Als der Mann auf den Hof zurückkehrte, war er mehr tot als lebendig. Eine ausgemergelte, zerlumpte Gestalt, die alles aß, was ihr in die Finger kam. Der Bauer Lorenz war 1946 erst acht Jahre alt, aber erinnert sich noch genau an seinen Vater, der aus der Kriegsgefangenschaft kam. "Wir mussten aufpassen, dass er nicht zu viel isst. In Russland hatte er sein Sättigungsgefühl verloren. Einigen von den Heimkehrern war der Magen geplatzt." Das mecklenburgische Dorf Mestlin bot nach dem Zweiten Weltkrieg ein erbärmliches Bild. Zwischen den Äckern standen ein paar einfache, schuppenähnliche Katen und ein Gutshaus aus Backstein. Über die Felder zogen die Vertriebenen aus den Ostgebieten mit Pferdewagen und Handkarren in den Ort. Die Häuser waren überfüllt, die Lebensmittel von der Roten Armee rationiert. Die Mestliner malten ihr Getreide illegal mit Kaffeemühlen zu Mehl. Um nicht aufzufallen, schlachteten sie ihr Vieh heimlich nachts im Licht von Petroleumlampen. Mestlin war ein bedeutungsloser Flecken, ein unterentwickeltes, größtenteils von Tagelöhnern bewohntes Dorf, das bis auf den Gutshof noch nicht einmal an die Stromversorgung angeschlossen war. Der Boden wurde an einen Gutsherren verpachtet und von armen Landarbeitern bestellt. Es sprach eigentlich nichts dafür, dass sich daran je etwas ändern würde. Doch im Jahr 1949, als der Arbeiter- und Bauernstaat DDR gegründet wurde, wandelte sich Mestlin genau wegen seiner Armut und Abgelegenheit zu einem interessanten Ort.
Hier konnte man sehen, welch elende Verhältnisse die feudale Landwirtschaft den Menschen gebracht hatte. Hier konnte man spüren, wie der Kapitalismus die Menschen knechtet. Mestlin war der perfekte Ort für ein Experiment. Hier konnte man demonstrieren, wie überlegen der Sozialismus war. Trotz des Materialmangels wuchs das Dorf schnell, die Vertriebenen errichteten schlichte Siedlerhäuser für sich und ihre Familien. Die Kriegsheimkehrer nahmen die Wirtschaft wieder auf. Auf Anordnung der sowjetischen Militäradministration sicherte eine Bodenreform schon 1947 den Landlosen eigene, kleine Äcker zu. Doch es war ein mühsamer Anfang für die neuen Bauern. Der lehmigsandige Boden ließ sich nur schwer bearbeiten. Es gab wenige Pferde und Maschinen. Einige hatten noch nie zuvor einen Pflug bedient. Für Bauer Lorenz und seine Familie war der Sommer 1952 eine unruhige Zeit. Der Vater sorgte sich, dass die Russen die DDR zu einer Art zweiten Sowjetunion machen wollten, denn fernab von Mestlin hatte die SED eine folgenschwere Entscheidung getroffen.
Auf ihrer zweiten Parteikonferenz beschlossen die Delegierten die "planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus in der DDR". Das klang nach Kollektivierung und Repression. Aus Angst vor den Veränderungen flohen fast alle Bauern aus Mestlin und den Nachbardörfern in den Westen. Sie nahmen ihre Tiere mit und auch ihr Wissen über die Böden und die Ernte. Noch heute reden die Alten im Dorf davon, wie ganze Familien nachts ihr Hab und Gut zusammenschnürten und tags darauf verschwunden waren. Bauer Lorenz und sein Vater hatte nicht viel Land zu verlieren. Sie blieben, obwohl sich Mestlin ein paar Wochen nach der Parteikonferenz bereits zu verändern begann. 25 Neubauern schlossen sich zu einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) zusammen und begannen, gemeinsame Sache zu machen. (LPG Die Kollektivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft war ein Ideal des Sozialismus und äußerte sich u. a. im Zusammenschluss von Betrieben zu Produktionsgenossenschaften. [Anm. d. Red.]) Sie nannten das ganze "Neues Leben", wahrscheinlich weil es so sehr nach Zukunft klang. Viele der Bauern, darunter auch Lorenz´ Vater, weigerten sich zunächst, in die LPG zu gehen. Doch es war keine freiwillige Entscheidung, nicht in Mestlin und nirgendwo sonst in der DDR. Die SED setzte die Bauern unter Druck. Sie trieb die Kollektivierung der Landwirtschaft voran. Bald konnte auch Lorenz nicht mehr standhalten – sein Land wurde Teil der LPG. Zur selben Zeit rückten im ehemaligen Tagelöhnerdorf Mestlin die Baukolonnen an.
Um die "Lebensbedingungen von Stadt und Land" auszugleichen, wurde die Wasser- und Abwasserversorgung erneuert, es wurden 152 Wohnungen errichtet und elektrische Leitungen verlegt. Auf dem Gutsherrenacker entstanden gewaltige, fast großstädtische Gebäude in Sichtweite der alten Tagelöhnerkaten. Sie bauten eine Kinderkrippe und einen Kindergarten, eine Schule und ein medizinisches Zentrum. Nach nur drei Jahren Bauzeit ragte auf dem neuen Dorfplatz, der den Namen Marx-Engels-Platz bekam, ein gewaltiges Kulturhaus in den Himmel.
Helmut Krenz und seine Frau Elsbeth zogen Anfang der 60er-Jahre nach Mestlin und waren begeistert von der Stimmung im Ort. "Das war ´ne Kinderfabrik, junge Leute wohin man sieht. Und an den Sozialismus haben wir auch geglaubt", erzählt er. Die Arbeiter der LPG "Neues Leben" verdienten nicht viel, aber sie waren Teilhaber eines auf über 400 Menschen angewachsenen Betriebs. Sie hatten Anspruch auf Freizeit, Urlaub und Rente. Der Konsum Mestlin verkaufte Fernseher, Kühlschränke, Waschmaschinen, Motorräder und Mopeds. Das Dorf wuchs auf mehr als 1.500 Einwohner. Die Schweriner Volkszeitung schrieb: "Dieses Ereignis ist für das einstmals arme Gutsdorf und heute sozialistische Dorf Mestlin eine Krönung all dessen, was durch unsere Arbeiter- und Bauernmacht in den letzten Jahren geschaffen wurde." Auch Bauer Lorenz sah, dass das ein Fortschritt war. Seit er und sein Vater nicht mehr privat wirtschafteten, arbeitete er als Traktorist in der LPG, die eine der größten in der DDR war. Er wollte ein guter Landwirt sein und sonst nichts. Wenn es etwas auszusetzen gab am Sozialismus oder an der Arbeit in der LPG, hütete er sich, vor den SED-Parteigenossen zu sprechen. Gründe sich zu ärgern gab es genug: Die Politik gab ihnen ständig steigende Produktionspläne vor, die sie zu erfüllen hatten, aber ohne Fälschereien nicht erfüllen konnten. "Unsere Losung hieß damals: Ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein. Doch das stimmte nicht wirklich. Unsere Maschinen waren nicht gut. Die Ernte zog sich in die Länge. Wir brauchten so lange, bis der Regen kam, und dann produzierten wir nicht genug."
Die Energiekrise stoppte den Aufschwung. Plötzlich war auf dem Feld Handarbeit gefragt
Um das Kulturhaus beneideten die umliegenden Dörfer Mestlin. Zweimal in der Woche fanden Kinoabende statt. Freitags feierten die Betriebe rauschende Feste und am Samstag die Jugendlichen. In den Räumen trafen sich die Menschen zu Parteiveranstaltungen, Jugendweihen und Vorträgen mit dem Titel "Kennst du die Sowjetunion?". Bands wie die Amigos und Karat traten auf, es gab ein Dorftheater, eine Bibliothek und ein Fotolabor. Aus dem ganzen Kreisgebiet strömten die Menschen zu ihnen ins Dorf. Noch heute schwärmen sie in Mestlin von den Festen, die sie damals feierten. "Kulturhaus voll bis unde die Dägge. Erntefest, Schnaps, Musik. Dann geht dat ab hier, nä!", erzählt ein Landarbeiter. Die Energiekrise 1979/80 warf die LPG "Neues Leben" zurück. Statt bessere Maschinen zu bekommen, mussten die Arbeiter wieder mehr mit der Hand anpacken. "Mehr produzieren, besser wirtschaften, billiger verkaufen", solche Parolen müssen damals geklungen haben wie Hohn. Es war eine Zeit der Mangelwirtschaft. Wenn Bauer Lorenz Baustoffe oder Heizungen kaufen wollte, ging er nicht ins Geschäft, weil ihn das nicht weiterbrachte. Er machte es wie alle. Er "organisierte", bestach die Händler einfach mit Ziegeln oder Dung.
Als er in die Sowjetunion in den Urlaub fuhr, war Bauer Lorenz irritiert. "Die Arbeitsmoral war so sehr im Keller, das konnte nicht mehr so weitergehen." In Sotschi entdeckte er ein Geschäft, vor dem sich Hunderte Menschen in Fünferreihen anstellten. Er betrat den Raum und sah, dass es um nichts als Alkohol ging. Dass Bauer Lorenz nicht mit allem zufrieden war, fiel offenbar niemandem auf. Insbesondere der Stasi nicht. Als er ohne größere Hoffnung einen Reiseantrag stellte, um mit seiner Mutter die Verwandten im Westen zu besuchen, wurde es ihm überraschenderweise erlaubt. Im Westen organisierten seine Verwandten eine Tour über die Höfe in der Umgebung. Für Bauer Lorenz war es eine Studienreise, er sah das erste Mal, auf welchem technologischen Stand das kapitalistische Ausland war. Er sagt, da habe er gewusst, "dass es bei uns bald knallen wird". Als es 1989 in vielen Städten Proteste gab, waren die Mestliner rein räumlich gesehen weit davon entfernt. Aber sie erfuhren aus dem Fernsehen, dass ihr Staat ins Wanken geriet. Bauer Lorenz war überzeugt davon, dass er nun eingezogen würde. Er dachte, er müsste im Bruderkrieg auf die anderen Deutschen schießen. Doch die Wende verlief friedlich in Mestlin. Eine Handvoll Menschen demonstrierte auf dem Marx-Engels-Platz für einen besseren Sozialismus. Viel mehr passierte nicht. Dass nun Veränderungen anstanden, war auch hier, im mecklenburgischen Hinterland, allen klar. Doch keiner von ihnen hatte damals geglaubt, dass Mestlin den Weg nicht nach weiter vorne, sondern zurückgehen wird.