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Rede von Willy Brandt am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg | Deutsche Teilung - Deutsche Einheit | bpb.de

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Rede von Willy Brandt am 10. November 1989 vor dem Rathaus Schöneberg

Willy Brandt

/ 7 Minuten zu lesen

Am 10. November 1989, noch bevor das Ende der DDR sichere Sache war und das SED-Regime sogar überlegte, mit Spezialeinheiten der NVA eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern, sah Willy Brandt die deutsche Einheit in greifbarer Nähe: "Berlin wird leben und die Mauer wird fallen."

Auf einer Kundegebung vor dem Schöneberger Rathaus spricht der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt zu Berlinern aus beiden Teilen der Stadt. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00048578, Foto: Klaus Lehnartz)

Liebe Berlinerinnen und Berliner, liebe Landsleute von drüben und hüben,

dies ist ein schöner Tag nach einem langen Weg, aber wir befinden uns erst an einer Zwischenstation. Wir sind noch nicht am Ende des Weges angelangt. Es liegt noch 'ne ganze Menge vor uns.

Die Zusammengehörigkeit der Berliner und der Deutschen überhaupt manifestiert sich auf eine bewegende, auf eine uns aufwühlende Weise, und sie tut es am bewegendsten dort, wo getrennte Familien endlich wieder ganz unverhofft und tränenvoll zusammenfinden. Mich hat auch das Bild angerührt von dem Polizisten auf unserer Seite, der 'rübergeht zu seinem Kollegen drüben und sagt: Jetzt haben wir uns so viele Wochen, vielleicht Monate auf Abstand gesehen, ich möchte Ihnen heute mal die Hand geben. Das ist die richtige Art, sich dem Problem zu nähern: einander die Hand zu geben, nachtragend nur dort zu sein, wo es unbedingt sein muss. Aber wo immer es geht, Trennendes zu überwinden. Das hab‘ ich auch heute mittag am Brandenburger Tor gespürt, und hier sind ja viele auf dem Platz, die auch heute mittag am Brandenburger Tor waren.

Als Bürgermeister der schwierigen Jahre von 1957 bis 1966, also auch der Zeit des Mauerbaus und danach, und als einer, der in der Bundesrepublik und für sie einiges zu tun hatte mit dem Abbau von Spannungen in Europa und mit dem jeweils erreichbaren Maß an sachlichen Verbindungen und menschlichen Kontakten, sage ich hier heute abend meinen ganz herzlichen Gruß an die Berlinerinnen und Berliner in allen Teilen der Stadt. Und gleichermaßen an die Landsleute drüben wie hüben, in beiden Teilen Deutschlands. Und ich füge hinzu: Es wird jetzt viel davon abhängen, ob wir uns – wir Deutschen, hüben und drüben – der geschichtlichen Situation gewachsen erweisen.

Das Zusammenrücken der Deutschen, darum geht es, das Zusammenrücken der Deutschen verwirklicht sich anders, als es die meisten von uns erwartet haben. Und keiner sollte in diesem Augenblick so tun, als wüsste er ganz genau, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in ein neues Verhältnis zueinander geraten werden. Dass sie in ein anderes Verhältnis zueinander geraten, dass sie in Freiheit zusammenfinden und sich entfalten können, darauf allein kommt es an.

Und eines ist sicher, es wurde vorhin im Abgeordnetenhaus gesagt: Es ist sicher, dass nichts im anderen Teil Deutschlands wieder so werden wird, wie es war. Die Winde der Veränderung, die seit einiger Zeit über Europa ziehen, haben an Deutschland nicht vorbeiziehen können. Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen. Und ich habe es noch in diesem Sommer zu Papier gebracht – man kann es nachlesen, wenn man will –, ohne dass ich genau wusste, was im Herbst passieren würde: Berlin wird leben und die Mauer wird fallen. Übrigens, übrigens, liebe Freunde, ein Stück von jenem scheußlichen Bauwerk, ein Stück davon könnte man dann von mir aus sogar als ein geschichtliches Monstrum stehen lassen. So, so wie wir seinerzeit nach heftigen Diskussionen in unserer Stadt uns bewusst dafür entschieden haben, die Ruine der Gedächtniskirche stehen zu lassen.

Denen, die heute noch so schön jung sind, und denen, die nachwachsen, kann es nicht immer leicht fallen, sich die historischen Zusammenhänge, in die wir eingebettet sind, klarzumachen. Deshalb sage ich nicht nur, dass wir bis zur Überwindung der Spaltung noch einiges vor uns haben, sondern ich erinnere uns auch daran, dass die widernatürliche Spaltung – und mit welchem, mit welchem Zorn, aber auch mit welcher Ohnmacht habe ich hier am 16. August ´61 von dieser Stelle aus dagegen angeredet – ich will sagen: auch das hat natürlich nicht erst am 13. August 1961 begonnen. Das deutsche Elend begann mit dem terroristischen Nazi-Regime und dem von ihm entfesselten schrecklichen Krieg. Jenem schrecklichen Krieg, der Berlin wie so viele andere deutsche und nichtdeutsche Städte in Trümmerwüsten verwandelte. Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands, in Berlin reproduziert auf mehrfache Weise. Und jetzt erleben wir, und das ist etwas Großes – und ich bin dem Herrgott dankbar dafür, dass ich dies miterleben darf – wir erleben, dass die Teile Europas wieder zusammenwachsen.

Und ich bin sicher, liebe Freunde, ich bin sicher, dass der Präsident der Vereinigten Staaten und der erste Mann der Sowjetunion, dass Bush und Gorbatschow dies, was im Gange ist bei uns, zu würdigen wissen werden, wenn sie einander demnächst auf einem Schiff im Mittelmeer begegnen. Und ich bin sicher, dass unsere französischen und unsere englischen Freunde – vergessen wir nicht, neben den Amerikanern die bewährten Schutzmächte von West-Berlin in schwierigen Jahren, in langen schwierigen Jahren – ich bin sicher, dass sie mit uns den Prozess der Veränderung und des neuen Aufbruchs zu würdigen wissen. Ich bin sicher, dass unsere Nachbarn im europäischen Osten verstehen, was uns bewegt, und dass es sich einfügt in das neue Denken und in die Neugestaltung politischen Handelns, das sie, die Zentral- und Osteuropäer, selbst erfüllt und in Anspruch nimmt. Die Sicherheit, die wir unseren Nachbarn und auch den großen Mächten dieser Welt bieten können, ist die, dass wir keine Lösung unserer Probleme anstreben, die sich nicht einfügt in unsere Pflichten gegenüber dem Frieden und gegenüber Europa. Und in die gemeinsame Überzeugung, dass die Europäische Gemeinschaft weiterentwickelt und die Zerstückelung unseres Kontinents definitiv überwunden werden muss.

Damals, im August ´61, haben wir nicht nur im Zorn gefordert: die Mauer muss weg. Wir haben uns auch sagen müssen, Berlin muss trotz der Mauer weiterleben. Wir haben die Stadt – mit Hilfe des Bundes, was wir auch nicht vergessen wollen – wiederaufgebaut. Andere, die nach uns kamen, haben dem Wiederaufbau Wichtiges hinzugefügt. Aber hier in Berlin war uns zusätzlich zu allen innerstädtischen Aufgaben und zum Wohnungsbau, zum kulturellen und wirtschaftlichen Neuaufbau aufgetragen, den Weg nach Deutschland in und durch Berlin offen zu halten. Das zwang uns dann zum intensiveren Nachdenken darüber, wie wir, auch als es schier hoffnungslos aussah, wie wir den besonders brutalen Auswirkungen der Trennung, wenn‘s irgend ginge, doch entgegenwirken könnten. Und natürlich gab es nicht immer gleich Übereinstimmung darüber, wie das am besten zu erreichen sei.

Mir hat sich das Datum des 18. Dezember 1963 besonders eingeprägt, nicht nur, weil ich Geburtstag hatte – damals wurde ich 50 –, sondern es hat sich mir eingeprägt, weil das der Tag war, an dem aufgrund der Passierscheine – mehr konnten wir damals nicht erreichen – Hunderttausende, viel mehr als man erwartet hatte, drüben waren, nicht nur die Verwandten in Ost-Berlin, sondern auch die, die aus "der Zone" kamen, wie wir damals sagten, wieder treffen konnten. Das war schrecklich unzulänglich, das blieb schrecklich brüchig, aber wir haben uns nicht davon abbringen lassen, auch jeden möglichen kleinen Schritt zu tun, um den Kontakt zwischen den Menschen zu fördern und den Zusammenhalt der Nation nicht absterben zu lassen.

Es hat dann noch fast ein Jahrzehnt gedauert, bis durch einen Verkehrsvertrag und einen Grundlagenvertrag die damals möglichen Veränderungen erreicht werden konnten. Eine Vielzahl von Abkommen und Absprachen hat sich dem hinzugefügt. Und es bleibt richtig, dass wir ein Vakuum, einen Leerraum auch aus nationalen Gründen nicht entstehen lassen durften.

Richtig war es auch, die Außenbedingungen für das geteilte Deutschland und die Menschen in ihm zu entlasten und zu verbessern, wo immer dies möglich war. Das war der Inhalt unserer Vertragspolitik, auch mit wichtigen Partnern im Osten. Das war der Inhalt unseres Hinwirkens auf die gesamteuropäische Konferenz in Helsinki, schwierig beginnend, aber verpflichtet auf die Menschenrechte, verpflichtet auf Zusammenarbeit, verpflichtet auch auf Abbau der Rüstungen, der Überrüstungen in Europa. Und dieses sich langsam Hinbewegen auf Stabilität, auf den Abbau statt weiteren Aufbau von Rüstungen, macht sich nun bezahlt. Dies ist im Gange, dies hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir es heute mit verbesserten Rahmenbedingungen zu tun haben. Und ich füge hinzu: Wenn ich meine Landsleute im anderen Teil Deutschlands gut verstehe, dann stimmen sie mit mir und ich denke mit uns allen hier überein: keiner von ihnen wünscht Schwierigkeiten mit den sowjetischen Truppen, die sich noch auf deutschem Boden befinden. Die werden weniger werden. An der militärischen Präsenz anderer wird sich etwas ändern. Wir wollen keinen Trouble, wir wollen friedliche Lösungen auch im Verhältnis zur Großmacht im Osten.

Ich möchte noch sagen: Es ist zusätzlich dazu, dass es einen Hoffnungsträger auch in der Sowjetunion gibt und dass es Demokratiebewegungen in Polen und Ungarn gibt – und anderswo werden sie folgen – es ist ein neuer Faktor von ganz eigener Qualität hinzugetreten. Unsere Landsleute in der DDR und in Ost-Berlin haben sich ihrer Geschicke selbst, und zwar unüberhörbar für alle Welt, angenommen. Das Volk selbst hat gesprochen, hat Veränderungen gefordert, nicht zuletzt das Recht auf wahrhaftige Information und auf freie Bewegung und auf Freiheit des organisatorischen Zusammenschlusses. Und ich denke, dass diese Volksbewegung im anderen Teil Deutschlands ihre Erfüllung nur in wirklich freien Wahlen finden kann. Und ich meine auch, wie der Regierende Bürgermeister Momper, dass es eine lohnende Aufgabe sein kann, am Werk der Erneuerung an Ort und Stelle mitzuwirken und sie, wenn es irgend geht, nicht denen zu überlassen, die übrigbleiben.

Ich sag‘ noch einmal: Nichts wird wieder so wie es einmal war. Dazu gehört, dass auch wir im Westen nicht an unseren Parolen von gestern allein gemessen werden, sondern an dem, was wir heute und morgen zu tun, zu leisten bereit und in der Lage sind, geistig und materiell. Und ich hoffe, die Schubladen sind nicht leer, was das Geistige angeht. Ich hoffe auch, die Kassen sind nicht allzu leer. Und ich hoffe, die Terminkalender lassen Raum für das, was jetzt sein muss. Die Bereitschaft nicht zum erhobenen Zeigefinger, sondern zur Solidarität, zum Ausgleich, zum neuen Beginn, wird auf die eigentliche Probe gestellt. Es gilt jetzt, neu zusammenzurücken, den Kopf klar zu behalten, und das so gut wie möglich zu tun, was unseren deutschen Interessen ebenso entspricht wie unserer Pflicht gegenüber unserem europäischen Kontinent.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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