also im Vergleich zu 1988 um etwa zwei Drittel geschlossen. Das fortbestehende West-Ost-Gefälle ist zum Teil strukturell bedingt: gut zahlende Branchen sowie Fach- und Führungskräfte mit hohen Verdiensten sind im früheren Bundesgebiet häufiger.

Der enorme Anstieg des Lebensstandards lässt sich in vielen Bereichen des täglichen Lebens wie etwa den Wohnverhältnissen erkennen. Die Wohnungen sind heute neuer, größer und moderner. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Ostdeutsche heute fast genau so zufrieden mit ihrer Wohnsituation sind wie Westdeutsche. Und auch von den Annehmlichkeiten der technischen Konsumgüter profitieren Ostdeutsche inzwischen fast im gleichen Maße wie Westdeutsche (siehe Tabelle 1).

Tabelle 1: Haushaltsausstattung mit Konsumgütern 2007
(in Prozent)

  West Ost
mindestens 1 PKW 78 72
fabrikneu gekauft* 36 34
Festnetztelefon 96 94
Mobiltelefon (Handy) 82 82
PC 73 70
Mikrowellengerät 69 68
digitaler Fotoapparat* 43 37

Zusammengestellt nach: Institut der deutschen Wirtschaft, Deutschland in Zahlen 2009. Köln 2009, S. 65 (2007);
*Angaben für das Jahr 2006: Datenreport 2008. Bonn 2008, S. 155, 158.

Das Tempo der Annäherung wäre ohne enorme Leistungstransfers von West nach Ost nicht möglich gewesen. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle schätzt die Nettotransfers (abzüglich zurückfließender Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträge) für die Jahre 1991 bis 2003 auf knapp 950 Milliarden Euro – d. h. pro Einwohner der alten Länder auf etwa 1.100 Euro jährlich. Da sich die Wirtschaftleistung (Bruttoinlandsprodukt) je Einwohner in den neuen Ländern nur langsam dem westdeutschen Niveau annähert – 2008 liegt sie bei 68,5 Prozent – werden auch in absehbarer Zeit weitere Transfers nötig sein.

Mit dem Wohlstandschub ist aber auch eine Zunahme der sozialen Ungleichheit verbunden. Auf insgesamt höheren Niveau gehen die sozialen Abstände zwischen Oben und Unten weiter auseinander.

Nicht alle Gruppen der ostdeutschen Bevölkerung haben in gleichem Ausmaß von der Wohlstandsexplosion profitiert. Zu den Gewinnern gehören insbesondere die Rentner. Sie wurden aus der extremen Randlage befreit, in die sie die sozialistische Sozialpolitik gedrängt hatte. Fast die Hälfte von ihnen musste 1988 unter Bedingungen leben, die am Rande oder unterhalb des "sozialen Minimums" lagen. Heute liegen die Renten der ostdeutschen Männer bei 97 Prozent des Westniveaus. Ostdeutschen Frauen beziehen um gut ein Drittel höhere Renten als Frauen in Westdeutschland, weil sie häufiger und länger berufstätig waren. Zu den relativen Verlierern gehören die vielen Ostdeutschen, die nach der Vereinigung für längere Zeit ihren Arbeitsplatz verloren haben. Die Arbeitslosenraten liegen in den neuen Ländern nach wie vor doppelt so hoch wie im Westen – 2007 bei 16,8 Prozent (West 8,4 Prozent). Sie sind eine der Ursachen dafür, dass auch die Anteile der Empfänger von Arbeitslosengeld II – im Volksmund "Hartz IV" genannt – sowie die Anteile der "Armen" – gemessen nach der Armutsdefinition der EU-Statistiken – in den neuen Ländern erheblich höher sind als im früheren Bundesgebiet.

2. Erwerbs- und Schichtstruktur: Nachholender Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft und Wiederaufbau des selbstständigen Mittelstandes

Die Erwerbsstruktur der DDR wies zwei Modernisierungsdefizite auf – einen erheblichen Dienstleistungsrückstand sowie einen quasi vernichteten selbstständigen Mittelstand.

In der Erwerbsstruktur lässt sich der Modernisierungsprozess unter anderem an der Verteilung der Erwerbstätigen ablesen. Diese kann man in drei wichtige Produktionssektoren unterteilen – den primären (insbesonders Landwirtschaft), sekundären (Industrie und Handwerk) und tertiären (Dienstleistungen) Sektor. Während sich die Bundesrepublik in den 70er Jahren zu einer Dienstleistungsgesellschaft entwickelt hatte, war die DDR noch 1989 eine Industriegesellschaft mit überdimensionierten Arbeiter- und Bauernschaften. Daneben existierten unterentwickelte Dienstleistungsbereiche, die zudem noch durch "bürokratische Wasserköpfe" deformiert waren: wo es Dienstleister gab, gab es ihrer zu viele. Die Verteilung auf die Sektoren entsprach der westdeutschen Situation in den 60er Jahren. Im Zuge der schmerzlichen Krisen der ostdeutschen Industrie und Landwirtschaft wurde die Dienstleistungslücke nach der Vereinigung abrupt geschlossen. Eine Entwicklung, die in Westdeutschland 25 Jahre gedauert hatte, wurde innerhalb von drei Jahren nachgeholt (Einzelheiten s. Tabelle 2).

Tabelle 2: Erwerbstätige nach Produktionssektoren 1989 bis 2007 (in Prozent)

  West   Ost
primär sekundär tertiär   primär sekundär tertiär
1989 3.7 41 55 11 50 40
1993 3.3 40 56 4.2 38 58
2007* 2.1 26 72 2.9 25 72

*ohne Berlin
Quellen: R.Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. 5.Aufl. Wiesbaden 2008, S.165 (1989, 1993); Statistisches Bundesamt: Statistisches Jahrbuch 2008. Für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden 2008, S. 82

Selbstständige sind eine ausgesprochen leistungsorientierte, flexibel agierende, experimentier- und risikofreudige Gruppe mit wichtigen sozioökonomischen Funktionen. In Westdeutschland ist ihr Anteil an den Erwerbstätigen seit zwei Jahrzehnten mit 11 Prozent stabil. In der DDR war der selbstständige Mittelstand durch die Kollektivierungs- und Sozialisierungspolitik fast vernichtet worden. Der kleine Rest von ca. 180.000 Selbstständigen (ca. 2 Prozent der Erwerbstätigen), die in den 80er Jahren insbesondere im Handwerk noch überlebt hatten, war zu einem Kümmerdasein verurteilt. Seiner wirtschaftlichen Aktivität waren durch Planvorgaben und hohe Steuern enge und leistungshemmende Fesseln angelegt worden. Der Neuaufbau eines Mittelstandes bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Vom Umfang (Anteil an den Erwerbtätigen) her ist zwar inzwischen das Westniveau von 11 Prozent erreicht worden. Qualitativ gibt es aber zahlreiche Besonderheiten: eine buntere Zusammensetzung nach Herkunft und Soziallage; mehr Klein- und Kleinstbetriebe; mehr "Notgründungen" aus der tatsächlichen oder drohenden Arbeitslosigkeit heraus; eine extreme Polarisierung der Einkommen, wobei viele lediglich unterdurchschnittliche Verdienste erzielen.

Fragt man die Menschen mit einem einfachen Drei-Schichten-Modell danach, welcher Schicht sie sich zugehörig fühlen, dann ist Westdeutschland seit mindestens drei Jahrzehnten eine "Mittelschicht-Gesellschaft". Die DDR war dagegen auch im Selbstverständnis ihrer Bevölkerung eine "Arbeitergesellschaft" geblieben. Die Selbsteinstufung hat sich nach der Vereinigung etwas in Richtung Mittelschichtengesellschaft verschoben, aber auch 2006 sieht sich eine knappe Mehrheit der Ostdeutschen der Arbeiterschicht zugehörig.

Subjektive Schichteinstufung

Diese weiterhin unterschiedliche soziale Selbstwahrnehmung dürfte sowohl reale als auch ideologische Gründe haben. Sie rührt vermutlich von dem weiterhin bestehenden West-Ost-Wohlstandsgefälle her, aber sie hängt vermutlich auch mit den Nachwirkungen der sozialistischen Arbeiterideologie zusammen. Immerhin ordnet sich fast ein Drittel der leitenden Angestellten und höheren Beamten in den neuen Bundesländern der Arbeiterschicht zu. In Westdeutschland macht sich eine gegenläufige Entwicklung bemerkbar – eine etwas schrumpfende Mittelschicht bzw. eine gewisse Umschichtung nach unten.

3. Bevölkerungsstruktur: Fortdauernde Abwanderung aus Ostdeutschland und Zuwanderung nach Westdeutschland

Ein Merkmal moderner Gesellschaften ist ihre Anziehungskraft auf Zuwanderer. Solche Gesellschaften entwickeln sich zu Einwanderungsgesellschaften mit einer multi-ethnischen Bevölkerungsstruktur. Auch hier wies die DDR erhebliche Modernisierungsdefizite auf, die bist heute weitgehend fortbestehen.

Während die Bevölkerung der Bundesrepublik von 46 Millionen im Jahr 1946 kontinuierlich auf knapp 63 Millionen im Jahr 1989 zunahm, nahm in der DDR als einzigem Land der Welt die Bevölkerung über den kompletten Zeitraum stetig ab. Zwischen 1946 und 1989 ging ihre Bevölkerung von 18,4 Millionen auf 16,4 Millionen zurück. Die Hauptursache dieser gegenläufigen Entwicklungen sind die Wanderungsbewegungen: Die Bundesrepublik war ein Einwanderungsland, die DDR ein Auswanderungsland. Die guten Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zogen Zuwanderer aus der DDR, aus den Mittelmeerländern ("Gastarbeiter") und aus Ost- und Südosteuropa (Aussiedler und Spätaussiedler) an. Die DDR war dagegen wegen ihrer Defizite an Wohlstand, Freiheit und Demokratie einem kontinuierlichen Abwanderungsdruck ausgesetzt.

Die deutsche Vereinigung hat an den gegenläufigen Entwicklungen nicht viel verändert. Die westdeutsche Bevölkerung nahm bis 2007 um 5 Millionen auf knapp 68 Millionen zu, die ostdeutsche Bevölkerung ist dagegen weiter um 1,7 Millionen auf 14,7 Millionen geschrumpft.

Nach dem Wegfall der innerdeutschen Grenze ziehen zwar viele Westdeutsche nach Ostdeutschland, aber noch mehr Ostdeutsche siedeln nach Westdeutschland über. Im letzten Jahrzehnt verloren die neuen Länder durch die negative Ost-West-Wanderungsbilanz jedes Jahr mindestens 50.000 Menschen – seit 1989 insgesamt gut 1 Million. Unter den ostdeutschen Abwanderern sind viele gut gebildete, jüngere Menschen im Alter von 18 bis 30 Jahren, darunter besonders viele Frauen. Die Westwanderer kommen häufig aus ökonomisch schwächeren Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt. Die hohe Arbeitslosigkeit im Osten und die Suche nach besseren Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten im Westen veranlasst sie, ihrer ostdeutschen Heimat den Rücken zu kehren.

Auch im Hinblick auf Wanderungen über die Staatsgrenzen hinweg unterscheiden sich Ost und West grundlegend. Durch den ökonomischen Bedarf an Arbeitsmigranten hat sich Westdeutschland allmählich zu einer modernen, multi-ethnischen Einwanderungsgesellschaft entwickelt. 2007 stammte gut jeder fünfte Westdeutsche – insgesamt 14 Millionen – aus einer Zuwandererfamilie. In der DDR dagegen gab es so gut wie keine Einwanderer aus dem Ausland, sondern nur 190.000 ausländische Arbeitskräfte, von denen viele als befristete "Leiharbeiter" unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten und leben mussten. Auch nach der Vereinigung ist Ostdeutschland eine weitgehend mono-ethnische Gesellschaft geblieben; nur jeder 20. Ostdeutsche – insgesamt 640.000 – hatte 2007 einen Migrationshintergrund.

Erwähnenswert sind zwei Aspekte der sogenannten "natürlichen" Bevölkerungsbewegung. Der Zusammenbruch der DDR löste im Osten schockartig eine vorübergehende Lähmung des Familienlebens aus. Die Geburtenziffern halbierten sich über Nacht und sanken von 156 Kindern pro 100 Frauen (1989) auf 77 Kinder (1993). Seit 1995 steigen sie wieder an und haben 2007 mit 137 Kindern genau das westdeutsche Niveau erreicht.

Eine weitere Folge des Wohlstandsdefizits und der schlechteren Arbeits- und Umweltbedingungen in der DDR war auch die geringere Lebenserwartung gegenüber den Menschen in Westdeutschland. Die Lebenserwartungen der ostdeutschen Frauen lagen vor 1989 um 2,8 Jahre niedriger als in der Bundesrepublik, die der ostdeutschen Männer um 2,4 Jahre. Durch die Angleichung der Lebensverhältnisse ist der Unterschied bei den Frauen inzwischen völlig verschwunden, bei den Männern ist er etwas verringert worden und beträgt noch 1,4 Jahre.

4. Elitenwandel: Von Monopol-Elite zu pluralen Teil-Eliten

Das Kennzeichen der westdeutschen Elitenstruktur war und ist ihr Pluralismus. In den verschiedenen wichtigen gesellschaftlichen Funktionsbereichen wie Politik, Wirtschaft, Öffentlichkeit, Justiz, Wissenschaft, Kultur oder Religion existieren Teil-Eliten, die mehr oder weniger unabhängig voneinander agieren. Und im politischen Bereich konkurrieren verschiedene Partei-Eliten um Wählerstimmen und Macht. Dieser Pluralismus war im sozialistischen System aufgehoben zugunsten einer streng hierarchisch strukturierten Monopol-Elite, die alle gesellschaftlichen Funktionsbereiche – mit Ausnahme von Religion und Kirche – zentralistisch steuerte; oder besser: zu steuern versuchte. Ein kleiner Führungskern – in seinem Zentrum das zuletzt überalterte ("vergreiste") SED-Politbüro – war mit einer übermäßigen Machtfülle ausgestattet. Kaderschulung, Kaderpolitik und die strikte Kontrolle durch den Staatssicherheitsdienst sorgten vor 1989 für eine relative ideologische Geschlossenheit. Aus modernisierungstheoretischer Sicht ist die zentralistische Monopol-Elite unmodern, weil ineffizient: Sie schirmt sich gegen Kritik von außen und unten ab, ist mit Entscheidungen überfrachtet und dadurch unsensibel gegenüber den Bedürfnissen der Bevölkerung und gegenüber den Funktionserfordernissen in den gesellschaftlichen Teilbereichen. So zog das kleine Politbüro die Entscheidungen über alle möglichen Details an sich – wie z.B. über die Frühjahrs- und Herbstkollektion der Damenmode. Dadurch konnten wichtige komplexe Grundfragen wie beispielsweise Preispolitik, Energiepolitik, Umweltpolitik, Städtebau oder Verkehrswesen nicht fundiert behandelt werden. In den 1980er Jahren fand das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung (das einzige Institut, das in der DDR noch repräsentative Meinungsumfragen durchführen durfte) heraus, dass die Verbundenheit der Jugend mit der DDR abnahm. Eingeweihte Spitzenfunktionäre behielten diese Erkenntnisse für sich, weil sie den ungläubigen Zorn des SED-Generalsekretärs Erich Honecker und seiner engsten Verbündeten im Politbüro fürchteten. Über die zurückgehende Loyalität zur DDR wurde daher im Politbüro nicht diskutiert. Die DDR-Elite war also in wichtigen Punkten faktisch inkompetent, handlungsunfähig und paralysiert.

Nach dem Zusammenbruch der DDR wurden die Elitenstruktur grundlegend verändert und die Führungsschichten radikal ausgetauscht. An die Stelle der zentralistisch-hierarchischen und politisch-ideologisch homogenen Monopol-Elite traten plurale Teil-Eliten nach dem oben beschriebenen westlichen Muster. Der Strukturwandel wurde begleitet von einem fast vollständigen Austausch der Führungsschicht. Dieser konnte tiefgreifender sein als der Elitenaustausch nach dem Zusammenbruch des NS-Systems, weil in Westdeutschland ein Reservoir an Personen mit Sachkompetenz und Führungsfähigkeit bereitstand, um das ostdeutsche "Elitenvakuum" teilweise aufzufüllen. Eine Folge davon ist die partielle westdeutsche Überschichtung Ostdeutschlands, die psychologisch durchaus problematisch ist (Gefühl der "Kolonialisierung"). In den 90er Jahren waren 40 Prozent der ostdeutschen Spitzenpositionen – insbesondere in den Bereichen Militär, Wirtschaft, Verwaltung, Justiz und auch Gewerkschaften – mit "Westimporten" besetzt. Die neuen genuinen ostdeutschen Eliten waren Aufsteiger, deren Weg nach oben in der DDR durch eine mehr oder weniger starke Distanz zum sozialistischen System blockiert war; etwa ein Viertel stammt aus der regimekritischen Bürgerrechtsbewegung. Weitere Besonderheiten der neuen ostdeutschen Eliten der 90er Jahre – leider liegen für das letzte Jahrzehnt keine repräsentativen Elitestudien vor – sind ihr jüngeres Alter, ihr höherer Frauenanteil sowie ein größerer Anteil von Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Theologen. Zudem stehen sie politisch deutlich weiter links als die westdeutschen. Sie sind basisdemokratischer und etatistischer orientiert, das heißt sie fordern eine stärkere direkte Beteiligung aller Staatsbürger an den politischen Entscheidungen und erwarten vom Staat mehr regulierende Eingriffe, insbesondere zugunsten der sozial Schwachen.

Bilanz: Annäherung - aber keine Angleichung

Die ostdeutschen Lebensbedingen haben sich nach 1989 den westdeutschen angenähert, aber immer noch nicht angeglichen. Die Folgen einer Teilung, die mehr als vier Jahrzehnte gedauert hat, konnten nicht innerhalb von zwei Jahrzehnten beseitigt werden. Da der kleine Ausschnitt der sozialstrukturellen Entwicklung in diesem kurzen Überblick notwendigerweise lückenhaft ist, sei abschließend noch stichwortartig auf eine gegenläufige Tendenz verwiesen: Bei der strukturellen Gleichstellung der Frauen war die DDR moderner. Obwohl der Gleichstellungsvorsprung der ostdeutschen Frauen im vereinten Deutschland gewisse Einbußen hinnehmen musste, besteht in diesem Bereich ein nachholender Modernisierungsbedarf in Westdeutschland.

Quellen / Literatur

Rainer Geißler: Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung. 5. Aufl. Wiesbaden 2008.

Rainer Geißler: Sozialer Wandel in Deutschland. Überarbeitete Neuauflage München 2004. Informationen zur politischen Bildung Nr. 269


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