Die Straßen sind nach alten Kommunisten und Revolutionären benannt, auf dem Marx-Engels-Platz erhebt sich, eingerahmt von einem braun-gräulichen Gebäudeensemble, das alte Kulturhaus – ein wuchtiger Klotz, dessen Fassade Risse hat und sich schält. "Ich habe grade noch den Kleingärtnerverein gerettet, die wollten sich auflösen", sagt der parteilose Bürgermeister Uwe Schultze und gießt ein paar Tassen Filterkaffee ein. Neben ihm liegt ein Fax mit Angeboten einer Künstleragentur. "Lieder vom Wolga-Strand: Russische Weisen und Volkslieder mit Ronny Weiland und SABAWA. Preis: 2.000" steht zum Beispiel darauf. "Wäre schon fein", sagt Uwe Schultze, "aber das könnten wir uns alles nicht leisten."
Das Kulturhaus, das früher der Stolz des Dorfes war, würden viele von ihnen jetzt am liebsten verstecken oder abreißen, aber das dürfen sie nicht, weil es unter Denkmalschutz steht. Es ist stark sanierungsbedürftig und hat nur noch sporadisch geöffnet. Der große Theaterraum, in dem früher auch Parteiversammlungen stattfanden, wird nicht mehr genutzt. Wenn sie hier irgendwas besprechen wollen, gehen sie lieber in die Garderobe, weil sie die richtige Größe dafür hat. Nach der Wende vermietete die damalige Gemeindevertretung das Kulturhaus an einen Hamburger Diskothekenbetreiber, der es in "Joy Disco Palace Mestlin" umbenannte. Der Hamburger strich die Wände innen schwarz, er verstreute Sand für simuliertes Strandgefühl auf dem Parkett und versprach den Mestlinern eine Mark pro Besucher. Obwohl die Disco gut lief, kam kaum etwas bei ihnen an. Als der Spaßpalast 1996 schloss, war das Gebäude völlig verwahrlost. Das Parkett war aufgequollen, die Heizungen geplatzt, das Inventar, zu dem auch zwei Filmprojektoren gehörten, geplündert. Sie mussten erst vor Gericht gehen, um ihr Kulturhaus wiederzubekommen. Es ist nur eine von vielen Sachen, die nach der Wiedervereinigung schiefliefen in Mestlin. Doch sie tut ihnen am meisten weh. Das Problem mit dem Haus ist, dass es zu groß ist, um es zu übersehen oder zu vergessen.
Die Utopie ist kaum noch zu erkennen
Aus den Pulten, in denen früher die Musiktechnik untergebracht war, ragen noch immer ein paar Kabel. Kaputtes Glas liegt auf dem Boden. "Guck mal hier, ha ha", knurrt Michael-Günther Bölsche, der Lokaljournalist, der früher einmal im Kulturhaus arbeitete. An der Wand eines kleinen Raumes im ersten Stock lehnt ein verstaubter Bilderrahmen mit einem Poster darin: "Der Weg ins neue Leben – 40 Jahre DDR". In der Ecke steht ein zerschlissenes, auf Holzplatten aufgebrachtes Modell des Dorfes. Nach der Wende haben sie Münchener Architekten viel Geld gezahlt, damit sie eine Zukunftsvision für Mestlin entwickeln. Die Utopie ist auf dem ramponierten Brett kaum noch zu kennen. Am Rand des Dorfes sollte es Golf- und Tennisplätze geben, auch ein halb überdachtes Schwimmbad war irgendwann einmal geplant.
Es gibt kein Schwimmbad und keinen Golfplatz – und Einwohner gibt es auch viel weniger als früher: Etwa ein Viertel der Häuer steht leer. Mittlerweile leben nur noch 823 Menschen in Mestlin, viele von ihnen sind arbeitslos. Von den einigen Hundert Arbeitern auf der LPG sind nur noch 16 übrig. Nach der Wende wurden alle unprofitablen Betriebszweige eingestellt und neue, moderne Maschinen wie ein Melkkarussell angeschafft, die die Arbeit von zehn Arbeitern übernahmen. Dennoch lassen sie im Dorf nichts auf ihre LPG kommen. Sie sind stolz, dass es sie noch gibt und dass sie nach der Wende nicht auf die westlichen Berater gehört haben, die ihnen rieten, den Betrieb ganz einzustellen. Die wenigen, die noch bei der LPG arbeiten, sind nicht reich, aber sie sind konkurrenzfähig. Und das ist es doch, was im Kapitalismus zählt.
Der Familie Lorenz geht es verhältnismäßig gut. Sie trat nach der Wende aus der LPG aus. Stefan Lorenz, der 16-jährige Enkel von Bauer Lorenz, wird den Betrieb bald übernehmen und 600 Hektar bewirtschaften. Er sagt, in seiner Schulklasse seien nur die Jungen geblieben. Von den Mädchen sind schon zehn von zwölf woanders hingezogen. Die Kinder einer Mestliner-Generation, in der fast alle auf der LPG gearbeitet haben, wandern nach Hamburg oder Schwerin ab, wo sie Lehrstellen finden und Arbeit. "Ich geh nicht weg. Brauch ich nicht. Was soll ich da?", sagt Felix Lappe, ein sechzehn Jahre alter Lehrling auf der LPG. Er wird bleiben, selbst wenn Mestlin irgendwann eine Geisterstadt ist. Schon als Kind ging er am liebsten auf den Hof und schaute den Arbeitern zu, wie sie auf die Felder fuhren und die Kälber tränkten. Jetzt macht er das, was ihm am meisten Spaß macht. In seinem grünen LPG-Overall mistet er mit einem Radlader den Stall aus, dann holt er mit einem alten DDR-Traktor frisches Heu für die Tiere.
Der Ort ist so stark verschuldet, dass sie nicht einmal einen kleinen Eigenanteil zahlen könnten, wenn doch irgendjemand Geld für die Sanierung des Kulturhauses bereitstellen würde. Vor ein paar Jahren wurde Mestlin auch noch der Status als ländlicher Zentralort aberkannt, was nicht nur weniger Prestige, sondern auch weniger Geld bedeutet hat. Der Bürgermeister sagt, er fühle sich im Stich gelassen von allen. Die Landespolitiker kämen nur noch vorbei, wenn Wahlkampf ist. Sie meiden Mestlin, weil es hier ohne großen Einsatz nichts zu gewinnen gibt. Das Dorf hat eine ansteckende Krankheit namens Erfolglosigkeit. In der für viel Geld sanierten Kita, in der es früher über Hundert Kinder gab, sind nur noch 18 untergebracht. Momentan überlegen die Mestliner, ob es überhaupt noch Sinn macht, weiterhin eine Grundschule zu betreiben. Dass Mestlin tot ist, oder zumindest stirbt, sagen sie einem hier an jeder Ecke. Und auch, dass man froh sein soll, im Winter da zu sein, weil man sonst auch noch die kaputten Straßen sehen würde. Ein paar Kinder haben sich hinter dem Marx- Engels-Platz ein kleines Iglu gebaut. "Was sollen wir denn hier noch machen?", fragen sie.
Schlägereien wegen 49 Cent
Im Jugendzentrum von Mestlin liegen die Tischtennisschläger fein säuberlich aufgereiht neben der Platte. Der Fernseher und der DVD-Player sind aus. Es gibt einen aus Pappe gebastelten Kummerkasten, in dem kein einziger Zettel steckt. Seit vergangenem Sommer sind die Räume geschlossen. Das Arbeitsamt genehmigt keinen Ein-Euro-Job für die Betreuung der Jugendlichen mehr. Es gibt noch die freiwillige Feuerwehr und den Fußballverein. Doch weil sie so wenige sind, bekommen sie keine Mannschaft mehr für die Jugendlichen zusammen.
Eine Art Ersatzjugendzentrum sind Parkplätze oder das Bushäuschen, das in Mecklenburg-Vorpommern liebevoll "die Busse" genannt wird. Ein nach Schnaps riechender Achtzehnjähriger grüßt vorbeifahrende Autos und Radfahrer mit Hitlergruß und murmelt "Heil". Obwohl, wie er sagt, das alles nur ein Spaß und er gar nicht so richtig rechts sei. Er erzählt von Hansa Rostock, von Schlägereien, bei denen sich zwei wegen einer 49 Cent teuren Bierflasche den Schädel einhauen, von seinem Plan, nicht mehr ins Gefängnis zu gehen und seinen Schulabschluss zu machen. Sein großer Traum: abhauen und das Leben auf die Reihe kriegen. Egal wen man fragt in Mestlin, sie alle hängen an den alten Tagen – als sie trotz fehlender Technik die Felder für die LPG bestellten, als sie alle zusammenhielten und im Kulturhaus feierten. Die Jugendlichen sagen, sie interssieren sich nicht für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart. Aber natürlich sei es besser gewesen in der DDR. So erzählen es ihnen ihre Eltern jedenfalls. Soll doch mal einer nach Mestlin kommen und ihnen beweisen, dass es anders gewesen ist.