Die Wahl in der DDR vom 18. März 1990 wurde nicht nur durch die Diskussion über die Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion zwischen den beiden deutschen Staaten bestimmt, sondern stand insgesamt bereits stark unter dem Einfluss westdeutscher Parteien und Politiker. Dieses bestimmende westliche Engagement war weniger das Ergebnis eines gezielten Handelns der westdeutschen Vertreter, als vielmehr die Folge des rapiden Zerfalls der Autorität des ostdeutschen Staates, der zu Jahresbeginn 1990 ein bemerkenswertes Ausmaß erreichte. So ergab eine Anfang Februar vom Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung und dem westdeutschen Nationalen Marktforschungsinstitut gemeinsam durchgeführte Meinungsumfrage, dass 75 Prozent der Ostdeutschen sich nunmehr für die Wiedervereinigung aussprachen - 27 Prozent mehr als im November 1989.
Der Wahlkampf für die ersten freien Parlamentswahlen der DDR am 18. März wurde von diesem Stimmungswandel bestimmt. Die Wahl war ursprünglich für den 6. Mai geplant gewesen, aber die Modrow-Regierung und die Oppositionsvertreter am Runden Tisch hatten am 28. Januar entschieden, den Termin vorzuverlegen, da sich die politische und wirtschaftliche Situation derart schnell verschlechterte, dass es fraglich war, ob die DDR im Mai überhaupt noch existieren würde. Nun bewarben sich neben der SED, die jetzt unter dem Namen "Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS) antrat und als lange eingespielte Organisation mit großem Mitarbeiterstab kaum Probleme hatte, den Wahlkampf aufzunehmen, mehr als 50 neue politische Gruppierungen und Parteien um die Gunst der Wählerinnen und Wähler. Die Mitgliederzahl der SED/PDS war zwar innerhalb weniger Monate von 2,4 Millionen auf 890.000 Ende Januar 1990 gesunken, aber dennoch war die alte DDR-Staatspartei den politischen Amateuren der neu gebildeten Gruppierungen hinsichtlich Organisation, Parteidisziplin und politischer Erfahrung weit überlegen.
Bürgerbewegungen
Das Neue Forum kann als ein Beispiel für die organisatorische und konzeptionelle Schwäche idealistischer Kräfte im politischen Alltag gelten. Gegründet im September 1989 von einer Initiativgruppe unter Führung von Bärbel Bohley und Jens Reich, sollte es dazu verhelfen, aus dem Volk heraus ein neues, humanes und sozialistisches Ostdeutschland zu schaffen. Ziel des Neuen Forums war es, dem Willen der Menschen Ausdruck zu verleihen, ohne ihnen bereits vorgegebene Strukturen oder Konzeptionen überzustülpen. Unter der kommunistischen Herrschaft war dieser Ansatz kühn und herausfordernd gewesen. Inzwischen wurde er jedoch von vielen angesichts der Verlockungen der westlichen Wohlstandsgesellschaft für überholt gehalten.
QuellentextNeues Forum: Gründungsappell vom 9. September 1989
Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewusste Menschen, die doch gemeinschaftsbewusst handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden; aber niemand soll auf Kosten anderer krank feiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zum Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden.
Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen Dialogs über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam und im ganzen Land, nachdenken und miteinander sprechen. [...] Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,
dass eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozess mitwirkt,
dass die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden.
Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische Plattform für die ganze DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen Neues Forum. [...] Allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an einer Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forums zu werden.
Die ersten Texte des Neuen Forums, Berlin 1990, S. 1 f.
Andere Bürgerbewegungen, wie Demokratie Jetzt und die Initiative für Frieden und Menschenrechte, litten unter ähnlichen Motivationsproblemen und konzeptionellen Schwächen. Die Ursprünge von Demokratie Jetzt, die ihre Wurzeln in der evangelischen Kirche der DDR hatte, reichten bis 1986 zurück. Die eigentliche Gründung erfolgte jedoch erst Mitte September 1989 mit einem "Aufruf zur Einmischung", der unter anderem von Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß unterzeichnet worden war. In einem "Bündnis aller reformwilligen Menschen, auch von Christen und kritischen Marxisten", wurde zur "demokratischen Umgestaltung der DDR" aufgefordert, in der ein eigener Sozialismus verwirklicht werden sollte. Die Forderungen schlossen jedoch auch die Bundesrepublik ein: Beide deutschen Staaten sollten sich "um der Einheit willen aufeinander zu reformieren".
Die Initiative für Frieden und Menschenrechte (IFM) war aus der internationalen Friedensbewegung der frühen achtziger Jahre hervorgegangen und hatte sich 1986 als erste unabhängige Oppositionsgruppe in der DDR etabliert, um die Abrüstung zu fördern und politische Dissidenten zu unterstützen. Die IFM ließ sich durchaus mit ähnlichen Gruppierungen im Westen vergleichen und unterhielt Arbeitsbeziehungen zur Alternativen Liste in West-Berlin und zu den Grünen in Westdeutschland. Im Hinblick auf die Volkskammerwahlen am 18. März schloss sich die IFM mit dem Neuen Forum und Demokratie Jetzt zu einem Wahlbündnis unter der Bezeichnung "Bündnis 90" zusammen.
Die gemeinsame Schwäche aller drei Gruppierungen war jedoch das Fehlen starker westlicher Partner und einer funktionierenden Parteiorganisation. Sie waren als Bürgerbewegungen gegründet worden und stützten sich auf ein Netzwerk von "Basisgruppen", die mehr oder weniger unabhängig voneinander operierten, ohne festes Programm und strenge Disziplin. Hintergrund dieses Bemühens um maximalen Bewegungsspielraum und größtmögliche Pluralität war die Erfahrung von nahezu sechs Jahrzehnten nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur. "Basisdemokratie" erschien deshalb als magische Formel für ein alternatives Regierungskonzept, das die meisten Anhänger der Initiativgruppen - viele von ihnen Intellektuelle, Künstler, aktive Kirchenmitglieder und frühere Dissidenten - für ideal hielten, um das SED-Regime zu ersetzen. Die Frage war nur, ob auch eine Mehrheit der DDR-Bürger nach 40 Jahren Kommunismus bereit war, ein weiteres Experiment zu wagen, oder ob sie eher den bewährten Konzepten nach westlichem Vorbild zuneigten, die die etablierten Parteien anboten.
Parteien
Die Sozialdemokratische Partei, die Anfang Oktober 1989 von 43 Dissidenten - unter ihnen der Dramaturg Ibrahim Böhme und Pastor Markus Meckel - in Schwante nahe Oranienburg gegründet worden war, verfügte über ein derartiges bewährtes Programm. Die ostdeutschen Sozialdemokraten konnten sich nicht nur auf die lange Tradition der deutschen Arbeiterbewegung berufen, sondern erhielten auch frühzeitig Unterstützung von ihrer Schwesterpartei, der mächtigen westdeutschen SPD. Ein gemeinsamer "Verbindungsausschuss" wurde eingerichtet, und eine ganze Reihe von SPD-Politikern und politischen Experten reiste in die DDR, um ihren ostdeutschen Kollegen beim Aufbau einer effektiven Parteiorganisation zu helfen. Willy Brandt wurde Ehrenvorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten; Wahlkampfposter porträtierten ihn über seinem oft zitierten Slogan "Was zusammengehört, wächst zusammen". Die Ost-SPD konnte der Wahl damit zuversichtlich entgegensehen. Die meisten politischen Beobachter gingen davon aus, dass sie überlegen gewinnen und die neue Regierung stellen würde.
Auf der anderen Seite zögerte die westdeutsche CDU sehr viel länger, ihr ostdeutsches Pendant zu unterstützen. Ihr Problem bestand darin, dass die Ost-CDU keine Neugründung war, sondern vierzig Jahre lang als "Blockpartei" in der Nationalen Front mit der SED kollaboriert und die Kommunisten unterstützt hatte. Auch nachdem ihr Vorsitzender Gerald Götting am 10. November 1989 durch Lothar de Maizière ersetzt worden war und bis Mitte Dezember ergänzende personelle und programmatische Veränderungen vorgenommen worden waren, ließen sich die Belastungen der Vergangenheit nicht so leicht abstreifen. Kooperationsangebote der westdeutschen Christdemokraten blieben daher zunächst aus. Dazu trugen auch Äußerungen de Maizières bei, der am 19. November in einem Interview erklärte, er halte den "Sozialismus für eine der schönsten Visionen menschlichen Denkens" und teile nicht die Auffassung, "dass die Forderung nach Demokratie zugleich die Forderung nach Abschaffung des Sozialismus beinhaltet". Auch sei die Einigung Deutschlands nicht "das Thema der Stunde". Es handele sich dabei vielmehr um Überlegungen, "die vielleicht unsere Kinder oder unsere Enkelanstellen können".
Kopfzerbrechen bereitete der West-CDU ferner, dass ihre ostdeutsche Schwesterpartei aktiv in der Modrow-Regierung mitarbeitete und noch am 19. Januar für eine Fortsetzung dieser Tätigkeit votierte, um "die Situation im Lande nicht weiter zu destabilisieren". Bundeskanzler Kohl wartete daher bis Anfang Februar, ehe er zum ersten Mal mit Lothar de Maizière zusammentraf, um seine Hilfe anzubieten.
Inzwischen waren mit dem Demokratischen Aufbruch (DA) und der Deutschen Sozialen Union (DSU) zwei weitere, eher konservative Gruppierungen entstanden, die als Bündnispartner in Frage kamen. Der DA war teils christlich-ökologisch, teils christlich-konservativ orientiert und wurde personell vor allem von Pastor Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg, Rechtsanwalt Wolfgang Schnur aus Rostock und dem Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann getragen. Insbesondere Eppelmann favorisierte eine Parteistruktur nach dem Muster der westdeutschen CDU. Die DSU war eine Partei liberaler, konservativer und christlichsozialer Kräfte vornehmlich aus dem Süden der DDR. Sie wurde - unter dem Vorsitz von Pfarrer Hans-Wilhelm Ebeling - stark von der bayerischen CSU unterstützt und forderte "Freiheit statt Sozialismus".
Wahlkampf
Die Stärke des DA, der DSU und der Ost-CDU war schwer zu beurteilen. Da die konservativen Kräfte gespalten waren, befürchtete die West-CDU bei der bevorstehenden Volkskammerwahl einen Erdrutschsieg der SPD. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ließ sich Kohl trotz erheblicher Bedenken zur persönlichen Begegnung mit de Maizière bewegen, um Möglichkeiten für ein konservatives Wahlbündnis zu erörtern. Kohl, Seiters und der Generalsekretär der West-CDU, Volker Rühe, trafen danach am 5. Februar de Maizière, Schnur und Ebeling, um die so genannte Allianz für Deutschland zwischen CDU, DA und DSU zu gründen, die im folgenden Wahlkampf geeint antrat.
Die westdeutschen Liberalen warteten ebenfalls sehr lange, bis zum 12. Februar, ehe sie sich entschlossen, eine ostdeutsche Koalition - die Allianz der Freien Demokraten - zu unterstützen, während die Grünen einer ganzen Reihe von Umweltgruppen und Linksparteien zu Hilfe kamen, darunter der Grünen Liga, der Grünen Partei in der DDR und der Vereinigten Linken. Die extreme Rechte der Bundesrepublik wurde indessen durch einen Beschluss der Volkskammer von einem Engagement in der DDR abgehalten: Die Republikaner wurden verboten, ihr Gründer, Franz Schönhuber, wurde an der Einreise gehindert.
Die Spitzen der westdeutschen Politik, die kurz zuvor noch jegliche Einflussnahme in der DDR von sich gewiesen hatten, übernahmen nun de facto die Verantwortung für die Entwicklung in Ostdeutschland. Insgesamt 7,5 Millionen DM wurden von den Westparteien für den Wahlkampf in der DDR aufgewandt. Davon entfielen nicht weniger als 4,5 Millionen DM auf CDU und CSU, während SPD und FDP sich mit jeweils etwa 1,5 Millionen DM begnügten.
Bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 konnten sich 12,2 Millionen Wahlberechtigte in der DDR zwischen 19 Parteien und fünf Listenverbindungen, die weitere 14 Parteien repräsentierten, entscheiden. Meinungsumfragen zufolge lag die SPD in der Wählergunst Anfang Februar noch mit 54 Prozent der Stimmen weit in Führung, gefolgt von der PDS mit zwölf Prozent und der CDU mit elf Prozent.
Doch nachdem Bundeskanzler Kohl am 6. Februar - einen Tag nach Gründung der "Allianz für Deutschland" - die baldige Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion angekündigt hatte, während der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am 15. Februar im Deutschen Bundestag gegen einen solchen Schritt aufgetreten war, wandelte sich die Stimmung grundlegend: Als der Kanzler wenig später zu seinem ersten Wahlkampfauftritt in der DDR erschien, erwarteten ihn auf dem Platz vor der gotischen Kathedrale in Erfurt mehr als 100.000 Menschen - in einer Stadt von immerhin nicht mehr als 220.000 Einwohnern. Bei folgenden Auftritten in Cottbus und Leipzig, wo er den 1:1 Währungsumtausch versprach, war es nicht anders. In Leipzig gingen sogar 300.000 auf die Straße, um Kohl zu begrüßen.
Der Erfolg gab dem Bundeskanzler recht: Am 18. März stimmten 48,0 Prozent für die Parteien der Allianz für Deutschland, nur 21,9 Prozent für die SPD, 16,4 Prozent für die PDS und 5,3 Prozent für die Allianz Freier Demokraten. Das Bündnis 90 - die Vereinigung von Neuem Forum, Demokratie Jetzt und der Initiative für Frieden und Menschenrechte - musste sich mit nur 2,9 Prozent der Stimmen begnügen. Das Ergebnis war ein unüberhörbarer Ruf nach rascher Wiedervereinigung und Marktwirtschaft sowie eine klare Zurückweisung jeglicher Form des Sozialismus. Davon wurden auch die Sozialdemokraten negativ betroffen, die die drängenden Wiedervereinigungserwartungen vieler Ostdeutscher enttäuscht hatten.
Die Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990. © Erich Schmidt Verlag
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Die Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März 1990. © Erich Schmidt Verlag
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Dieser Wahlausgang bedeutete zugleich das Ende der DDR. In den ersten freien Wahlen, die hier überhaupt jemals stattgefunden hatten, votierten die Bürgerinnen und Bürger mehrheitlich gegen den Staat, der ihnen von einer kommunistischen Minderheit mit sowjetischer Rückendeckung aufgezwungen worden war und zu dessen Abwahl ihnen zuvor niemals Gelegenheit gegeben worden war.
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker hatten die Menschen in der DDR nun erstmals mit dem Stimmzettel ausüben können. Zuvor hatten sie nur die Chance gehabt, einen Ausreiseantrag zu stellen und damit eine "Abstimmung mit den Füßen" zu praktizieren. Die ersten freien Wahlen beschleunigten entscheidend den Wiedervereinigungsprozess. Ihm vermochten sich nun weder die Regierungen in Ostberlin und Bonn noch die Vier Mächte, die seit 1945 Verantwortung für Deutschland als Ganzes trugen, länger zu widersetzen.
Auszug aus: Manfred Görtemaker: Beginn der deutschen Einigung, in: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250).