I. Unterschiedliche Perspektiven
Die Urteile gehen weit auseinander: Wiederholt zitiert wurde vor der "Wende" die von Hermann Rudolph formulierte, allerdings dort mit einem Fragezeichen versehene These von der DDR als einer deutschen Möglichkeit. Nur eine Fußnote in der Geschichte hingegen sei die DDR gewesen, so lautete ein knappes Diktum von Stefan Heym nach dem Ende des zweiten deutschen Staates. Das spiegelt nicht nur die durch das Jahr 1989 veränderten Sichtweisen wider, sondern auch - mit merkwürdig veränderten Fronten - die der Historiographie. Während seinerzeit mitunter in Ost und West geradezu umstandslos die Geschichte des eigenen Teilstaates als Nationalgeschichte geschrieben wurde
Der Zusammenbruch der DDR und des kommunistischen Staatensystems veränderte naturgemäß wiederum die Perspektive. Peter Graf Kielmansegg wandte sich jüngst gegen eine "Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten". Er fügte zur Begründung an: "Das mochte bis 1989 angehen. Seit 1989 aber ist klar, dass wir es mit zwei ganz verschiedenen Geschichten zu tun haben, einer mit Zukunft und einer ohne Zukunft. An der zweiten interessiert vor allem, warum sie keine Zukunft hatte."
Demgegenüber - häufig aus den Reihen der früheren wissenschaftlichen Eliten der DDR - wurden wiederholt sowohl die Traditionslinien betont, auf die sich Herrschaft und Gesellschaft im Osten Deutschlands gestützt hatten, als auch deren Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit herausgestellt. Das untermauerte den Anspruch, die Geschichte der DDR stelle letztlich eine legitime und autochthone Alternative zur Bundesrepublik dar. So formulierte Rolf Badstübner: "Im Grunde handelte es sich um zwei unterschiedliche Entwicklungslinien und potentielle Möglichkeiten, die seit dem Ersten Weltkrieg und seinem Gefolge zugleich als Epochenprozesse und -konstellationen manifest wurden."
Daher erscheint es gerechtfertigt, Rolle und Nachwirkungen der DDR in der deutschen Zeitgeschichte auch an Hand dieser selbst gesetzten Kriterien zu prüfen: als eine "deutsche Möglichkeit", ihr Demokratie-Potenzial, die Bedeutung des "Antifaschismus", ihre Leistungen als Sozialstaat sowie ihre Modernisierungs- und Reformfähigkeit.
II. Die Sowjetunion und die DDR
Zweifelsfrei ist die Entstehung beider deutscher Staaten nicht nur als Folge der militärischen Niederlage des "Dritten Reiches", sondern mehr noch aus dem Zerfall der Anti-Hitler-Koalition und dem offenen Ausbruch des Kalten Krieges zu erklären. Zu Recht wies Wolfgang J. Mommsen auf das unbestreitbare Faktum hin, dass die "Geschichte der DDR in erster Linie als Geschichte der sowjetischen Herrschaft über ganz Ostmitteleuropa zu sehen" ist und "erst in zweiter Linie als Teil der deutschen nationalen Geschichte"
In ihrer Besatzungszone regulierte und reglementierte sie in den ersten Jahren häufig politische Entscheidungen bis ins Detail. Auch die dreimalige Verkündigung der Souveränität der DDR (1949, 1954 und 1955) änderte an der grundsätzlichen Abhängigkeit nichts. Nach der - von Stalin zunächst zögerlich vorangetriebenen
Erst mit der faktischen, dann auch formellen Aufkündigung der "Breschnew-Doktrin" war der Spielraum gegeben, den die Bürgerbewegungen in der DDR zum Sturz des Regimes mit immer noch stalinistischen Strukturen
Indes darf nicht übersehen werden, dass die Sowjetunion als Besatzungs- und später als Führungsmacht auf eine zu ihrer Version eines Sozialismus unbedingt loyale Parteiführung mit einem großen Stamm an Funktionären zählen konnte. Seit der "Stalinisierung" der KPD in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre verfügte die stalinistische Führung in der Sowjetunion über eine deutsche Kaderpartei, die in allen Grundinteressen den sowjetischen Vorgaben folgte - insbesondere, wenn es um die Durchsetzung konservativer oder traditioneller Vorgaben des "Marxismus-Leninismus" ging. Gelegentliche "Abweichungen", wie Ulbrichts nur halbherzige Entstalinisierung nach 1956, sein Sonderweg einer "sozialistischen Menschengemeinschaft" 1967/68 (der letztlich zu seiner Ablösung mit beitrug) oder Honeckers Front gegen eine neue "Eiszeit" im Kalten Krieg zu Beginn der achtziger Jahre sowie seine unverhohlene Ablehnung der Politik von Perestroika und Glasnost unter Gorbatschow stehen dem nicht entgegen.
Es handelte sich in der DDR um "ein Kollaborationsregime, dessen Akteure zumindest anfangs ehrlich glaubten, daß es im besten Interesse der Deutschen - oder zumindest der deutschen Arbeiterschaft - liege, in jenem Teil Deutschlands, der nach dem Zweiten Weltkrieg unter sowjetische Kontrolle geraten war, den Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Und nicht wenige unter ihnen waren gegebenenfalls bereit, zwecks Errichtung dieses Ziels auch Gewalt anzuwenden . . ."
III. Die Kommunisten und die Demokratie
Erstaunlicherweise standen am Beginn und am Ende der kommunistischen Diktatur in Deutschland Bekenntnisse zur parlamentarischen Demokratie. Die frühen Erklärungen aus dem Jahre 1945 waren sehr bald überholt. Die Versuche der SED-Führung unter Egon Krenz 1989, sich in letzter Minute mit der Rückkehr zu diesen Prinzipien an der Macht zu halten, scheiterten bekanntlich an der Bürgerbewegung.
1945, am Ende der Hitler-Gewaltherrschaft, schien jede Art der Diktatur diskreditiert, auch die "Diktatur des Proletariats". Seit 1935 hielten Komintern und KPD das unmittelbare Ziel einer "proletarischen" Revolution nicht mehr für aktuell und propagierten nunmehr eine "Bündnispolitik" als Weg zur Macht. Im Einklang mit der geltenden Strategie der kommunistischen Weltbewegung bekannte sich das ZK der KPD nun zur Demokratie. Als am 10. Juni 1945 die sowjetische Besatzungsmacht für ihr Gebiet die Bildung "antifaschistischer" Parteien und Gewerkschaften erlaubte, war die KPD-Führung davon nicht nur im voraus informiert
Der Gründungsaufruf des ZK, rasch in der gesamten Besatzungszone verbreitet, wurde umgehend zur verbindlichen Grundlage der Parteiarbeit. Er brach radikal mit den Programmtraditionen aus den Jahren vor 1933. Die KPD-Führung erachtete es nun als unzeitgemäß, "Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen". Sie propagierte vielmehr "den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk"
Der Sozialismus als Zielvorstellung kommunistischer Politik wurde in dem Aufruf ebensowenig erwähnt wie der Marxismus-Leninismus als ideologische Basis der Partei. Darüber hinaus forderte die KPD-Führung: "Wiederherstellung der Legalität freier Gewerkschaften der Arbeiter, Angestellten und Beamten sowie der antifaschistischen, demokratischen Parteien. Umbau des Gerichtswesens gemäß den neuen demokratischen Lebensformen des Volkes. Gleichheit aller Bürger ohne Unterschied der Rasse vor dem Gesetz . . . Säuberung des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens von dem faschistischen und reaktionären Unrat", ferner die Wiederherstellung der Selbstverwaltung in den Gemeinden. Moderat schienen auf den ersten Blick ihre wirtschaftspolitischen Ziele zu sein. Die KPD-Führung versprach: "Völlig ungehinderte Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums", allerdings mit der Einschränkung: "Schutz der Werktätigen gegen Unternehmerwillkür und unbotmäßige Ausbeutung", ferner "freie demokratische Wahlen" für die Betriebsvertretungen "in Betrieben, Büros und Behörden". Den einzigen Anklang an "klassische" kommunistische Ziele bildete die Forderung nach der "Liquidierung des Großgrundbesitzes" und der Umverteilung des Bodens.
Dem für Deutschland 1945 Notwendigen und Unabdingbaren - der Entnazifizierung, Entmilitarisierung und Demokratisierung - trug das KPD-Programm also Rechnung. Insofern unterschied es sich nicht von den Vorstellungen anderer Parteien. Aber mit dem Postulat der "Enteignung des gesamten Vermögens der Nazibonzen und Kriegsverbrecher" hatte das ZK vor dem Hintergrund des KPD-Verständnisses von "Faschismus" (an das im Aufruf erinnert wurde) geradezu eine Generalklausel für weitreichende Umwälzungen der Eigentumsverhältnisse formuliert. Später sprach Walter Ulbricht das auch offen aus: "Wir verstehen dabei unter Faschismus nicht nur die führenden Funktionäre der Hitlerpartei, sondern ebenso die kapitalistischen Kriegsinteressenten, die Konzern- und Bankherren und vor allem die Großgrundbesitzer."
Die KPD-Führung hatte im Moskauer Exil bereits entsprechende Programme entworfen - diese belegten die Kontinuität der alten Ziele: unangefochtene politische Hegemonie, tiefgreifende Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und die Herausbildung neuer Eliten. Wie wenig sich gegenüber dem Kurs vor 1933 geändert hatte, wurde in einem Referat des Parteivorsitzenden Wilhelm Pieck im Oktober 1944 deutlich: Er skizzierte das Bild der KPD als "Führerin dieser Massenbewegung für die demokratische, antiimperialistische Umwälzung in Deutschland"; dabei galt ihm "die Partei Lenins-Stalins" als "die einzige und beste Lehrmeisterin"
Schon mit der Rückkehr nach Deutschland, im Gefolge der Roten Armee, hatten für die Parteiführer Herrschaftserringung und Machtsicherung absolute Priorität. Sie besetzten in Abstimmung mit der sowjetischen Militärverwaltung sofort leitende Positionen in Verwaltungen, Bildungswesen, der Personalpolitik und vor allem bei der Polizei und im Sicherheitswesen, soweit dies Deutschen offenstand. Dafür kann das Schicksal des Leipziger Polizeipräsidenten Heinrich Fleißner als Beispiel genannt werden: Als Sozialdemokrat 1933 aus dem Amt entfernt, wurde er im Mai 1945 von den Amerikanern wieder eingesetzt. Nach dem Besatzungswechsel im Juli 1945 erneut, dieses Mal von den Sowjets, entlassen, ersetzte ihn der Kommunist Kurt Wagner
Schon die erste Phase der Besatzungsherrschaft in der sowjetischen Zone zeigte, wie wenig Besatzungsmacht und KPD die Demokratie-Maxime ernst nahmen. Insbesondere die Auseinandersetzungen um die Bildung der SED, die die Bezeichnung "Zwangsvereinigung" durchaus verdienen
Die wenigen Kompromisse, die die Kommunisten im Vorfeld der SED-Gründung aus taktischen Motiven einzugehen hatten, wurden schnell aufgekündigt. Noch vor dem Beginn der umfassenden Stalinisierung der SED 1948
Weder der Aufstand vom 17. Juni 1953 noch die "Entstalinisierung" in der Sowjetunion führten zu einer Liberalisierung des Systems, genauso wenig wie die wirtschaftlichen Reformversuche nach 1963 und Ulbrichts ideologische Eigenständigkeiten 1967/68. Auch Honeckers Rückkehr zu den Grundlagen eines Versorgungsstaates nach dem Modell des Weimarer Kommunismus veränderte das DDR-System nicht grundlegend. Nach Stalins Tod ebbte zwar der offene Terror ab, das Unterdrückungspotenzial wuchs jedoch. Das zeigt insbesondere das jeden Vergleich sprengende Wachstum des Ministeriums für Staatssicherheit unter Erich Mielke. Es entwickelte sich seit Ende der fünfziger Jahre zu einer "modernisierten Repressionsbürokratie" und verzeichnete gerade von Beginn der westlichen Entspannungspolitik an eine beispiellose personelle Expansion
Am Ende von SED und DDR stand erneut der Versuch, mit dem Bekenntnis zur Demokratie, Partei und Staat - also die eigene Herrschaft - zu stabilisieren und die politische Initiative gegenüber den Bürgerbewegungen zurückzugewinnen. Parallel zum Fall der Mauer versprach die SED-Führung in einem eilig verabschiedeten Aktionsprogramm: Vereinigungsfreiheit, Informationsfreiheit, "eine freie, allgemeine, demokratische und geheime Wahl" sowie den Abbau des politischen Strafrechts. Das sollte ergänzt werden durch die "demokratische Meinungs- und Willensbildung" in der SED, Meinungsstreit und "die Ausarbeitung von Alternativen zur politischen Entscheidungsfindung", die "Entflechtung von Partei und Staat" sowie einen Kurs auf "Gewinnung von Mehrheiten in den Volksvertretungen"
Damit gestand die SED-Führung um Krenz implizit ein, dass nicht nur der politische Weg der KPD/SED seit 1945 ein Weg in die Sackgasse, sondern auch die bisherige Vereinnahmung der Demokratie-Formel lediglich propagandistische Taktik war.
IV. "Antifaschismus" als Legitimationsgrundlage
Dem Antifaschismus-Mythos der DDR
Die Dimitroff-Formel gebot letztlich, nicht nach individueller Schuld oder Belastung zu fragen. Antifaschismus war somit eine "Klassen"-Frage, nämlich die der Ausschaltung der so stigmatisierten Träger der NS-Diktatur aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben. Die Umwälzung der Eigentumsverhältnisse unter den Großagrariern und in der Industrie bildeten folglich den ersten zentralen Kern der "Bewältigung" der Vergangenheit. Der zweite Schwerpunkt zielte auf die Ablösung der alten Eliten in Verwaltung, Bildung, Polizei und im weiteren Sinne allen sicherheitsrelevanten Bereichen. Die soziale Herkunft bildete ebenso wie das Moment der politischen Zuverlässigkeit im Sinne der SED, die sich schon 1946 als "führende Partei" begriff, die Schlüsselkategorie.
Die tatsächliche Rolle der enteigneten und entmachteten Schichten in der NS-Zeit blieb eine minder wichtige Frage. Im Grenzfall führte das auch zu Enteignungen von "bürgerlichen" Widerstandskämpfern, oder es wurden sogar Sozialdemokraten, die sich gegenüber der KPD und der SED nicht "bündniswillig" zeigten, in die Rolle von Kollaborateuren des Faschismus gerückt. Besonders drastische Auswüchse zeigte dieses instrumentalisierte Faschismus-Verständnis in der Auseinandersetzung der SED mit der westdeutschen SPD und ihrem Vorsitzenden Kurt Schumacher. Ihm wurde in einer uferlosen Propagandakampagne unter anderem unterstellt, ein "Agent der Reaktion" zu sein. Die SED-Publizistik zog sogar vergleichende Parallelen von ihm zu Hitler und Goebbels
In einer weiteren Dimension nahm dieses "Antifaschismus"-Verständnis sehr problematische Züge an: Die politischen Führungsinstanzen in der SBZ und dann in der DDR weigerten sich beharrlich, von den Nazis enteignete Vermögenswerte ihren jüdischen Besitzern rückzuübertragen, da in ihnen "vorrangig Klassengegner gesehen wurden"
Darüber hinaus verengte sich das "antifaschistische" Spektrum in der sowjetischen Besatzungszone in der Nachkriegszeit rasch, gemäß den politischen Zielen der SED
Der Antifaschismus als Legitimationsideologie der DDR war letztlich also weniger auf eine konkrete Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angelegt, sondern diente von Anfang an als Integrations- wie Ausgrenzungsinstrument. Dass viele Menschen in ganz Deutschland und ein wichtiger Teil der Intellektuellen (vor allem Künstler und Schriftsteller, jedoch viel seltener Wissenschaftler)
Da die "antifaschistische Umwälzung" sich zunächst auf Umbrüche der Eigentumsverhältnisse und dem Austausch der Eliten konzentrierte, konnte sie auch mit einem recht formalen Akt beendet werden: Mit einem Befehl der SMAD vom 26. Februar 1948 wurden die Entnazifizierungskommissionen aufgelöst, faktisch der damit verbundene Machtwechsel für beendet erklärt. Schon zuvor hatte Walter Ulbricht den eigentlichen Sinn der Entnazifizierungskommissionen präzise gefasst: Es komme nicht darauf an, zu bewerten, was der Einzelne in der NS-Zeit getan habe, sondern wo er heute stehe und wie intensiv er sich im "demokratischen Aufbau" im Sinne der SED engagiere
V. Die DDR als Sozialstaat
In der Propaganda der DDR - nicht nur gegenüber der Bundesrepublik - nahmen die sozialen "Errungenschaften" einen breiten Raum ein. Als seit Mitte der siebziger Jahre in Westdeutschland die Arbeitslosigkeit rapide zunahm, nutzte die DDR das Argument der Vollbeschäftigung und zugleich der Beschäftigungsgarantie in ihrem Staat intensiv, um die soziale Sicherheit in der DDR herauszustellen. Sie verwies dabei auf das in der Verfassung fixierte Recht auf Arbeit (das zugleich aber auch eine Verpflichtung enthielt)
Die Ursachen von Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel sind vielschichtig. Zum ersten zählt dazu die seit der Nachkriegszeit weitgehend, ab 1972 fast vollständig verstaatlichte Industrie. Die zentral verwaltete Wirtschaft konnte ohne Rücksicht auf betriebswirtschaftliche Kosten und Rentabilitätsrechnungen Arbeitskräfte binden und sogar "horten"
Zudem war die DDR-Wirtschaft während der gesamten Zeit ihrer Existenz eine Mangelwirtschaft. Die Produktionskapazitäten waren nie ausreichend, um den Waren- und Dienstleistungsbedarf des Binnenmarktes und erst recht nicht des RGW zu befriedigen. In der Tat gab es zwar in der DDR alte Industrieregionen mit einem vergleichsweise hohen Industrialisierungsgrad, aber es unterblieben weitgehend Rationalisierungen und Modernisierungen, wie sie in den westlichen Staaten üblich waren. Daher war eine Produktionsausweitung nur durch Mehrarbeit möglich. Diesem Prinzip folgten die Honecker-Führung und vor allem der Wirtschaftsverantwortliche Günter Mittag. Sie verordneten der DDR-Wirtschaft einen Kurs der "Intensivierung". Das bedeutete Verlängerung der Maschinenlaufzeiten, Übergang zur Mehrschichten-Arbeit sowie den Verzicht auf die vielfach erwartete Arbeitszeitverkürzung. Da es zudem in der Planwirtschaft (durch Mängel der Planung und des Transportwesens) seit den siebziger Jahren häufig zu Stockungen im Produktionsablauf kam, waren die Betriebe gezwungen, durch konzentrierte Aktionen Rückstände aufzuholen und Strafen zu vermeiden.
Aufgrund dieser Wirtschaftsstruktur, die letztlich selbstzerstörerisch gewesen ist, war eine Arbeitsplatzgarantie völlig unproblematisch. Die Kehrseite war eine verdeckte Arbeitslosigkeit durch Hunderttausende unproduktiver Arbeitsplätze. Dieser Aspekt sozialer Sicherheit, diese "Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik" trug gleichwohl fraglos zur inneren Stabilisierung bei.
Die Planwirtschaft der DDR verfügte nur über ein bescheidenes Instrumentarium der Arbeitskräftelenkung
Ein weiteres Feld, der Wohnungsbau, bietet ebenfalls ein ambivalentes Bild. Für die DDR stand der Wiederaufbau der Industrie und der Verkehrswege nach der Behebung der dringendsten Kriegsschäden an Wohnungen im Vordergrund. Zugleich wurde das Dilemma durch einen hohen Wanderungsverlust nach Westdeutschland gemildert. Insgesamt war bis in die sechziger Jahre hinein der Wohnungsbau recht bescheiden; zugleich war der Wohnungsbestand überaltert, die Bauten vielfach vernachlässigt und in der Ausstattung unmodern. Enteignete Mietshäuser und das Eigentum von in die Bundesrepublik abgewanderten Bürgern wurde von kommunalen Wohnungsverwaltungen mehr schlecht als recht verwaltet.
Nach dem Führungswechsel von Ulbricht zu Honecker 1971 zeigte eine Wohnungszählung in der DDR nicht nur düstere Ergebnisse, sondern wies auch nach, dass die Wohnungsfrage zu den dringendsten sozialen Problemen in der DDR gehörte
Das ehrgeizige Ziel wurde verfehlt. Das Neubau-Programm war angesichts der immer knapperen Ressourcen in der Wirtschaft nicht einzuhalten. Die mit recht großem Pomp inszenierte Übergabe der dreimillionsten Wohnung durch Erich Honecker noch kurz vor der Wende erwies sich schlichtweg als statistischer Trick. Tatsächlich wurden weniger als zwei Millionen Wohnungen fertiggestellt. Zugleich verfiel die Altbau-Substanz rascher, als die Sanierungsmaßnahmen greifen konnten. In der Bilanz ergab sich so trotz aller Anstrengungen ein Rückgang an nutzbaren Wohnungen.
In einer weiteren Beziehung scheiterte das Wohnbauprogramm der SED unter Honecker. Das formulierte Ziel war es, soziale Segregation zu vermeiden. In die Neubaugebiete sollten vornehmlich Arbeiterfamilien, junge Familien mit Kindern und Jungverheiratete einziehen. Dadurch ergab sich indes ein sozialstruktureller Unterschied zwischen Alt- und Neubaugebieten. Arbeiter und Rentner waren in vielen Stadtzentren in alten Wohnungen überrepräsentiert, während jüngere, häufig höher Qualifizierte eher bereit waren, in die oft an den Stadträndern gelegenen Neubauviertel überzusiedeln. Das führte auch zur ungleichen Verteilung von Schulen oder Kindergärten: Diese fehlten mitunter in den Innenstädten, während in den Trabantensiedlungen aus Finanzmangel Einkaufsstätten oder Grünanlagen nicht mehr gebaut werden konnten. Insgesamt zeigt die Wohnungsbaupolitik der SED, dass sie die eigenen Ansprüche und Vorgaben nicht einlösen konnte, sondern darüber hinaus noch neue soziale Probleme schuf
Die Gesundheits- und Rentenpolitik der DDR bietet ebenfalls ein ambivalentes Bild
Demgegenüber zweifelsfrei stiefmütterlich wurden Rentenansprüche behandelt. Die Alters-Mindestrenten lagen recht niedrig, sie wurden nach wenigstens 15 Arbeitsjahren gewährt und reichten gerade zum Existenzminimum. Auch die Kombination unterschiedlicher Renten (Witwen-, Invaliden- oder Altersrenten) konnte das Mindestniveau im Regelfall nur bescheiden anheben. Die Rentenversorgung war trotz des zugrunde liegenden Versicherungsprinzips faktisch eine staatlich gewährte Grundversorgung. Die Rentnergenerationen der DDR standen über lange Zeit hinweg an der Grenze zu einer Altersarmut. Diesem Trend steuerten Partei und Staat seit 1971 mit der Einführung einer Freiwilligen Zusatzrentenversicherung entgegen. Damit wurde die Möglichkeit gegeben, über freiwillige Beiträge später höhere Rentenansprüche zu erwerben, zu insgesamt günstigen Konditionen. Am Vorabend der Wende hatten mehr als 70 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung davon Gebrauch gemacht. Aber daneben gab es ein System von Renten-Privilegien, die der Mehrheit der Bevölkerung nicht nur verschlossen waren, sondern vielfach auch verborgen blieben. So erhielten die Angehörigen der "Kampfgruppen", einer paramilitärischen Formation der SED, ebenso besondere Rentenvergünstigungen wie Bergleute, Polizisten, Zollbedienstete oder Lehrer. Die "Staatsnähe" dieser Gruppen (mit Ausnahme der Bergarbeiter) ist unübersehbar.
Ehrgeizige Pläne verfolgte die DDR-Führung auch auf dem Feld der Bevölkerungspolitik. Ihr Ziel, die Drei-Kinder-Familie, hat die DDR nie auch nur annähernd erreichen können. Daraus ergaben sich eine Reihe von neuen Problemen: Die Tendenz zur Ein-Kind-Familie setzte sich durch, die traditionellen Familienbeziehungen lockerten sich. Die gravierendste Folge war zweifellos der Anstieg der Scheidungsrate auf ein sonst in der Welt nicht erreichtes Niveau.
Der Versuch, Mutterschaft und Arbeitsleben auf Dauer miteinander zu verbinden, führte zwar zu einer vergrößerten wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Frauen, aber angesichts des wenig gewandelten Geschlechterverhaltens zu einer Dreifachbelastung durch Betrieb, Kinder und Haushalt
VI. Die Innovationsfähigkeit der DDR
Selbst die soziale Sicherung, für die SED in kommunistisch-sozialistischer Tradition von besonderem Gewicht, ergibt für die DDR im Vergleich zur Bundesrepublik also keine besonders günstige Bilanz. Stagnation und Modernisierungsunfähigkeit zeigten sich auch, wie häufig benannt, auf dem Feld der Wirtschaft seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre
So besehen, ist Ulbricht also nur in einem sehr spezifischen Sinne als Reformer anzusehen. Der Alt-Stalinist hatte nur früher und deutlicher als seine Widersacher erkannt, auf welchem Felde die Überlebenschancen des "real existierenden Sozialismus" zu suchen waren
1967 war beschlossen worden, die Ausgaben für Forschung und Entwicklung deutlich zu steigern und beschleunigt Automatisierungsprozesse voranzutreiben
Die Wurzeln für die Stagnation nicht nur der Wirtschaft seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre reichten also weiter zurück als bis zum Amtsantritt Honeckers. Die Reformfeindlichkeit des "real existierenden Sozialismus" scheint ein systemimmanentes Phänomen gewesen zu sein. Der dauerhafte Rückgang der Investitionsquote unter Honecker wäre damit gleichwohl nur ein Symptom. Als letztes deutliches Signal für die Modernisierungsfeindlichkeit der DDR wäre zu werten, dass die Quote der Studierenden eines Geburtsjahrgangs seit den siebziger Jahren sank und 1989 gerade die Hälfte der entsprechenden Zahlen der Bundesrepublik erreichte
VII. Fazit
Dass das Bild für die DDR auf dem Feld nicht nur wirtschaftlicher Innovation recht negativ ausfällt, kann nach den vielen Fakten wie der wissenschaftlichen und politischen Debatten - auch der Zeitzeugen
Unter diesem umfassenden Blickwinkel erscheint die DDR kaum als "deutsche Möglichkeit" oder legitime Alternative zur liberal-parlamentarisch verfassten Bundesrepublik. Die Dominanz sowjetischer Interessen ließ bis zum Durchbruch der "Perestroika" (die übrigens von einigen Exponenten des DDR-Regimes vorausahnend als "Ausverkauf" verstanden wurde) keine tatsächliche Option zu. Zugleich verhüllt die zweimalige propagandistisch-taktische Forderung nach parlamentarischer Demokratie in den Jahren 1945 und 1989 den Kern kommunistischen Politikverständnisses, das unter dem Siegel des "Antifaschismus" eine zusammengebrochene Diktatur durch eine neue zu ersetzen trachtete. Auch auf dem Feld sozialer Sicherheit wies die DDR bei zunehmend sichtbarer Innovationsunfähigkeit Rückstände und Defizite gegenüber der Bundesrepublik auf. Legitimität gewann die DDR trotz aller Anstrengungen nicht. Sie, so Graf Kielmansegg, "ergibt sich aus demokratisch begründetem politischen Pluralismus, rechtsstaatlicher Sicherheit und ökonomischer Effizienz"
aus: Zeitgeschichte, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 28/2001)