Einleitung
In der Bundesrepublik scheint vielen im Jahr 2005 die Zukunft bereits verloren. Weder die Bevölkerung noch die politischen Eliten scheinen eine Vorstellung davon zu haben, wie die Gesellschaft in zehn oder in zwanzig Jahren aussehen könnte.
Dabei wäre zu klären, um welche Aspekte des Vergangenen es sich handeln könnte. Nicht wenige Beobachter befürchten, dass die hier gemeinte Vergangenheit der Deutschen der Nationalsozialismus sein könnte: Erinnerung an eine "faszinierende" Zeit, als die Massenarbeitslosigkeit überwunden wurde, Deutschland in der Welt wieder etwas galt und "Blitzkriege" gewann. Hinzu kommen in vielen Familien die Erinnerungen an "Leid, Bedrängnis und Not, um das ausgebombte Haus, die zurückgelassene Habe, den Opa, der damals noch ganz jung war, in Kriegsgefangenschaft",
Insgesamt ist die monströse Verbrechenszeit des "Dritten Reiches" so gut erforscht und im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass sie als "nationales Faszinosum" unbrauchbar ist. Dessen ungeachtet ist die ständige Beschäftigung mit deutscher Schuld weiter notwendig, und auch wenn der einzelne Deutsche heute nicht persönlich schuldig ist, so besteht doch die Verantwortung der Nation weiter. Auschwitz als Gründungsfundament der Bundesrepublik "ex negativo" wird bleiben. Jedoch ist zu fragen, ob diese Erinnerung für eine Neuformierung nationaler Identität ausreicht. Eine mögliche Antwort ist verbunden mit der Suche nach dem Positiven in der deutschen Geschichte.
Sinnvollerweise fällt der Blick schnell auch auf die deutschen Freiheitstraditionen. Diese lassen sich weit zurückverfolgen. Von entscheidender Bedeutung für die geistig-moralische Stabilisierung der Demokratie der Bundesrepublik sind der Widerstand gegen den Nationalsozialismus und der gegen die zweite deutsche Diktatur. Hier rückt die friedliche Revolution von 1989/90 und die durch sie ermöglichte Wiedervereinigung ins Blickfeld.
Bei der Frage nach der historischen Bedeutung des Jahres 1990 und des Herbstes des Vorjahres geht es nicht zuerst um den 9. November 1989 und den Fall der Berliner Mauer, sondern vor allem auch um den 9.Oktober 1989 in Leipzig, als die Staatsmacht angesichts der schieren Masse der friedlichen Demonstranten kapitulierte. Das Volk auf der Straße schuf erst die Voraussetzung für den Mauerfall, als Höhepunkt einer friedlichen Revolution. Diese Perspektive verlieren manche Historiker und Politikwissenschaftler oft aus den Augen, wenn sie die externen Bedingungen wie die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens, die Informationsrevolution, die Rolle westlicher Politiker oder des sowjetischen Parteiführers Michail Gorbatschow überbetonen.
So ist es zwar richtig, dass der 9. November 1989 zu den glücklichsten Tagen in der Geschichte der Deutschen zählt,
Forderungen der Bürgerbewegung
Die kommunistische Diktatur war 1989 wirtschaftlich, sozial, moralisch und umweltpolitisch am Ende. Es dominierte ein geducktes, geistig erschöpftes Warten darauf, ob aus Moskau der Befehl zur Freiheit kommen würde. Bei den Herrschenden verfiel die marxistisch-leninistische Ideologie, und der Mut, sich zu den eigenen Idealen zu bekennen, schwand in dramatischer Geschwindigkeit.
Ein Text des Neuen Forums vom 28. Oktober 1989 macht beispielhaft die Forderungen der Bürgerbewegung deutlich.
Zu den Reformhoffnungen der Bürgerrechtsgruppen gehörten ferner eine Medienreform, die Reform des Wahlrechts, grundlegende Veränderungen im Bereich politischer Strafjustiz und im Strafvollzug sowie die Offenlegung und der Abbau aller Vergünstigungen und Sonderversorgungen für Staatsfunktionäre. Der Wehrdienst sollte verkürzt und ein legaler, sozialer Ersatzdienst eingerichtet werden. Polizei- und Sicherheitsorgane sollten parlamentarisch kontrolliert und auf das unbedingt nötige Ausmaß beschränkt werden. Weitere Forderungen bezogen sich auf die Entflechtung von Staat und Gesellschaft, den Abbau der Bürokratie sowie die Selbständigkeit der Kreise und Gemeinden. Es gab auch Hoffnungen auf einen Aufbruch in Erziehung und Ausbildung und eine Stabilisierung des sozialen Netzes.
Die Forderungen, Hoffnungen und Wünsche der Mehrzahl der Ostdeutschen waren unter dem Leitwort "Wir sind das Volk" für einen kurzen, glücklichen historischen Zeitraum fast identisch mit denen der Bürgerbewegung, um sich dann nach dem Fall der Berliner Mauer zu differenzieren und sich unter der Erkenntnis "Wir sind ein Volk" immer schneller in Richtung möglichst rascher und kompletter Wiedervereinigung zu entwickeln. Im Einzelnen kennzeichnete die Situation auf den Demonstrationen des Herbstes 1989, dass allgemeine politische Forderungen mit Wünschen nach Veränderungen im Alltag verbunden waren.
Weitere Hoffnungen richteten sich auf das Vergehen der hypertrophen Bürokratie. Insbesondere die Sachsen begrüßten jubelnd die Vision einer Neugründung ihres Freistaates. SED bzw. Blockparteien und Massenorganisationen sollten die Betriebe verlassen, der Umweltschutz war zu sichern, der Verfall der Städte aufzuhalten und das Gesundheitswesen zu reformieren. Behinderte und Alte sollten besser versorgt und Kinderspielplätze gebaut werden. Demonstranten forderten das Verschwinden des Moderators Karl Eduard von Schnitzler von den Fernsehbildschirmen und eine wahrhaftige Aufarbeitung der Geschichte.
Viele setzten nicht zuletzt auf eine Verbesserung ihrer materiellen Situation, und nicht wenige dachten dabei an die Ersetzung ihres "Trabis" durch ein "richtiges" Auto. Schließlich gewann auch die Hoffnung auf ein einiges Deutschland in einem vereinten Europa an Bedeutung. In der allgemeinen Euphorie und Zukunftserwartung wiesen nur wenige Redner auf den Zusammenbruch der Wirtschaft oder soziale Einbrüche hin oder verbanden dies gar mit der Prophezeiung bevorstehender schwerer Zeiten. Viele Ostdeutsche wollten das damals nicht hören.
Die Forderungen der Revolution von 1989/90 hat der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr systematisch untersucht und klassifiziert. Er identifiziert vier Gruppen von Forderungen: 1. nach Demokratisierung ("Demokratie - jetzt oder nie" "Wir sind das Volk"), 2. nach Grundrechten und -freiheiten ("Pressefreiheit", "Zivildienst Menschenrecht", "Reisefreiheit für alle", "Visafrei bis Hawaii", "Streikrecht"), 3. nach Machtwechsel ("Erich geh, uns tut's nicht weh", "Neue Männer braucht das Land" "Regierung zurücktreten! Verantwortliche bestrafen") und 4. nach Zerstörung der staatlichen Machtapparate, zuerst der Staatssicherheit ("Stasi weg, hat kein' Zweck", "Stasi in die Volkswirtschaft", "Stasi, deine Zeit ist um").
Mehr als 90 Prozent der Forderungen des Herbstes 1989 sind realisiert worden. Die Schwierigkeiten der Gegenwart - von der Massenarbeitslosigkeit über die Überalterung der Bevölkerung bis zur Abwanderung aus dem Osten - konnten die Ostdeutschen 1989/1990 kaum erahnen.
Was wurde 1990 erreicht?
Erstmals in der deutschen Geschichte leben die Deutschen nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 23 am 3. Oktober 1990 in international anerkannten, sicheren Grenzen und werden von ihren Nachbarn nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Die "nationale Frage" ist gelöst, Freiheit und nationale Einheit sind errungen und miteinander verbunden, die Nation ist in einem demokratischen, postklassischen Nationalstaat vereint.
Wichtige Ergebnisse der Entwicklung von der friedlichen Revolution bis zur Wiedervereinigung hat Richard Schröder in einer Kontroverse mit Günter Grass über dessen Interpretation der den Deutschen "geschenkten Freiheit" genannt.
Allerdings erscheint die Zustimmung zur demokratischen Regierungsform gerade in der letzten Zeit zunehmend gefährdet zu sein. Ein wichtiges Warnsignal liegt darin, dass zwischen 1991 und 2003 jeweils dreißig bis fünfzig Prozent der Westdeutschen, aber zwischen fünfzig und siebzig Prozent der Ostdeutschen mit der Demokratie "unzufrieden" waren.
Doch im Kern hat Demokratiezufriedenheit zuerst und vorrangig mit der Möglichkeit zum individuellen selbstbestimmten Handeln zu tun.
Wichtig ist, dass der "Aufbau Ost" trotz Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung (verbunden mit fortschreitender Überalterung und hohen Wohnungsleerständen),
Der Diskurs um die Wiedervereinigung
Trotz aller Erfolge entwickelte sich der Diskurs über den Einigungsprozess widersprüchlich und oft nicht positiv. Dabei muss bedacht werden, dass die Auseinandersetzung mit Diktaturen nach deren Ende geradezu zwangsläufig in hohem Maße streitig sein muss.
Diese war in der Bundesrepublik nach der Befreiung vom Nationalsozialismus nur bedingt gegeben. Daraus hatten die Demokraten 1989/90 gelernt und betrieben die Auseinandersetzung mit der SED-Herrschaft konsequent und schnell. Die damit verbundene Delegitimierung der kommunistischen Diktatur war notwendig. Trotzdem waren mit ihr Fehler verbunden. Typisch ist das am Beispiel der Aufklärung der Tätigkeit der Inoffiziellen Mitarbeiter der Geheimpolizei zu sehen, die geradezu zum ideellen "Gesamtossi" mutierten,
Letztlich konnte es nicht verwundern, dass die gegen "die Ostdeutschen" erhobenen Vorwürfe von diesen an ihre westdeutschen Landsleute zurückgegeben wurden. Dabei stammte eine frühe Kritik aus Ostdeutschland selbst, in der die Landsleute als von Repression gekennzeichnete, deformierte Menschen gekennzeichnet wurden.
Viele der Probleme sind keine unmittelbaren Folgen der Wiedervereinigung, sondern sie sind erst in den vergangenen Jahren entstanden. Heute scheint sich in Ostdeutschland statt der Freude über die errungene individuelle und öffentliche politische Freiheit zunehmend Enttäuschung auszubreiten. Diese ist nicht aus Undankbarkeit bzw. aus Frustration über gescheiterte Illusionen oder aus irrationaler Rückbesinnung auf die DDR entstanden, sondern hat handfestere Gründe. Dazu gehören neben der massenhaften sozialen und rechtlichen Herabstufung der alten SED-Eliten das in der Vermögensfrage angewandte Prinzip Rückgabe vor Entschädigung, die Massenarbeitslosigkeit, geringere Gehälter bei gleicher Arbeitsleistung und längerer Arbeitszeit sowie die Ungleichheit bei Spareinlagen, Grund- sowie industriellem Eigentum. Hinzu kommt die Abwanderung - und hier hilft die Argumentation Richard Schröders, dass von 2001 bis 2003 rund 862 000 Ostdeutsche in den Westen und 715 000 Westdeutsche in den Osten gegangen seien,
Noch wichtiger als die Wanderungsproblematik (und gleichzeitig eng mit ihr verbunden) ist die Unterrepräsentation von Ostdeutschen in gesellschaftlichen und öffentlichen Schlüsselpositionen. Der Elitenwechsel seit 1990 ist nach wie vor eines der zentralen Probleme des Vereinigungsprozesses. Zwar war dieser Wechsel des Führungspersonals zur Stabilisierung des Demokratisierungsprozesses in den neuen Bundesländern notwendig und konnte angesichts der personellen Schwäche der Bürgerbewegung nicht durch Oppositionelle abgesichert werden, aber die heutige Situation der fast lückenlosen Dominanz westdeutscher Führungskräfte in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen schafft lange wirkende Ressentiments, die der Kolonisierungsthese immer wieder Auftrieb verschaffen und sich zudem politisch instrumentalisieren lassen.
Dies wird so lange so bleiben, wie die Verhältnisse anhalten, die eine Elitenstudie der Universität Potsdam bereits 1995 widerspiegelte. Nach ihr gab es in der Wirtschaft, in der Justiz und beim Militär keine Ostdeutschen in den ausgewiesenen 426 Spitzenpositionen; bei 474 Spitzenpositionen in der Verwaltung waren es zwölf, bei den Medien, Wissenschaftsgremien, bei Gewerkschaften und bei Kultur war jeder Zehnte ein Ostdeutscher.
Grundsätzlich ist immer wieder zu betonen, dass mit der Forderung nach der Überwindung des Ungleichgewichts keiner neuen Ost-West-Spaltung das Wort geredet, sondern um die gleichberechtigte Teilnahme aller an den deutschen Angelegenheiten gerungen wird. Ziel sind dabei nicht gleiche, aber gleichwertige Lebensbedingungen. Doch eine Gleichheit der Freien kann nur auf der Basis gesicherter Erwerbsmöglichkeiten existieren.
Freiheitstradition und friedliche Revolution
Heute wird die Situation in Ostdeutschland vor allem dadurch erschwert, dass ein sich selbst tragender Aufschwung der Wirtschaft ausgeblieben ist und die ostdeutschen Länder weiter am Finanztropf des Westens hängen.Das hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bereits 2001 dazu veranlasst, die wirtschaftliche und soziale Lage in Ostdeutschland als "auf der Kippe" befindlich einzuschätzen.
Zu bedenken ist dabei der nicht nur im Osten ausgeprägte Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit, wobei in den neuen Bundesländern eine möglichst gleichmäßige Verteilung der Einkommen weitaus stärker als im Westen als positiv empfunden wird. Es kann weder darum gehen, Unterschiede einzuebnen noch ausschließlich auf das freie Spiel der Kräfte zu setzen. Dass die Ostdeutschen Eigenverantwortung wirklich als Bürde empfinden und gesellschaftliche Freiheiten nur als Freiheit von Not und Risiken verstehen,
Wenn es in Zukunft darum geht, das Ziel der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Ost und West nicht aus den Augen zu verlieren, kann dies nicht heißen, dass alle Deutschen gleichermaßen gut oder schlecht leben, sondern dass die durch die lange staatliche Teilung bedingten Unterschiede in den Lebensverhältnisse überwunden werden. Dies wird jedoch noch ein langer Weg sein, auf dem es um Modernisierung in der gesamten Bundesrepublik geht. Auch der Westen muss seine Reformunwilligkeit überwinden und kann dabei durchaus von den Reformerfahrungen des Ostens profitieren. Entscheidend ist nicht die nachholende Entwicklung, sondern die Gewinnung der Zukunft. Zu Recht weist Thierse immer wieder darauf hin, dass es nicht vorrangig um den Abbau von Zuwendungen, um die Erhaltung eines Niedriglohngebietes und die Rückführung des Engagements des Staates und öffentlicher Einrichtungen gehen kann.
Um das Erbe von 1989/90 produktiv zu machen, ist auch die Rückgewinnung des Revolutionsbegriffs gegen die belanglose, ja diffamierende (von Egon Krenz stammende) Bezeichnung "Wende" nötig. Weiterhin sind für die Entwicklung der Zivilgesellschaft und die Westbindung der christliche Aspekt der Bürgerbewegung und die Ausrichtung ihrer Konzepte auf den europäischen Einigungsprozess bedeutsam. Bemerkenswert bleibt darüber hinaus der friedliche Charakter der demokratischen Revolution von 1989, die herausragende Bedeutung von Volksbewegungen und die Bestätigung westlichen politischen Denkens und der Tradition der europäischen Aufklärung.
Die grundlegende Bedeutung von Widerstand und Opposition gegen Diktaturen für das politische Bewusstsein der Deutschen liegt darin, ein Gefühl für die permanente Gefährdung des Rechtsstaates zu entwickeln und zu erkennen, dass jedes Volk bei der Verletzung elementarer Menschenrechte zum Widerstand aufgerufen ist. International könnte die Tradition der friedlichen Revolutionen als "republikanische Revolution" (Richard von Weizsäcker) bei der Erweiterung der Europäischen Union einen Teil des historischen Fundamentes bilden und eine Brücke zwischen Mittelosteuropa und dem Westen bilden.
In Zukunft ist es notwendig, dass sich die Ostdeutschen durch eigene Arbeit ihren Wohlstand in Freiheit selbst erarbeiten können. Dazu ist eine wettbewerbs- und zukunftsfähige Wirtschaft unabdingbar, die Ostdeutschland zu einer europäischen Verbindungsregion mit eigenständigem Profil werden lässt.
Auszug aus: Aus Politik und Zeitgeschichte 40/2005