Einleitung
Während die ökonomischen und innenpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung im Wesentlichen von den Deutschen im Alleingang entschieden werden konnten, bedurfte es zur Bewältigung der außenpolitischen Fragen eines Verhandlungsrahmens, der nicht nur die beiden deutschen Staaten, sondern auch die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges einschloss. Der Grund dafür lag zum einen in deren Vorbehaltsrechten, die ihren Ursprung in der "Übernahme der obersten Regierungsgewalt hinsichtlich Deutschlands" gemäß der Erklärung der Siegermächte vom 5. Juni 1945 hatten und wegen des fehlenden Friedensvertrages nie vollständig aufgehoben worden waren. In den Pariser Verträgen zwischen der Bundesrepublik und den Westmächten vom 23. Oktober 1954 war dementsprechend ausdrücklich auf die "Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte in Bezug auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" hingewiesen worden.
Zum anderen ergab sich die Notwendigkeit einer Beteiligung der Vier Mächte aus der politischen Entwicklung nach 1989. Denn unter den nunmehr gegebenen Bedingungen bedeutete eine deutsche Wiedervereinigung weit mehr als die bloße Zusammenführung der beiden deutschen Teilstaaten. Die gesamte europäische Ordnung stand jetzt zur Disposition. Da die DDR den Eckpfeiler der sowjetischen Herrschaft in Osteuropa bildete und der Verlust der DDR für die UdSSR nach den vorangegangenen Ereignissen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei voraussichtlich ebenfalls zum Verlust des sowjetischen Einflusses in diesen Ländern führen würde, drohte der Zusammenbruch des gesamten sowjetischen Imperiums in Europa.
Aber auch Frankreich und Großbritannien betrachteten die sich abzeichnende Neuordnung in der Mitte Europas mit historisch begründeter Skepsis. Und auch die USA konnten nicht abseits stehen, wenn das System der Bipolarität, dessen Ausgestaltung sie - wie eingangs dargestellt - seit Beginn des Ost-West-Konflikts nach 1945 maßgeblich bestimmt hatten, einer neuen Architektur wich.
Uneinigkeit der Westmächte
Die Unsicherheit und Besorgnis der Nachbarn über die Perspektive einer Wiedervereinigung Deutschlands wurde bereits unmittelbar nach der Maueröffnung deutlich, als der französische Präsident François Mitterrand am 14. November 1989 ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der zwölf Länder der Europäischen Gemeinschaft forderte, um "die jüngsten Entwicklungen in Europa zu diskutieren" und "eine gewisse Kontrolle über die Veränderungen zu gewinnen". Nach der Vorlage des Zehn-Punkte-Plans von Bundeskanzler Kohl am 28. November teilte Mitterrand einer Gruppe französischer Journalisten mit, er halte eine deutsche Wiedervereinigung für eine "rechtliche und politische Unmöglichkeit". Gegenüber Bundesaußenminister Genscher äußerte er, ein wiedervereinigtes Deutschland "als eine eigenständige Macht, unkontrolliert", sei unerträglich für Europa; es dürfe niemals wieder eine Situation eintreten wie 1913, vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
Mitterrands langjähriger Vertrauter Régis Debray drohte sogar mit einer Wiederbelebung "der alten französisch-russischen Allianz", falls ein wiedervereinigtes Deutschland zu sehr an Gewicht gewinnen sollte. Und der frühere französische Außenminister Jean François-Poncet brachte die Bedenken in Frankreich und anderen europäischen Ländern auf den Punkt, als er auf die Gefahr der "wirtschaftlichen und politischen Hegemonie einer Nation mit 80 Millionen Menschen, die den industriellen Koloss Europas bildet", hinwies. Geschichtliche Belastungen und die Sorge vor Deutschlands aktueller Wirtschaftsmacht verschmolzen zu der Vorstellung einer Bedrohung, die eine Vereinigung der Deutschen als eine Gefährdung von Ordnung und Frieden in Europa erscheinen ließ.
Für die britische Premierministerin Margaret Thatcher spielte der europäische Ordnungsaspekt eine besondere Rolle. In der Tradition klassischen britischen Gleichgewichtsdenkens hielt sie ein geeintes, starkes Deutschland für eine ernsthafte Herausforderung der seit dem Zweiten Weltkrieg erreichten Stabilität - nicht, wie früher, im militärischen Sinne, sondern aufgrund der Stärke der deutschen Wirtschaft, die durch die Einbindung in die Europäische Gemeinschaft noch vergrößert werde. Daher dürfe man die deutsche Wiedervereinigung "nicht übereilen". Ähnlich sah es auch der italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti: Der Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers komme "zum falschen Zeitpunkt"; eine deutsch-deutsche Konföderation oder gar eine Wiedervereinigung seien nicht aktuell.
Unterstützung aus den USA
In den USA dagegen betrachtete man die Vorgänge in Deutschland durchaus positiv. Die Wiedervereinigung, die man selbst seit 1945 stets gefordert hatte, wurde nicht abgelehnt, sondern als Erfüllung eines langfristigen Ziels westlicher Politik nachdrücklich begrüßt. Präsident Bush und Außenminister Baker hoben lediglich die Notwendigkeit hervor, den Einigungsprozess mit der konstruktiven Entwicklung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in Einklang zu bringen. Außerdem müsse die Vereinigung der beiden deutschen Staaten sich innerhalb der Institutionen von NATO und Europäischer Gemeinschaft vollziehen und die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte berücksichtigen. Während Franzosen und Briten somit aus historischer Erfahrung eher rückwärtsgewandt argumentierten und an die frühere Bedrohung durch das Deutsche Reich erinnerten, blickten die Amerikaner nach vorne und suchten "eine neue Architektur für ein neues Zeitalter" zu entwickeln, wie Außenminister Baker am 12. Dezember 1989 in Berlin bemerkte.
QuellentextUS-Präsident George Bush zum Vereinigungsprozess in Deutschland
[...] Ich teile die Sorge mancher europäischer Länder über ein wiedervereinigtes Deutschland nicht, weil ich glaube, dass Deutschlands Bindung an und Verständnis für die Wichtigkeit des (atlantischen) Bündnisses unerschütterlich ist. Und ich sehe nicht, was einige befürchten, dass Deutschland, um die Wiedervereinigung zu erlangen, einen neutralistischen Weg einschlägt, der es in Widerspruch oder potenziellen Widerspruch zu seinen NATO-Partnern bringt. [...] Trotzdem glaube ich nicht, dass wir den Begriff der Wiedervereinigung forcieren oder Fahrpläne aufstellen und über den Atlantik hinweg unsererseits eine Menge neuer Verlautbarungen zu diesem Thema machen sollten. Sie braucht Zeit. Sie benötigt eine vorsichtige Entwicklung. Sie verlangt Arbeit zwischen ihnen (den Deutschen) [...] und Verständnis zwischen den Franzosen und Deutschen, den Engländern und Deutschen über alle diese (Fragen). Aber das Thema ist so viel wichtiger und zentraler geworden [...] wegen der schnellen Veränderungen, welche in Ostdeutschland stattfinden. [...] Und wer weiß, wie sich Herr Krenz entwickeln wird? Wird er nur eine Verlängerung des Honeckerschen Standpunkts oder etwas anderes sein? Ich glaube nicht, dass er dem Wandel völlig widerstehen kann.
George Bush in: New York Times vom 25. Oktober 1989.
Offiziell wurden die divergierenden westlichen Standpunkte schon auf der Sitzung des NATO-Rates am 15. Dezember wieder zusammengeführt, als die Mitglieder der Allianz, einschließlich Frankreich, eine Erklärung verabschiedeten, die auf dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes beruhte und der zufolge die NATO "auf einen Zustand des Friedens in Europa hinwirken" sollte, "in dem die deutsche Nation in freier Selbstbestimmung ihre Einheit wiedererlangt". Faktisch jedoch waren die Bedenken einiger westlicher Verbündeter noch keineswegs ausgeräumt. Vor allem Frankreich und Großbritannien blieben bezüglich einer möglichen deutschen Wiedervereinigung zurückhaltend, auch wenn Präsident Mitterrand eine Woche später bei einem Besuch in der DDR einräumte, dass die Deutschen das Recht hätten, über ihren Wunsch nach Einheit selbst zu entscheiden.
QuellentextDie britische Premierministerin Margaret Thatcher
Der wahre Ursprung der deutschen Angst (im Original deutsch; A. d. Ü.) ist die Qual der Selbsterkenntnis. Wie ich bereits erklärt habe, ist das einer der Gründe, warum so viele Deutsche aufrichtig - und wie ich meine, irrigerweise - Deutschland in ein föderatives Europa eingebettet wissen wollen. Es ist doch wahrscheinlich, dass Deutschland in einem solchen Gefüge die Führungsrolle einnehmen würde, denn ein wiedervereinigtes Deutschland ist schlichtweg viel zu groß und zu mächtig, als dass es nur einer von vielen Mitstreitern auf dem europäischen Spielfeld wäre. Überdies hat Deutschland sich immer auch nach Osten hin orientiert, nicht nur in Richtung Westen, obwohl die moderne Version solcher Tendenzen eher auf wirtschaftliche denn auf kriegerische territoriale Expansion abzielt. Daher ist Deutschland vom Wesen her eher eine destabilisierende als eine stabilisierende Kraft im europäischen Gefüge. Nur das militärische und politische Engagement der USA in Europa und die engen Beziehungen zwischen den beiden anderen starken, souveränen Staaten Europas, nämlich Großbritannien und Frankreich, können ein Gegengewicht zur Stärke der Deutschen bilden. In einem europäischen Superstaat wäre dergleichen niemals möglich.
Ein Hindernis auf dem Weg zu einem solchen Gleichgewicht der Kräfte war zu meiner Amtszeit die Weigerung des von Präsident Mitterrand regierten Frankreich, französischen Instinkten zu folgen und den deutschen Interessen den Kampf anzusagen. Denn das hätte bedeutet, die französisch-deutsche Achse aufzugeben, auf die Mitterrand sich stützte.
Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, 2. Auflage, Düsseldorf 1993, S. 1095 f.
Bestimmend für die französische Haltung blieb allerdings die Tatsache der gesicherten Einbindung Deutschlands in westliche Institutionen. So erklärte Mitterrand während eines inoffiziellen Treffens mit Bundeskanzler Kohl im Januar 1990 auf seinem Landsitz in Latché in der Gascogne, das größte Hindernis für eine deutsche Wiedervereinigung sei "die Gefahr einer Neutralisierung Deutschlands", die als Ausweg aus der Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten in verschiedenen Militärbündnissen gesehen werden könnte. Daher müsse die deutsche Einigung mit einer Intensivierung der europäischen Integration einhergehen. Kohl stimmte dem zu und war schließlich auch einverstanden, als Paris auf eine "Europäische Union" und eine gemeinsame europäische Währung drang. Beides wurde am 7. Februar 1992 im Vertrag von Maastricht vereinbart, dessen Abschluss vor allem von Deutschland und Frankreich vorangetrieben wurde. Frankreichs Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands wurde dadurch maßgeblich erleichtert. Großbritannien verharrte dagegen unter Margaret Thatcher bis zum Schluss in skeptischer Distanz. Die britische Regierungschefin hielt selbst die deutsche Einbindung in den Maastricht-Vertrag noch für ein Instrument, das der deutschen Nation die Erringung der Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent ermöglichen könnte.
Unsicherheit in der Sowjetunion
Anders als der Westen, wo man angesichts des bevorstehenden Zusammenbruchs der DDR mit einem baldigen "Zugewinn" rechnen konnte und allenfalls über die Konsequenzen der wachsenden Stärke Deutschlands stritt, befand sich die Sowjetunion seit der Maueröffnung in einer problematischen Situation: Ohne militärische Intervention war das SED-Regime nicht mehr zu retten, die Wiedervereinigung nicht zu verhindern. Wenn aber die DDR verloren ging, drohte auch der Verlust Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei.
Dementsprechend argwöhnisch verfolgte man in Moskau die Vorgänge zwischen Rhein und Oder und hielt sich anfänglich auch mit ablehnenden Kommentaren nicht zurück. So warnte Generalsekretär Gorbatschow unter Bezugnahme auf die Reformprozesse in den Warschauer-Pakt-Staaten davor, "in die Flammen zu blasen". Außenminister Schewardnadse meinte, es gebe kein Land in Europa, das ein wiedervereinigtes Deutschland nicht als "eine Gefahr für die Stabilität der Nachkriegsordnung" begreife.
In dem Maße jedoch, in dem sich die Wiedervereinigung als unvermeidlich erwies, weil das SED-Regime immer weniger in der Lage war, die eigene Bevölkerung zu beherrschen und ein Minimum an politischer und wirtschaftlicher Stabilität zu gewährleisten, wurden die sowjetischen Reaktionen vorsichtiger - zumal sich die Krise in der UdSSR drastisch verschärfte.
Eine vertrauliche Analyse zur Lage in der Sowjetunion, die Bundeskanzler Kohl am 16. Januar vorgelegt wurde, ließ erkennen, dass Gorbatschow mit überaus ernsten inneren Problemen konfrontiert war: Ökonomisch und sozial war die UdSSR im Niedergang begriffen; zwischen 60 und 100 Millionen Sowjetbürger lebten am Rande - oder bereits unterhalb - des Existenzminimums; die Stimmung in der Armee und bei den Sicherheitskräften verschlechterte sich in gefährlichem Maße. Daher sah Bonn in Gorbatschows Bemerkung, im Falle einer deutschen Vereinigung werde es "eine Zwei-Zeilen-Meldung geben, dass ein Marschall meine Position übernommen hat", mehr als nur den Versuch, Deutschland vom unerwünschten Zusammenschluss abzuhalten.
Die schwierige Lage der sowjetischen Führung ermöglichte es auf der anderen Seite dem Bundeskanzler, im Umgang mit der UdSSR und den Westmächten zunehmend selbstbewusst aufzutreten. Kohl konnte sich nicht nur auf den Einheitswillen der Ostdeutschen berufen. Er wusste auch, dass es gegen die Wiedervereinigung kaum noch Widerstand geben konnte, nachdem die USA frühzeitig ihre Zustimmung bekundet hatten und Frankreich durch Garantien für eine Vertiefung der europäischen Integration für die deutsche Sache gewonnen worden war. So verhinderte der Kanzler unter Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen eine von der Sowjetunion vorgeschlagene Vier-Mächte-Konferenz über die Vereinigungsfrage und forderte die westlichen Verbündeten auf, mit der UdSSR über das Deutschland-Problem nur nach vorheriger Konsultation der Bundesregierung zu sprechen.
Zugleich bemühte sich der Kanzler, die Stimmung in der Sowjetunion positiv zu beeinflussen. Diesem Anliegen dienten unter anderem die Lieferung großer Mengen von Lebensmitteln, die Ausarbeitung von Vorschlägen für eine umfassende Zusammenarbeit und Zusicherungen an Moskau für die Zeit nach der Wiedervereinigung. Solches Entgegenkommen war um so wichtiger, als in der Sowjetunion ein Richtungskampf mit ungewissem Ausgang stattfand: "Realisten", die sich mit der Entwicklung zur Wiedervereinigung zu arrangieren suchten, stritten dabei mit "Orthodoxen", die das Rad der Geschichte aufhalten oder gar zurückdrehen wollten. Großzügige Gesten der Bundesrepublik, aber auch langfristige Hilfszusagen konnten in dieser Auseinandersetzung den Ausschlag geben.
Einigung in Ottawa
Bei den Westmächten und in der Sowjetunion wuchs somit im Dezember 1989 und Januar 1990 die Erkenntnis, dass die Wiedervereinigung kaum noch zu vermeiden war - auch wenn manche über diese Perspektive wenig erfreut waren. Gleichzeitig beschleunigte sich der Niedergang der DDR. Als der Zentrale Runde Tisch in Ostberlin am 28. Januar die Vorverlegung des Termins für die Volkskammerwahl vom 6. Mai auf den 18. März 1990 beschloss, um einigermaßen sicher zu sein, dass die Wahlen überhaupt noch stattfinden konnten, zeigte dies den Ernst der Lage.
Am gleichen 28. Januar, einem Sonntag, wurden deshalb in den USA Gespräche über die Schaffung eines Rahmens zur außenpolitischen Absicherung der Wiedervereinigung geführt. Dabei kam auch die sowjetische Anregung zur Sprache, ein Vier-Mächte-Treffen einzuberufen, das alter Tradition entsprach: Schon auf der Potsdamer Konferenz 1945 war ein "Außenministerrat" der Vier Mächte eingesetzt worden, um unter anderem über Deutschland zu beraten. Der Rat hatte in den vierziger und fünfziger Jahren wiederholt getagt, ehe der Kalte Krieg weitere Erörterungen gegenstandslos gemacht hatte. Auch die Berlin-Verhandlungen 1970/71 waren auf der Ebene der Vier Mächte geführt worden. Es lag also nahe, in diesem Rahmen fortzufahren, zumal die rechtliche Situation eine Mitwirkung der Vier Mächte zwingend vorschrieb.
Tatsächlich ließen sich die Vier Mächte bei der Regelung der Deutschen Frage nicht umgehen. Aber inzwischen hatte sich die internationale Lage so weit geändert, dass man nicht mehr über die Deutschen hinweggehen konnte. Der Politische Planungsstab im amerikanischen Außenministerium entwickelte deshalb am 28. Januar 1990 die erste Version jener Idee, die sich dann als "Zwei-plus-Vier"-Konzept durchsetzte: Zunächst sollten die beiden deutschen Staaten die ökonomischen, politischen und rechtlichen Fragen der Einigung behandeln. Danach würden die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion zusammen mit der Bundesrepublik und der DDR die außenpolitischen Aspekte des Einigungsprozesses klären, darunter die Frage der Souveränität, die Garantie der Grenzen, den Umfang der deutschen Armee, die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in Bündnissen und die Sicherheitsvorkehrungen für die Nachbarn.
Als Außenminister Baker die Idee am folgenden Tag mit seinem britischen Amtskollegen Douglas Hurd besprach, stimmte Hurd dem Konzept prinzipiell zu, gab jedoch zugleich zu erkennen, dass seine Regierung eine "Vier-plus-Null"-Lösung - also Verhandlungen ohne deutsche Beteiligung - vorziehen würde. Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher lehnte dies sofort kategorisch ab und verwarf ebenfalls den Gedanken eines "2-plus-15"-Rahmens - eine Konferenz der beiden deutschen Staaten mit den Mitgliedern der NATO - oder ein Forum der 35 Staaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Die "Zwei-plus-Vier"-Idee gefalle ihm dagegen sehr gut, so Genscher, aber man müsse sichergehen, dass es zwei plus vier seien, nicht vier plus zwei. Denn die Deutschen müssten bei den Entscheidungen über ihr Schicksal den ersten Platz einnehmen. Wenn dieser Weg beschritten werde, seien die Bundesrepublik und die DDR auch bereit, "die deutsche Angelegenheit" nach Ausarbeitung einer gemeinsamen Lösung auf dem für den Herbst 1990 geplanten Gipfeltreffen der KSZE zu präsentieren.
Einbindung der KSZE
Genschers Ansatz, die deutsche Einigung nur von den beiden deutschen Staaten und den Vier Mächten aushandeln zu lassen, danach aber im Rahmen der KSZE alle anderen europäischen Staaten sowie Kanada in die Entscheidung einzubeziehen, war darauf ausgerichtet, eine Isolierung Deutschlands, wie sie im Deutschen Reich nach 1890 eingetreten war, zu verhindern, und wurde deshalb von Bundeskanzler Kohl nachdrücklich unterstützt. Allen Sorgen, ein wiedervereinigtes Deutschland könne eines Tages zu einer Politik des Expansionismus und des Strebens nach Hegemonie zurückkehren, sollte damit von vornherein der Boden entzogen werden.
Deswegen erklärte der Kanzler auf dem Weltwirtschaftsforum am 3. Februar in Davos, die Bundesrepublik sei stets eine entschiedene Verfechterin der NATO, der europäischen Einigung und des KSZE-Prozesses gewesen und habe zudem die Abrüstung und Rüstungskontrolle unterstützt. Daran werde sich auch künftig nichts ändern. Das vereinte Deutschland werde "ein vertrauenswürdiger Partner" beim Aufbau einer friedlichen Ordnung in Europa sein. Mehr noch: Europa sei "jedes Deutschen Zukunft".
Dennoch ließen sich nicht alle Bedenken ohne weiteres ausräumen. Vor allem Moskau fiel der Schritt zur Unterstützung der Wiedervereinigung schwer. Zumindest wollte man sich maximale Einflussmöglichkeiten vor und nach der Vereinigung sichern. Die "Zwei-plus-Vier"-Formel, die schließlich auch vom französischen Außenminister Roland Dumas gebilligt wurde - ebenfalls mit dem einschränkenden Hinweis, auch Paris hätte eine "Vier-plus-Null"-Lösung vorgezogen -, stieß darum bei der Sowjetunion zunächst auf Ablehnung. Erst am Rande eines Treffens der Außenminister der NATO und des Warschauer Paktes am 13. Februar in Ottawa, bei dem es vordergründig um die Vereinbarung eines "offenen Himmels" - die Erlaubnis zu gegenseitigen Luftinspektionen - ging, wurde Einverständnis erzielt. Inzwischen war der Prozess des Umdenkens in Moskau angesichts der Unumkehrbarkeit der Entwicklung in Deutschland offenbar so weit fortgeschritten, dass man sich entschlossen hatte, den lange hinausgezögerten letzten Schritt zu tun. Die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte vereinbarten daher in Ottawa, dass sie sich in Kürze im Zwei-plus-Vier-Rahmen treffen würden, "um die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit, einschließlich der Fragen der Sicherheit der Nachbarstaaten, zu besprechen".
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
Die Vorbereitungen für die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen begannen auf der Ebene der politischen Direktoren der Außenministerien der beiden deutschen Staaten und der Vier Mächte mit zwei Treffen in Bonn und Berlin am 14. März und 16. April. Die Direktoren verständigten sich darauf, dass die Bündniszugehörigkeit des vereinigten Deutschlands, die Stärke der Bundeswehr und Sicherheitsgarantien für die Nachbarn Deutschlands, die endgültige Festlegung der polnischen Westgrenze, der Abzug der alliierten Streitkräfte, die Aufhebung der alliierten Vorbehaltsrechte sowie die Wiederherstellung der vollen völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen sollten. Die Sowjetunion versuchte, auch den Abschluss eines Friedensvertrages auf die Tagesordnung zu setzen, nahm davon jedoch auf Drängen des Leiters der Bonner Delegation, Dieter Kastrup, wieder Abstand. Kastrup wies nämlich darauf hin, dass Gespräche über dieses Thema auch viele andere Staaten einbeziehen müssten, mit denen das Dritte Reich sich formell im Kriegszustand befunden hatte. Polen dagegen sollte zu der Konferenz hinzugezogen werden, wenn das Thema Oder-Neiße-Linie zu behandeln war.
Die ersten Verhandlungen auf Außenministerebene fanden am 5. Mai 1990 in Bonn statt. Danach traf man sich erneut im Juni in Berlin, im Juli gemeinsam mit polnischen Vertretern in Paris (wo es um die polnische Westgrenze ging) und ein letztes Mal Anfang September in Moskau. Dort wurde am 12. September 1990 auch der "Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland" unterzeichnet, der einen Quasi-Friedensvertrag darstellte und die seit 1945 offene "deutsche Frage" endlich klärte.
Neutralität oder NATO-Mitgliedschaft?
Die Diskussion über den künftigen militärischen Status Deutschlands war bereits vor Ottawa überaus intensiv gewesen. Dabei hatte die amerikanische Regierung ebenso wie Paris und London von Anfang an darauf bestanden, dass sich der Wiedervereinigungsprozess
"im Rahmen der fortbestehenden Verpflichtungen Deutschlands gegenüber der NATO" bewegen müsse, wie es ein wenig unbestimmt hieß. Die sowjetische Führung hatte dagegen im Einklang mit Ministerpräsident Modrow dafür plädiert, dass ein "vereinigtes deutsches Vaterland" neutral sein müsse und weder der NATO noch dem Warschauer Pakt angehören dürfe. Zwischen beiden Positionen hatte Bundesaußenminister Genscher zu vermitteln versucht, als er in einer Rede in der Evangelischen Akademie Tutzing am 31. Januar 1990 erklärt hatte, dass das vereinigte Deutschland zwar Mitglied der NATO sein müsse, NATO-Streitkräfte aber nicht in Ostdeutschland stationiert werden sollten, so dass der Westen aus einer deutschen Wiedervereinigung keinen militärischen Vorteil ziehe.
Der Genscher-Vorschlag wurde zunächst in Kreisen der amerikanischen Regierung als "ein sehr positiver Beitrag" zur Überbrückung der Differenzen zwischen Ost und West begrüßt. Jeder Gedanke an Neutralisierung wurde indessen von den USA ebenso wie von den anderen westlichen Ländern einmütig verworfen.
Auch unter den Verbündeten der UdSSR stieß Modrows Konzept auf wenig Gegenliebe. So ließ der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel am 6. Februar US-Außenminister Baker wissen, dass er ein neutrales Deutschland ablehne und dies auch Gorbatschow mitteilen werde. In ähnlicher Weise bemerkte der polnische Außenminister Krzystof Skubiszewski am folgenden Tag gegenüber Bundeskanzler Kohl, er könne einer Neutralität nichts abgewinnen und teile die Auffassung des Bundeskanzlers, dass Deutschland nicht neutralisiert werden dürfe. "Für uns Polen", so Skubiszewski, "ist die Einbindung Deutschlands entscheidend."
In Ottawa war es jedoch noch zu früh, diese Frage zu entscheiden, da Moskau sich noch nicht mit der vollständigen Westintegration eines wiedervereinigten Deutschlands abfinden mochte. Statt dessen spielte Außenminister Schewardnadse mit der Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitslösung im Rahmen der KSZE, die auch von Genscher und seinem italienischen Amtskollegen Gianni De Michelis vorübergehend aufgegriffen wurde: Eine "zweite Schlussakte von Helsinki" solle "paneuropäische Institutionen" schaffen, um langfristig die bestehenden Militärbündnisse zu ersetzen.
Nach dem Treffen von Ottawa wurde allerdings rasch deutlich, dass Moskau keine andere Möglichkeit mehr sah, als ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO zu akzeptieren. Bereits am 15. Februar verlautete aus sowjetischen Regierungskreisen, dass die Forderung nach entmilitarisierter Neutralität inoffiziell bereits aufgegeben sei. Denn, so ein hochrangiger Funktionär der KPdSU: "Wir haben unsere Fähigkeit eingebüßt, auf die deutsche Innenpolitik Einfluss zu nehmen. Wir haben keine Zeit mehr, eine langfristige außenpolitische Strategie zu praktizieren." Da die Tschechoslowakei, Ungarn und Polen ebenfalls einen baldigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus ihren Ländern wünschten, wuchs der Druck auf Moskau, möglichst schnell eine Vereinbarung mit dem Westen abzuschließen, damit auf dieser Basis ein genereller Truppenrückzug zustande käme.
Überdies drohte inzwischen nicht nur der Zerfall des sowjetischen Imperiums in Osteuropa, sondern auch die Auflösung der Sowjetunion selbst. Nachdem das Zentralkomitee der KPdSU am 7. Februar 1990 durch Änderung des Artikels 6 der sowjetischen Verfassung das Machtmonopol der Partei beseitigt hatte, war die Kritik an den innersowjetischen Verhältnissen dramatisch gestiegen. Unkontrollierte Massendemonstrationen zogen durch Moskau. In Aserbaidschan, Tadschikistan und Armenien kam es bei ethnischen Auseinandersetzungen zu blutigen Kämpfen. Am 12. Februar - einen Tag vor Modrows Besuch in Bonn und noch vor der Konferenz von Ottawa - teilte Gorbatschow deshalb dem DDR-Ministerpräsidenten telefonisch mit, dass es fraglich sei, ob die sowjetische Führung in der Lage sein werde, an der Forderung nach einem Verzicht des vereinigten Deutschlands auf NATO-Mitgliedschaft festzuhalten.
Grenze zu Polen
Die Frage der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze spielte nicht erst im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eine Rolle, sondern war bereits im Sommer 1989 zu einem Thema geworden, als die rechtsradikale Partei der "Republikaner" bei Kommunalwahlen in Westberlin 7,5 Prozent und bei den Wahlen zum Europa-Parlament 7,1 Prozent erhalten hatte. Um weitere Erfolge der Rechten zu verhindern, hatten konservative Politiker daraufhin argumentiert, die Gebiete östlich der Oder und Neiße müssten einbezogen werden, wenn die Deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung kommen sollte. Bundesaußenminister Genscher hatte sich dadurch veranlasst gesehen, in einer Rede vor der UNO am 27. September 1989 im Namen der Bundesregierung zu erklären, dass das Recht des polnischen Volkes, "in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird". Der Bundestag hatte diese Stellungnahme am 8. November durch eineResolution bekräftigt.
Tatsächlich war die politische Konstellation ebenso eindeutig wie die Rechtslage: Juristisch betrachtet konnte eine endgültige Fixierung der Grenzen erst in einem künftigen Friedensvertrag oder einer entsprechenden Regelung mit einem wiedervereinigten Deutschland erfolgen; der seit der Potsdamer Konferenz 1945 bestehende Status besaß damit nur vorläufige Gültigkeit. Zugleich jedoch hatten die Bundesrepublik und die DDR die Oder-Neiße-Grenze wiederholt als für sie verbindlich anerkannt: die DDR im Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950, die Bundesrepublik in ihrer allgemeinen Gewaltverzichtserklärung vom 3. Oktober 1954 und besonders im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970. Eine Revision der Oder-Neiße-Grenze wurde daher weder von der DDR noch von der Bundesrepublik angestrebt.
Dennoch wurde das Thema im November 1989 erneut zum Problem, als Bundeskanzler Kohl - ungeachtet der Genscher-Äußerung vor der UNO und der folgenden Bundestagsresolution - bei seinem Polen-Besuch zur Zeit der Maueröffnung sorgfältig vermied, die Grenzgarantie zu wiederholen. Trotz öffentlicher Kritik blieb der Kanzler unbeirrt bei seiner Position, dass eine endgültige Festlegung erst durch "eine frei gewählte gesamtdeutsche Regierung und ein frei gewähltes gesamtdeutsches Parlament" vorgenommen werden könne. Kohl zog sich damit auf den rechtlichen Standpunkt zurück, wobei das Motiv für sein Verhalten in den Erfolgen der Partei der Republikaner und dem Bemühen zu suchen war, ihnen im Vorfeld der für den 2. Dezember 1990 geplanten Bundestagswahlen keine indirekte Schützenhilfe zu leisten.
In Polen sorgte dieses Verhalten jedoch für beträchtliche Unruhe und Aufregung, die durch die Perspektive einer baldigen deutschen Wiedervereinigung noch zusätzlich geschürt wurden, so dass die polnische Regierung eine diplomatische Offensive startete, um einen Platz am Konferenztisch der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu erhalten. Aber der Kanzler weigerte sich nicht nur weiterhin, ein klärendes Wort zu sprechen, sondern lehnte auch die Teilnahme Polens an den Verhandlungen ab. Lediglich eine weitere Resolution des Bundestages zur Oder-Neiße-Frage wurde am 8. März 1990 ohne Gegenstimme bei nur fünf Enthaltungen verabschiedet.
Als der französische Staatspräsident Mitterrand daraufhin am 10. März anlässlich eines Besuchs seines polnischen Amtskollegen Jaruzelski und von Ministerpräsident Mazowiecki in Paris erklärte, dass vor einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten ein deutsch-polnischer Grenzvertrag geschlossen werden müsse, ging der Bundeskanzler in die Offensive. In zwei langen Telefongesprächen mit Mitterrand und dem Präsidenten der Kommission der Europä-ischen Gemeinschaft, Jacques Delors, kündigte er an, dass er den deutschen Einigungsprozess nunmehr beschleunigen werde und von den Verbündeten erwarte, "dass sie sich nicht verstecken, wenn Sturm aufkommt". Das amerikanische Außenministerium wurde noch einmal offiziell in Kenntnis gesetzt, dass ein deutsch-polnischer Grenzvertrag erst nach der Wiedervereinigung möglich sei.
Der Ausgang der Wahlen zur DDR-Volkskammer am 18. März trug weiter dazu bei, die Position Kohls zu stärken. Als Präsident Bush dem Kanzler zum Wahlsieg seiner Partei in Ostdeutschland gratulierte, fügte er hinzu, dass er Mazowiecki am folgenden Tag in Washington sagen werde, dass er der westdeutschen Regierung vertraue und dass der polnische Ministerpräsident dies ebenfalls tun solle. Damit wurde der polnischen Seite klar, dass eine gleichberechtigte Teilnahme an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nicht durchzusetzen war. Außenminister Skubiszewski erklärte sich deshalb am 26. März mit Genschers Position einverstanden, dass die Oder-Neiße-Grenze eine deutsch-polnische Angelegenheit und ihre Behandlung durch die Vier Mächte daher unpassend sei. Zudem ließen die Polen ihre Forderung fallen, dass ein Zwei-plus-Vier-Treffen in Warschau abgehalten werden solle.
Garantien innerhalb der NATO
Der Wahlausgang in der DDR führte auch bei den Regierenden in Paris und Moskau zu einer grundsätzlichen Änderung ihrer Politik. Die französische Führung, die offensichtlich besorgt war, dass ein wiedervereinigtes Deutschland das Interesse an der Europäischen Gemeinschaft verlieren könnte, drang nun sogar darauf, dass die Bundesrepublik die DDR so schnell wie möglich integrieren möge. Außenminister Dumas erklärte, dass es am besten wäre, wenn "die ostdeutschen Provinzen" einfach in die Bundesrepublik übernommen würden, um "den komplizierten Prozess der Aufnahme eines dreizehnten Staates in die Gemeinschaft" zu vermeiden. Und Mitterrands außenpolitischer Berater Jacques Attali informierte Kohl, dass Paris jetzt "mit Hochdruck" an einer EG-Initiative zur Errichtung einer Europäischen Union arbeite, um so das vereinigte Deutschland fest in die europäische Integration einzubetten.
Auf der anderen Seite deutete Moskau am Tag nach der Volkskammerwahl offiziell an, dass es sich mit der Mitgliedschaft eines geeinten Deutschland in der NATO abfinden wolle. Nikolai Portugalow meinte, dass dies zwar offiziell immer noch abgelehnt werde, es aber nur "die Ausgangsposition bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen" sei. Wjatscheslaw Daschitschew, einer der führenden sowjetischen Deutschland- und Europaexperten, ging sogar noch einen Schritt weiter, als er am 20. März in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" die Ansicht formulierte, dass die UdSSR an einer deutschen NATO-Mitgliedschaft sogar interessiert sein müsse. "Man muss das geeinte Deutschland in den Rahmen der NATO einfügen [...]. Es gibt das Bild einer Kanone, die an Bord eines Schiffes nicht festgezurrt ist, und einige Leute vergleichen ein neutrales Deutschland mit einer solchen Kanone."
Demnach wurde inzwischen auch in der Sowjetunion die Auffassung vertreten, dass ein in das westliche Bündnis eingebundenes Deutschland weniger gefährlich und daher eher zu befürworten sei als ein in der Mitte Europas frei "herumvagabundierendes" Deutschland. Auch Außenminister Schewardnadse schien ähnlich zu denken, wie man einer Äußerung von ihm während eines Treffens mit seinen Amtskollegen Baker und Genscher am 22. März entnehmen konnte.
Bei der Vorbereitung der ersten Zwei-plus-Vier-Konferenz am 5. Mai in Bonn fühlte sich der Kanzler deshalb stark genug, in der Frage der NATO-Mitgliedschaft zu fordern, dass
die Schutzklauseln in Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages für ganz Deutschland gelten müssten,
der Abzug der sowjetischen Truppen auf der Basis fester Zeitvereinbarungen erfolgen müsse und
Bundeswehrstationierung und Wehrpflicht für Gesamtdeutschland zu gelten hätten.
"Charta der Zusammenarbeit"
Im Gegenzug sollte Moskau ein umfassender bilateraler Vertrag über Kooperation und Gewaltverzicht angeboten werden. Als Kohl die Idee am 23. April gegenüber dem sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski darlegte und dabei bemerkte, er wolle gewissermaßen eine "Charta der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Sinne der großen geschichtlichen Tradition vereinbaren", reagierte Kwizinski beinahe euphorisch. Seit er nach Deutschland gekommen sei, sei es sein Traum gewesen, "zwischen Deutschland und der Sowjetunion etwas im Bismarckschen Sinne zu schaffen". Ein Vertrag, wie ihn der Bundeskanzler vorschlage, sei im Sinne von Präsident Gorbatschow. Bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen komme es Moskau vor allem darauf an, eine deutliche Verringerung der Stärke der Bundeswehr zu erreichen. Auch die Truppen der Vier Mächte sowie die Zahl der Kernwaffen auf deutschem Boden müssten reduziert werden.
Über alles dies ließ sich nach sowjetischer Auffassung jedoch Einvernehmen erzielen. Als wichtig erschien vor allem, dass der Kanzler mit seinem Angebot eines umfassenden bilateralen Vertrages einen Vorschlag unterbreitet hatte, der in Moskau die Vertrauensbasis für eine Regelung der Einzelfragen schuf. Kohls außenpolitischer Berater Horst Teltschik notierte deshalb am 23. April in sein Tagebuch, offenbar habe die sowjetische Führung nur auf einen derartigen "weiterführenden Vorschlag von uns gewartet".
Treffen im Kaukasus
Mit dem Vorschlag vom 23. April begann ein deutsch-sowjetisches "Sonderverhältnis", das den ganzen Sommer 1990 hindurch andauerte und mit dem Treffen zwischen Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow in dessen Jagdhütte im Kaukasus, wo auch der Durchbruch zur deutschen Wiedervereinigung erzielt wurde, seinen Höhepunkt erreichte. Geld spielte dabei ebenfalls eine große Rolle. Denn die Sowjetunion befand sich in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise, aus der sie mit Hilfe des Westens herauszufinden suchte.
So äußerte Außenminister Schewardnadse am 4. und 5. Mai 1990 während der ersten Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Bonn in Hintergrundgesprächen sogleich den Wunsch nach einem neuen deutschen Kredit für die UdSSR; ein Kompromiss in der Frage der deutschen NATO-Mitgliedschaft sei danach nicht ausgeschlossen. Bundeskanzler Kohl zögerte nicht lange. Nachdem umfangreiche Lebensmittellieferungen im Januar schon wesentlich zur Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach den vorangegangenen Irritationen der Maueröffnung beigetragen hatten, bot sich nun eine weitere Chance, das Verhältnis zu entspannen und den Boden für Kompromisse in den schwierigen Fragen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zu bereiten.
Der sowjetische Kreditbedarf belief sich nach Auskunft von Botschafter Kwizinski auf 20 Milliarden DM in fünf bis sieben Jahren. Da die ernsthafte Gefahr bestand, dass Gorbatschow auf dem im Juli 1990 bevorstehenden Parteitag der KPdSU gestürzt werden könnte, wenn die UdSSR nicht zusätzliche Finanzmittel aus dem Westen erhielt, hatte Kohl kaum eine andere Wahl, als den sowjetischen Wünschen zu entsprechen.
Schon am 13. Mai reiste daher Horst Teltschik zusammen mit Hilmar Kopper und Wolfgang Röller, den Vorstandsvorsitzenden der Deutschen und der Dresdner Bank, in geheimer Mission nach Moskau, um den Kredit einzufädeln. Dort wurden sie von Ministerpräsident Ryschkow mit den konkreten sowjetischen Forderungen konfrontiert: Die UdSSR benötige kurzfristig einen ungebundenen Finanzkredit von 1,5 bis zwei Milliarden DM, um ihre Zahlungsfähigkeit zu sichern und international nicht ins Gerede zu kommen. Darüber hinaus sei ein langfristiger Kredit in Höhe von zehn bis 15 Milliarden DM zu Vorzugsbedingungen erforderlich, dessen Tilgungsfrist zehn bis fünfzehn Jahre bei fünf Freijahren betragen solle.
Die Forderungen bewiesen, wie groß die sowjetischen Zahlungsprobleme waren und welches Gewicht die Moskauer Führung in diesem Zusammenhang den deutsch-sowjetischen Beziehungen beimaß. Tatsächlich waren Gorbatschow und Schewardnadse in hohem Maße auf Bonn angewiesen, wenn sie in ihrem Lande politisch überleben wollten. Diese Konstellation ließ sich nutzen. Kohl begründete deshalb in einem Gespräch mit Röller und Kopper am 21. Mai im Kanzleramt seine Bereitschaft zur Kredithilfe für Gorbatschow mit dem Bild des Bauern, "der vor einem heraufziehenden Gewitter seine Ernte rechtzeitig in die Scheune einbringen" müsse. In einem Brief vom folgenden Tag bot der Kanzler der Sowjetunion einen ungebundenen Finanzkredit bis zur Höhe von fünf Milliarden DM an, verband damit allerdings die Erwartung, "dass die Regierung der UdSSR im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses im gleichen Geiste alles unternimmt, um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglichen".
Der Kreditvertrag wurde am 18. Juni in Moskau unterzeichnet und von der Bundesregierung Anfang Juli mit den erforderlichen Garantien versehen. Bereits am 13. Juli informierte Finanzminister Theo Waigel den Kanzler, dass die fünf Milliarden in vollem Umfang ausgeschöpft worden seien, womit die angespannte finanzielle Lage der Sowjetunion nochmals unterstrichen wurde.
Die Bonner Finanzhilfe für Moskau trug erwartungsgemäß wesentlich dazu bei, die äußeren Aspekte des deutschen Wiedervereinigungsprozesses zu lösen. Noch im Juni bewegte sich der Kreml schrittweise auf eine Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands zu. Die Bundesregierung bot dafür eine deutliche Reduzierung der Stärke der Bundeswehr an, wobei Außenminister Genscher gegenüber Schewardnadse von einer Gesamtzahl von 350.000 Mann sprach, während Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg eine Obergrenze von 370.000 Mann befürwortete.
Reduzierung der Nuklearwaffen
Die NATO ihrerseits kam der UdSSR dadurch entgegen, dass sie auf einer Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs ihrer Mitgliedstaaten am 5. und 6. Juli 1990 in London eine Erklärung verabschiedete, in der ein grundlegender Wandel der Atlantischen Allianz angekündigt wurde: NATO und Warschauer Pakt sollten sich "nicht länger als Gegner betrachten". Die NATO werde ihre Streitkräftestruktur und Strategie den veränderten Bedingungen der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges anpassen. Die Zahl der Nuklearwaffen werde reduziert und die Strategie der "flexiblen Erwiderung" so umgestaltet, dass sie "eine verminderte Abstützung auf Nuklearwaffen" widerspiegele. Damit wolle die Allianz dazu beitragen, "die Hinterlassenschaft von Jahrzehnten des Misstrauens zu überwinden".
Während sich die Staats- und Regierungschefs der NATO in London versammelten, fand in Moskau vom 2. bis 13. Juli der 28. Parteitag der KPdSU statt, auf dem über das Schicksal Gorbatschows und damit auch über die sowjetische Deutschlandpolitik entschieden wurde. Die "Londoner Erklärung" mit ihrem versöhnlichen Ton kam deshalb ebenso gelegen wie der Milliardenkredit aus Bonn, der genau zu diesem Zeitpunkt von der Sowjetunion in Anspruch genommen werden konnte. Außenminister Schewardnadse bemerkte später in seinen Memoiren, die Erklärung der NATO habe möglicherweise seine Politik "gerettet". Andernfalls wäre es für Gorbatschow und ihn unmöglich gewesen, sich innenpolitisch durchzusetzen. Besonders die Deutschlandpolitik war auf dem Parteitag umkämpft. "Generale und Parteibürokraten, angeführt von Jegor Ligatschow", so Schewardnadse 1991 in einem deutschen Nachrichtenmagazin, hätten "gegen den Verlust der westlichen Bastion des sozialistischen Lagers erbittert Widerstand geleistet". Doch Gorbatschow und Schewardnadse konnten sich durchsetzen, und Gorbatschow wurde am 10. Juli mit klarer Mehrheit in seinem Amt als Generalsekretär der KPdSU bestätigt.
Für Deutschland war diese Entwicklung mitentscheidend für den weiteren Verlauf des Wiedervereinigungsprozesses. Denn unmittelbar nach seiner Wiederwahl lud der dankbare Gorbatschow Bundeskanzler Kohl in seinen Heimatort Stawropol im Kaukasus ein. Die persönliche Einladung war ein Ausdruck des Vertrauens und ein Indiz für mögliche weitere Fortschritte in den deutsch-sowjetischen Beziehungen.
Schon in Moskau, wo Gorbatschow den Kanzler am 14. Juli in kleinem Kreis im Gästehaus des Außenministeriums empfing, wurde der Durchbruch erreicht. Bereits hier gestand der sowjetische Generalsekretär zu, dass Deutschland weiterhin Mitglied der NATO bleiben könne. Die NATO müsse lediglich für eine Übergangsperiode berücksichtigen, dass ihr Geltungsbereich nicht auf das DDR-Territorium übertragen werde, solange dort noch sowjetische Truppen stationiert seien. Eine solche Entscheidung, so Gorbatschow, stelle beide Seiten zufrieden. Im Übrigen werde das Abschlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen die Aufhebung der Viermächteverantwortung für Deutschland ohne Übergangszeit feststellen. Es sei nur ein separater Vertrag über den Aufenthalt der sowjetischen Streitkräfte auf dem bisherigen DDR-Territorium für die Dauer von drei bis vier Jahren erforderlich.
Einigung
Damit waren die historischen Sätze gesprochen, die den Weg zur Wiedervereinigung Deutschlands ebneten. Im Jagdhaus Gorbatschows im engen Flusstal des Selemtschuk im Kaukasus, oberhalb von Stawropol, herrschte danach eine gelöste Stimmung. Die Bilder gingen um die Welt: Gorbatschow kletterte eine steile Böschung zum kristallklaren Wasser des Flusses hinunter und streckte Kohl seine Hand entgegen, um ihn aufzufordern, ihm zu folgen - Deutsche und Russen versöhnlich vereint.
Bei den formalen Verhandlungen, die am nächsten Morgen, dem 16. Juli, am Frühstückstisch des Jagdhauses begannen, bewies Gorbatschow eine "erfreuliche Konsequenz", wie Horst Teltschik in seinem Tagebuch notierte, und bestätigte das Entgegenkommen, das er schon am Vortag gegenüber dem Bundeskanzler bewiesen hatte. Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen sollten mit einem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag abgeschlossen werden. Das geeinte Deutschland würde die Bundesrepublik, die DDR und Berlin umfassen und Mitglied der NATO sein können. Bedingung war lediglich der Verzicht auf ABC-Waffen und die Nichtausdehnung der militärischen Strukturen der NATO auf das Gebiet der bisherigen DDR, solange dort noch sowjetische Truppen standen.
Nachdem die Details der Vereinbarungen ausgehandelt waren, wobei man sich schließlich auch noch auf 370.000 Mann als Obergrenze für die Truppenstärke der Bundeswehr einigte, waren alle wesentlichen Hindernisse ausgeräumt, die einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch im Wege gestanden hatten. Aus deutscher Sicht waren die Ergebnisse sensationell: Deutschland würde wiedervereinigt. Es würde vollständig souverän sein. Es konnte Mitglied der NATO bleiben. Deutsche Streitkräfte würden in ganz Deutschland stationiert sein. Und die Sicherheitsgarantien der Artikel 5 und 6 des Nordatlantischen Vertrages würden unverzüglich für ganz Deutschland gelten, sobald das Schlussdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen in Kraft getreten war.
Für die sowjetischen Partner waren der Verlauf und das Resultat der Gespräche im Kaukasus weniger erfreulich. Als Außenminister Schewardnadse in Mineralnie Wodi das Flugzeug nach Paris bestieg, wo am nächsten Tag eine weitere Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen stattfinden sollte, sah er sich einem "hochnotpeinlichen Verhör" mitreisender sowjetischer Journalisten ausgesetzt, die wissen wollten, warum alle Fragen so blitzschnell gelöst worden seien. Schewardnadse bestritt, dass übereilt gehandelt worden sei. Wie er in seinen Memoiren berichtet, erklärte er dabei zu den Motiven für das Handeln der sowjetischen Führung: "Wir sind außerstande, Deutschlands Wiedervereinigung zu stoppen, es sei denn mit Gewalt. Doch das käme einer Katastrophe gleich. Wenn wir uns einer Beteiligung an diesem Prozess entziehen würden, so würden wir vieles einbüßen. Wir würden keine Grundlagen für das neue Verhältnis zu Deutschland schaffen und die gesamteuropäische Situation beeinträchtigen."
Zu der Entscheidung, der Wiedervereinigung Deutschlands zu westlichen Bedingungen zuzustimmen, gab es für die Sowjetunion tatsächlich keine vernünftige Alternative. Nur eine erneute militärische Intervention wie am 17. Juni 1953 hätte den historischen Prozess der deutschen Vereinigung noch aufhalten können. Dazu aber war die sowjetische Führung um Gorbatschow und Schewardnadse nicht bereit. Im Interesse des Friedens in Europa und der Neuordnung der sowjetischen Beziehungen zum Westen - vor allem zur Bundesrepublik - wurde die DDR daher in die Wiedervereinigung entlassen. Dafür hoffte der Kreml auf eine großzügige Kooperation mit dem geeinten Deutschland, um die gewaltigen wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Sowjetunion zu lösen, die ohne westliche Hilfe nicht mehr beherrschbar schienen.
Zwei-plus-Vier-Vertrag
Der Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen war nach der Einigung im Kaukasus nur noch Formsache. Am 17. Juli fand in Paris die dritte Runde der Außenministergespräche mit zeitweiliger polnischer Beteiligung statt. Es wurde festgelegt, die polnische Forderung nach einer endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze in das Zwei-plus-Vier-Abschlussdokument aufzunehmen, das völkerrechtlich verbindlich sein würde. Danach handelten die Bundesrepublik und die Sowjetunion die bilateralen Verträge aus, die im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Prozesses vereinbart worden waren. Dies betraf vor allem den so genannten Generalvertrag über eine umfassende Kooperation zwischen Deutschland und der Sowjetunion sowie den "Überleitungsvertrag" über die Stationierung sowjetischer Truppen auf dem bisherigen Territorium der DDR für weitere drei bis vier Jahre und ihre anschließende Rückführung in die UdSSR. Trilaterale Gespräche zusammen mit der DDR-Regierung bezogen sich auf die Fortsetzung der Zusammenarbeit zwischen DDR-Unternehmen und sowjetischen Firmen.
Ein großes Problem tauchte im August auf, als Außenminister Schewardnadse seinen deutschen Amtskollegen brieflich darüber informierte, dass ein sowjetischer Truppenabzug nicht innerhalb von drei bis vier Jahren, sondern frühestens in fünf bis sieben Jahren möglich sei. Der Abzug hänge "vom Umfang der deutschen materiellen und finanziellen Unterstützung" ab. Schewardnadses Brief folgte am 28. August ein Besuch des stellvertretenden sowjetischen Außenministers Juli Kwizinski im Kanzleramt, bei dem dieser forderte, die Bundesrepublik solle sowohl für die Transportkosten des Truppenabzuges als auch für den Bau neuer Unterkünfte für die zurückkehrenden Soldaten in der Sowjetunion aufkommen. Außerdem müsse Bonn den Aufenthalt der noch in der DDR verbleibenden Truppen bezahlen. Andernfalls, so Kwizinski, werde es in der sowjetischen Armee zum Aufruhr kommen.
Botschafter Wladislaw Terechow präzisierte am 5. September die sowjetischen Vorstellungen. Die finanziellen Forderungen beliefen sich demnach auf 3,5 Milliarden DM Stationierungskosten für die Zeit von 1990 bis 1994, drei Milliarden DM Transportkosten, 11,5 Milliarden DM für den Bau von 72.000 Wohnungen einschließlich der notwendigen Infrastruktur mit Kindergärten, Läden, Apotheken usw., 500 Millionen DM für ein Programm zur Weiterbildung und Erziehung sowie bis zu 17,5 Milliarden DM für die Rückgabe der sowjetischen Immobilien in der DDR. Bundeskanzler Kohl, der mit Außenminister Genscher, Finanzminister Waigel und Wirtschaftsminister Haussmann übereingekommen war, auch in diesem Falle Entgegenkommen zu zeigen, bot Gorbatschow in einem Telefongespräch am 7. September einen Gesamtbetrag von acht Milliarden DM an. Doch Gorbatschow beharrte auf einer weit höheren Summe. Allein für den Wohnungsbau müsse man elf Milliarden DM veranschlagen. Dazu kämen noch die Transport- und Aufenthaltskosten.
Der sowjetische Generalsekretär schilderte die Situation als sehr alarmierend. Es sei jetzt wichtig, "den Knoten zu zerschlagen". Am 10. September bot Kohl deshalb elf bis zwölf Milliarden DM an. Gorbatschow erklärte dazu, er hoffe, dass man sich auf 15 bis 16 Milliarden einigen könne. Er habe "viele Kämpfe mit der Regierung, mit den Militär- und Finanzfachleuten ausgefochten". Das Ergebnis seien die von ihm genannten 15 Milliarden DM. Wenn dieses Ziel nicht zu erreichen sei, müsse "praktisch alles noch einmal von Anfang an erörtert werden". Danach hielt der Kanzler den Zeitpunkt für gekommen, zusätzlich zu den zwölf Milliarden DM einen zinslosen Kredit in Höhe von drei Milliarden DM anzubieten. Gorbatschow war erleichtert: so könne das Problem gelöst werden. Einige Stunden später rief Kwizinski aus Moskau im Kanzleramt an und teilte der Bundesregierung mit, dass der Generalsekretär die Weisung erteilt habe, den Überleitungsvertrag mit der Bundesrepublik nunmehr abzuschließen.
Volle Souveränität
Zwei Tage darauf, am 12. September, endeten auch die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen der
Außenminister mit einem Treffen in Moskau und der Unterzeichnung des "Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland". Der Vertrag regelte in zehn Artikeln die außenpolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung und kam damit einem Friedensvertrag zwischen Deutschland und den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gleich, auch wenn dieser Begriff mit gutem Grunde (siehe unten) tunlichst vermieden wurde. Das Ergebnis war die Wiederherstellung der deutschen Einheit und die Wiedererlangung der "vollen Souveränität Deutschlands über seine inneren und äußeren Angelegenheiten".
Da der Vertrag allerdings erst nach Hinterlegung der letzten Ratifikations- bzw. Annahmeurkunde in Kraft trat (als letzte Vertragspartei ratifizierte die UdSSR den Vertrag am 3. März 1991), wurden die Vorbehaltsrechte der Alliierten durch Erklärung der Außenminister der Vier Mächte bei ihrem Treffen in Moskau am 12. September 1990 vom Tag der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt. Deutschland wurde daher schon am 3. Oktober 1990 ein souveräner Staat ohne Einschränkungen, nachdem am Vortag der deutschen Einheit auch die alliierte Kommandantur in Berlin ihre Arbeit beendet hatte und alle auf Besatzungsrecht beruhenden innerdeutschen Bestimmungen - etwa die Bindung des Flugverkehrs nach Berlin an Luftkorridore - entfallen waren.
Rechtlich betrachtet bedeutete die Wiedergewinnung der vollen Souveränität für Deutschland, dass es keines besonderen Friedensvertrages mehr bedurfte. Da bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen neben den beiden deutschen Staaten nur die vier Großmächte teilgenommen hatten, nicht jedoch die vielen anderen Staaten, die sich ebenfalls mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Kriegszustand befunden hatten und deshalb auch zu Friedensverhandlungen hätten hinzugezogen werden müssen, wurde dadurch für einen gewissen Ausgleich gesorgt, dass die 35 Mitgliedsstaaten der KSZE von den Vereinbarungen am 2. Oktober 1990 offiziell in Kenntnis gesetzt wurden. Die deutsche Einigung, die sich am 3. Oktober durch den Beitritt der fünf ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes vollzog, kam daher nicht nur mit dem verbrieften Einverständnis der Vier Mächte, sondern auch mit Zustimmung aller in der KSZE vertretenen Staaten zustande.
Die außenpolitische Isolierung, in die das Deutsche Reich nach 1871 geraten war und die bis zur Teilung Deutschlands 1945 eine schwere, nie zu verkraftende Bürde gewesen war, sollte damit diesmal von vornherein verhindert werden. Das wiedervereinigte Deutschland wurde Teil einer neuen europäischen Ordnung, in der es sich von Anfang an nicht als Fremdkörper, sondern als von allen akzeptierter Mitspieler fühlen durfte.
Was in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bisher nur deutsche Teilstaaten erreicht hatten, war jetzt erstmals auch einem vereinten Deutschland möglich: die gleichberechtigte und versöhnliche Teilnahme an der europäischen Politik - mit allen Rechten und Pflichten, die auch für die anderen Staaten galten, und der Chance zur endgültigen Abkehr vom deutschen "Sonderweg", der seit Bismarck, spätestens aber seit Kaiser Wilhelm II., den Kurs Deutschlands und Europas geprägt und belastet hatte.
Auszug aus: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250)