Einleitung
In den siebziger Jahren gewann die Deutsche Frage eine neue Dimension. Erinnerungen an das Dritte Reich verblassten, und die Idee der deutschen Wiedervereinigung wurde nach der bereits seit 1945 allmählich vollzogenen Integration der beiden deutschen Teilstaaten in die jeweiligen Blöcke nun auch durch eine zunehmende innerdeutsche "Normalisierung" überlagert. Die Welt und sogar die Deutschen selbst gewöhnten sich an den Zustand der deutschen Teilung. Die Tatsache, dass die beiden deutschen Staaten "normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung" entwickelten, wie es im Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR vom 21. Dezember 1972 hieß, wurde von vielen im In- und Ausland beinahe als Selbstverständlichkeit betrachtet.
QuellentextGrundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 21. Dezember 1972
Artikel 1
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik entwickeln normale gutnachbarliche Beziehungen zueinander auf der Grundlage der Gleichberechtigung.
Artikel 2
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik werden sich von den Zielen und Prinzipien leiten lassen, die in der Charta der Vereinten Nationen niedergelegt sind, insbesondere der souveränen Gleichheit aller Staaten, der Achtung der Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und territorialen Integrität, dem Selbstbestimmungsrecht, der Wahrung der Menschenrechte und der Nichtdiskriminierung.
Artikel 3
Entsprechend der Charta der Vereinten Nationen werden die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik ihre Streitfragen ausschließlich mit friedlichen Mitteln lösen und sich der Drohung mit Gewalt oder der Anwendung von Gewalt enthalten. Sie bekräftigen die Unverletzlichkeit der zwischen ihnen bestehenden Grenze jetzt und in der Zukunft und verpflichten sich zur uneingeschränkten Achtung ihrer territorialen Integrität.
Artikel 4
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen davon aus, dass keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann.
Artikel 6
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik gehen von dem Grundsatz aus, dass die Hoheitsgewalt jedes der beiden Staaten sich auf sein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektieren die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden Staaten [...]
Artikel 7
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik erklären ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung ihrer Beziehungen praktische und humanitäre Fragen zu regeln. Sie werden Abkommen schließen, um auf der Grundlage dieses Vertrages und zum beiderseitigen Vorteil die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Wissenschaft und Technik, des Verkehrs, des Rechtsverkehrs, des Post- und Fernmeldewesens, des Gesundheitswesens, der Kultur, des Sports, des Umweltschutzes und auf anderen Gebieten zu entwickeln und zu fördern. Einzelheiten sind in dem Zusatzprotokoll geregelt. [...]
Zitiert nach Konrad Stollreither, Das vereinigte Deutschland. Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1991, S. 42 f.
Allerdings verschwand die Wiedervereinigung nicht völlig von der Tagesordnung. Für die Bundesrepublik war sie eine grundgesetzliche Verpflichtung. Und die DDR-Führung argumentierte, dass eine Wiedervereinigung möglich sei, falls sich der Sozialismus in der Bundesrepublik durchsetze. "Wenn der Tag kommt", so der SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker 1981 in einem Interview mit dem britischen Verleger Robert Maxwell, "an dem die Arbeiterklasse mit der sozialistischen Umgestaltung der Bundesrepublik beginnt, dann wird sich die Frage der Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einem völlig neuen Licht zeigen. Es sollte in unseren Köpfen keinen Zweifel geben, [...] wie unsere Entscheidung dann aussehen wird."
Im Fall des Saarländers Honecker, wie bei vielen anderen in beiden Staaten, mögen die gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur sowie die fortbestehenden Bindungen zwischen Familien und Freunden über die Ost-West-Grenzen und ideologischen Gräben hinweg eine wichtige Rolle gespielt haben, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu erhalten. Aus Sicht der DDR blieben die innerdeutschen Beziehungen allerdings ein Teil der "globalen Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus". Die Politik der "friedlichen Koexistenz" - des friedlichen Nebeneinanders von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung - war aus dieser Perspektive kein Versuch zur Aussöhnung, sondern nur eine Form des Klassenkampfes. Die westdeutschen Verhandlungspartner im Rahmen der Entspannung galten nicht in erster Linie als Angehörige derselben deutschen Nation, sondern vor allem als politische Gegner, die man weiter bekämpfen musste - zumal die neue Ostpolitik der Bundesrepublik zunehmend sogar die innere Stabilität der DDR gefährdete.
Abgrenzungspolitik der DDR
Innenpolitische Probleme ergaben sich für die DDR vor allem aus den Folgewirkungen der Fülle
von Vereinbarungen, die in den Jahren 1971 bis 1973 zwischen den beiden deutschen Staaten geschlossen wurden. So willkommen die internationale Anerkennung war, die sich damit für die DDR verband - innerhalb eines Jahres nach Abschluss des Grundlagenvertrages nahmen 68 Länder diplomatische Beziehungen mit Ostberlin auf, außerdem wurden beide deutschen Staaten Mitglieder der UNO -, so problematisch erschienen aus der Sicht der DDR-Führung deren innenpolitische Konsequenzen: Während beispielsweise 1970 nur etwa zwei Millionen Menschen aus der Bundesrepublik und Westberlin die DDR und Ostberlin besucht hatten, stieg diese Zahl bereits 1973 auf über acht Millionen an. Und die Zahl der Telefongespräche zwischen Ost und West, die 1970 lediglich 700.000 betragen hatte, explodierte bis 1980 förmlich auf über 23 Millionen jährlich. Angesichts der Tatsache, dass die DDR bereits durch die westlichen Medien - vor allem durch das westdeutsche Fernsehen, das abgesehen vom Raum Dresden und dem nordöstlichen Teil von Mecklenburg-Vorpommern überall in der DDR empfangen werden konnte - starker Beeinflussung ausgesetzt war, wuchs daher die Sorge der DDR-Führung, dass die Zunahme der persönlichen Kontakte sich negativ auf den inneren Zusammenhalt der DDR auswirken könnte.
"Abgrenzung" zwischen den beiden deutschen Staaten hieß daher die Devise, mit der das SED-Regime der neuen Herausforderung zu begegnen suchte. Schon am 13. September 1970, kurz nach den ersten zwei Begegnungen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Kassel und Erfurt, erklärte in diesem Zusammenhang das für die Außenpolitik zuständige Mitglied des SED-Politbüros, Hermann Axen, die DDR habe "die Pflicht, sich weiterhin in allen Bereichen von der imperialistischen Bundesrepublik abzugrenzen".
Wenige Tage später, am 6. Oktober, wies Stoph selbst die "Fiktion der so genannten Einheit der Nation" zurück und behauptete, "angesichts des Gegensatzes der Systeme, des Staates und der Gesellschaft" sei "ein objektiver Prozess der Abgrenzung, nicht dagegen der Annäherung, unausweichlich". Schlüsselgruppen, wie etwa Partei- und Staatsfunktionären sowie Wehrpflichtigen, war es künftig untersagt, Kontakte zu Ausländern, zu denen auch die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik gerechnet wurden, zu unterhalten. In einem "Besucherbuch" waren die Namen derjenigen zu notieren, die nicht aus der DDR stammten und DDR-Bürger in ihren Wohnungen aufsuchten.
Auf einem Parteitag der SED 1971 vertrat Honecker zudem die Auffassung, dass sich in Deutschland zwei getrennte Nationen entwickelten: die "sozialistische Nation" in der DDR und die "kapitalistische Nation" in der Bundesrepublik. Historiker und Parteiideologen wurden beauftragt, den Standpunkt der Bonner Regierung, wonach die deutsche Nation aufgrund der gemeinsamen Geschichte und des weiter vorhandenen Zusammengehörigkeitsgefühls fortbestehe, zurückzuweisen. Daher war es auch kein Zufall, dass das SED-Politbüro einen Tag vor der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages als des wichtigsten innerdeutschen Vertragswerks der Nachkriegsära am 8. November 1972 neue Prinzipien für Agitation und Propaganda beschloss. Knapp zehn Tage später fand zudem eine "Agitationskonferenz" statt, auf der das Politbüromitglied Werner Lambertz erklärte, dass es "an der ideologischen Front keinen Waffenstillstand, sondern verschärften Kampf" gebe und dass "friedliche Koexistenz nicht ideologische Ko- existenz" bedeute.
Schließlich unternahm die DDR-Führung auch Schritte, um die Verwendung des offensichtlich als problematisch empfundenen Wortes "deutsch" einzuschränken. So wurde die DDR in ihrer neuen Verfassung aus dem Jahre 1974 nur mehr als "sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern" und nicht mehr, wie in der Verfassung von 1968, als "sozialistischer Staat deutscher Nation" bezeichnet. Der von dem Schriftsteller Johannes R. Becher 1943 geschriebene Text der späteren DDR-Nationalhymne "Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt, lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland einig Vaterland" durfte nicht mehr gesungen werden.
Ausbau des Sicherheitsapparates
Die bedenklichste Form der Abgrenzung vollzog sich jedoch auf dem Gebiet des Staatssicherheitsapparates, der seit der neuen Ostpolitik immer weiter ausgebaut wurde und sich bald zu einem Instrument der flächendeckenden Kontrolle der DDR-Bevölkerung entwickelte. Der Etat des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), der 1968 eine Summe von 5,8 Milliarden DDR-Mark aufgewiesen hatte, wuchs bis 1989 um etwa 400 Prozent auf 22,4 Milliarden. Die Zahl der hauptamtlichen Mitarbeiter, die beim Amtsantritt Erich Mielkes 1957 erst 17.400 betragen hatte, stieg bis 1989 auf 91.000. Noch bemerkenswerter ist, dass sich deren Zahl allein in den Jahren der Entspannung von 1972 bis 1989 verdoppelte, wobei die größten Zuwachsraten in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zu verzeichnen waren. Nicht eingerechnet sind dabei die zuletzt 173.000 "Inoffiziellen Mitarbeiter", die ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur Bespitzelung der DDR-Bevölkerung leisteten.
Alle Anstrengungen der Staatssicherheit (Stasi) konnten indessen nicht verhindern, dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR das Klima der Entspannung zum Anlass nahmen, auch im eigenen Lande eine Lockerung der strengen Zensur und Überwachung zu fordern. In den ersten zwei Jahrzehnten der DDR, von 1949 bis in die frühen siebziger Jahre, hatte es für Schriftsteller, Künstler und Oppositionsgruppen kaum Entfaltungsmöglichkeiten gegeben. Mochten auch der Philosoph und Journalist Wolfgang Harich in den fünfziger Jahren und so unterschiedliche Autorinnen und Autoren wie Stefan Heym, Stephan Hermlin und Christa Wolf in den sechziger Jahren gelegentlich gegen die DDR-Kulturpolitik protestieren, so boten sich doch wenig Möglichkeiten der Veränderung. Staatliche Repressionen unterschiedlichen Grades gegen Kritiker wie Wolf Biermann, Stefan Heym und den zeitweise unter Hausarrest gestellten Professor Robert Havemann trugen zusätzlich dazu bei, das Ausmaß kontroverser öffentlicherDiskussionen einzudämmen.
Nach Beginn der Entspannungspolitik gestand SED-Parteichef Erich Honecker zwar im Mai 1973 den Intellektuellen, Schriftstellern und Künstlern "ein weites Feld für künstlerische Kreativität" zu. Doch die Grenzen der Autonomie wurden erneut sichtbar, als Wolf Biermann 1976 nach einer Konzerttournee in der Bundesrepublik nicht wieder in die DDR zurückkehren durfte, sondern ausgewiesen wurde. Freunde und Bekannte, die gegen diese Maßnahme der DDR-Führung protestierten, wurden ebenfalls verfolgt. Gleiches galt für zahlreiche andere prominente DDR-Schriftsteller, Musiker und Künstler, die entweder ausgebürgert wurden oder langfristige Ausreisegenehmigungen erhielten. Der Exodus prominenter DDR-Intellektueller bedeutete nicht nur einen großen geistigen Verlust für die DDR, sondern war auch ein bezeichnender Ausdruck für die Problematik der DDR-Kulturpolitik, die sich angesichts der Entspannungsfolgen nicht anders zu helfen wusste, als unliebsame Geister abzuschieben, um die Stabilität des Regimes zu sichern.
Wachsende Unruhe
Unruhe und Opposition gab es in den siebziger Jahren in der DDR aber auch in anderen Bereichen. So begannen Pastoren damit, sich gegen die Diskriminierung ihrer Kirchen aufzulehnen und jungen Menschen unter dem Dach der Gotteshäuser ein Forum zu bieten. Von den Kirchen veranstaltete Diskussionen über Sexualität, Alkoholismus, Rock-Musik, das Leben in der DDR und sogar über die Militarisierung der Gesellschaft waren nun keine Seltenheit mehr. Sie führten dazu, dass die Gottesdienste oft überfüllt waren und dass sich vor allem die evangelischen Kirchen zu einem Sammelbecken der Opposition entwickelten.
Die Selbstverbrennungen der Pastoren Oskar Brüsewitz aus Zeitz 1976, Rolf Günther aus Falkenstein und Gerhard Fischer aus Schwanewitz 1978 trugen zusätzlich dazu bei, dass viele das bisherige Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR sowie die Rolle der Kirchen als Teil der Oppositionsbewegung überdachten. Mit der Ruhe, die zwei Jahrzehnte lang geherrscht hatte, war es nun vorbei. Daran änderte auch der am 6. März 1978 auf einem Treffen zwischen Honecker und den Kirchenführern der DDR unter Bischof Albrecht Schönherr geschlossene informelle Pakt nichts, welcher der Kirche bescheinigte, "eine autonome Organisation von sozialer Bedeutung" zu sein.
Die Beruhigung, die sich die SED-Führung von diesem Treffen erhofft hatte, trat jedenfalls nicht ein. Die Kirchen blieben vielmehr ein wichtiger Angelpunkt der Opposition in der DDR. Beispiele dafür waren die 1979/80 öffentlich geübte Kritik am Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan und im Januar 1982 die Übersendung des von mehreren hundert Ostdeutschen unterzeichneten so genannten Berliner Appells an Honecker durch den Ostberliner Pastor Rainer Eppelmann, in dem die Militarisierung der Kindererziehung in der DDR angeprangert wurde. Etwa zur selben Zeit gewann die Friedensbewegung, die in Westeuropa bereits seit 1980 sehr aktiv war, auch in der DDR an Bedeutung. Zehntausende von zumeist jungen Ostdeutschen nahmen unter dem Slogan "Schwerter zu Pflugscharen" an einer Vielzahl von Veranstaltungen teil, ehe die SED-Führung nach dem Scheitern der Kampagne gegen die NATO-Nachrüstung 1983 offen gegen die Friedensbewegung in der DDR vorging und Ausweisungen sowie Verhaftungen vornehmen ließ.
Aber mit der Ausweisung einzelner Oppositioneller war es jetzt nicht mehr getan. Anfang 1984 beschloss die DDR-Regierung daher, 31.000 Bürgerinnen und Bürgern die Ausreise zu erlauben. Verglichen mit den 7729 Personen, die 1983 die DDR verlassen hatten, war dies eine bemerkenswerte Steigerung. Dass sich die Stimmungslage in der DDR grundsätzlich zu ändern begann, zeigte sich auch, als es im Juli 1984 zur ersten "Botschaftsbesetzung" kam, bei der 50 Ostdeutsche in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin Zuflucht suchten, um die Genehmigung zur Ausreise aus der DDR zu erhalten. Nachdem die ökonomischen Rahmenbedingungen aufgrund der Ölkrisen von 1973 und 1979 ungünstiger geworden waren und die DDR im direkten, auch optisch sichtbaren Vergleich mit der Bundesrepublik entgegen der staatlichen Propaganda immer schlechter abschnitt, schien die Unzufriedenheit der Menschen mit den Verhältnissen in der DDR zuzunehmen. Die Zuversicht, die zu Beginn der Honecker-Ära 1971 noch geherrscht hatte, war verflogen. Eine Besserung war nicht in Sicht.
Entwicklung in den Nachbarstaaten
Die Frustration der ostdeutschen Bevölkerung über den Mangel an Reformen in der DDR wurde
noch verstärkt durch Beispiele des Wandels in Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Obwohl die meisten DDR-Bürger anfänglich ihren relativen wirtschaftlichen Wohlstand dem vermeintlichen polnischen Chaos, der ungarischen Schaukelpolitik und der sowjetischen Unbeweglichkeit vorzogen, wäre es verfehlt anzunehmen, dass diese Reformbewegungen nur einen marginalen Einfluss auf die innere Entwicklung der DDR gehabt hätten. Im Gegenteil, die Weigerung der SED-Führung, ähnliche Reformen einzuleiten, trug erheblich dazu bei, dass viele Ostdeutsche die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse aufgaben und entweder resigniert Fluchtpläne schmiedeten oder nach Alternativen innerhalb der eigenen Grenzen Ausschau hielten. Die ostdeutsche Revolution des Jahres 1989 bereitete sich somit längerfristig vor.
Streiks in Polen
Im Sommer 1980 eskalierten Arbeiterunruhen auf den Werften von Danzig und Gdingen und brachten die unabhängige Gewerkschaftsbewegung "Solidarność" (Solidarität) hervor, aus der heraus im September 1980 der gleichnamige unabhängige Gewerkschaftsverband gegründet wurde. Diese Entwicklungen bedeuteten eine Herausforderung der etablierten kommunistischen Parteiherrschaft, die auch die innere Stabilität der DDR bedrohte. Diese war eine Vorbedingung der traditionellen Entspannungspolitik seit den siebziger Jahren gewesen. Streiks und Arbeiterproteste waren in der DDR zwar nicht in gleicher Weise wahrscheinlich, aber auch nicht - wie die Erinnerung an den 17. Juni 1953 zeigte - unmöglich, zumal die DDR gerade begann, sich westlichen Ideen und Einflüssen zu öffnen. Manche SED-Funktionäre fragten sich daher, ob die innere Ruhe, die trotz der Anzeichen einer gewissen Opposition bisher hatte gewahrt werden können, auch weiterhin aufrechtzuerhalten sei.
Die Regierung in Ostberlin entschied sich deshalb am 30. Oktober 1980 zu einer ersten Vorsichtsmaßnahme, indem sie den visafreien Verkehr zwischen der DDR und Polen aufhob und für den Reiseverkehr zwischen den beiden Staaten strenge Auflagen erließ. Die Abschirmung gegenüber dem Westen wurde nun ergänzt durch Abgrenzung gegenüber dem Osten. Der Prozess der Selbstisolierung der DDR begann. Die Maßnahmen der Staatssicherheit wurden auf Drängen Erich Mielkes, des DDR-Ministers für Staatssicherheit, nochmals drastisch verschärft, um, wie er mit Blick auf Polen erklärte, die "inhumanen und antisozialistischen Pläne und Machenschaften der Kräfte der Konterrevolution" zu bekämpfen, die von "imperialistischen Kräften im Westen" geschürt würden.
Tatsächlich waren die Auswirkungen der polnischen Ereignisse auf die DDR geringer als erwartet. Bis zum Sommer 1981 hatten sich die Ostdeutschen als unempfänglich für die polnischen Entwicklungen erwiesen. Es gab sogar Anzeichen für Ressentiments gegenüber den Polen, wobei alte Vorurteile - auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze - neu aufbrachen, so dass die Abgrenzungsmaßnahmen des SED-Regimes von der Bevölkerung der DDR zumindest partiell begrüßt wurden.
Aber die Erleichterung der SED-Führung, die noch zunahm, als mit der Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981 auch jede Tätigkeit der Gewerkschaft "Solidarität" untersagt wurde, war nur von kurzer Dauer. Denn General Wojciech Jaruzelski, der das Kriegsrecht verhängt hatte, erwies sich als weit weniger konsequent im Sinne der kommunistischen Orthodoxie, als man in Ostberlin gehofft hatte. Nach der Aufhebung des Kriegsrechts im Juli 1983 ließ Jaruzelski den Polen - einschließlich der Solidarität-Bewegung - ohne viel Aufhebens ein Maß an Freiheit und politischem Pluralismus, das in anderen kommunistischen Ländern noch unbekannt war.
Reformen in Ungarn
Ein Jahr später war das Übergreifen der polnischen Reformen auf andere Länder des Ostblocks nicht mehr zu übersehen und wurde auch von der DDR-Führung wahrgenommen. So kam es in Ungarn bereits zwischen 1982 und 1984 zu einer intensiven Diskussion über die wirtschaftliche und politische Zukunft des Landes, nachdem der seit 1956 vom langjährigen Chef der Kommunistischen Partei in Ungarn, János Kádár, praktizierte "ungarische Weg" - das heißt die Strategie, ökonomische Reformen von politischer Liberalisierung zu trennen - sich als ungeeignet erwiesen hatte, den erhofften Fortschritt herbeizuführen. Obwohl diese Debatte - anders als in Polen - nicht von Streiks und sozialen Unruhen ausgelöst worden war, wurde Kádár dadurch schließlich doch gezwungen, Maßnahmen zur Verstärkung der unternehmerischen Freiheit, dem Prinzip der persönlichen Verantwortung für ökonomische Leistung und einer Liberalisierung des Wahlgesetzes zuzustimmen.
Unterstützung für das Streben Ungarns nach mehr Eigenständigkeit kam überraschenderweise zunächst aus der DDR, wo Honecker sich bemühte, den Schaden zu begrenzen, der für die DDR aus der seit dem sowjetischen Einmarsch in Afghanistan zu beobachtenden Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen entstanden war. Da die DDR aus wirtschaftlichen Gründen auf die in der Ära der Entspannung geknüpften Kontakte nicht mehr verzichten konnte, war sie wie Ungarn auf weitere Kooperation mit dem Westen angewiesen. Die Situation war nicht ohne Ironie: Honecker verbündete sich mit Ungarn zu einer Zeit, als man in Budapest soeben daran ging, einen Kurs innerer Reformen und der Öffnung nach außen einzuschlagen, der später wesentlich dazu beitrug, das Regime der SED zu stürzen.
Dabei behielt Honeckers politische Formel, die er seit den siebziger Jahren stets vertreten hatte, jedoch weiterhin Gültigkeit: Ausbau der Westkontakte bei gleichzeitigem Bemühen, das Eindringen demokratischer Ideen in die DDR zu verhindern. Auch als Michail Gorbatschow im Frühjahr 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU ernannt wurde, blieb Honecker bei dieser Unterscheidung: Im selben Maße, in dem er Gorbatschows Anstrengungen zur Erneuerung der Ost-West-Entspannung befürwortete, wies er zugleich dessen Forderung nach größerer Offenheit sowie ökonomischen und politischen Umstrukturierungen im Innern zurück.
UdSSR: Revolution wider Willen?
Bis zu diesem Zeitpunkt war die UdSSR trotz gelegentlicher Veränderungen in der Taktik und Akzentuierung der sowjetischen Politik unter Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Andropow und Tschernenko stets eine Bastion leninistischer Einparteiherrschaft und einer staatlich gelenkten Planwirtschaft geblieben. Für die DDR bedeutete dies Existenzsicherung und Stabilität. Die konservative Kremlführung, revolutionärem Wandel und demokratischem Aufruhr zutiefst abgeneigt, sicherte durch die bloße Anwesenheit sowjetischer Truppen, aber auch durch psychologischen Druck und militärische Macht den Einfluss der SED als bestimmende Kraft in Ostdeutschland.
Tatsächlich bestand vierzig Jahre lang eine stille Übereinstimmung zwischen den Regierungen in Moskau und Ostberlin, dass die sowjetische Präsenz ein grundlegendes Element der inneren Stabilität der DDR darstellte. Die 380.000 in der DDR stationierten sowjetischen Soldaten dienten mindestens ebenso dem Zweck, die SED an der Macht zu halten, wie dazu, die äußere Sicherheit der DDR zu garantieren. Solange das sowjetische Verhalten an der disziplinierenden Funktion der Präsenz der Roten Armee keinen Zweifel ließ - was stets die Bereitschaft zur Gewaltanwendung und Niederschlagung oppositioneller Bewegungen einschloss -, waren weder die Stabilität der DDR noch der Zusammenhalt des sowjetischen Imperiums in Osteuropa ernstlich in Gefahr.
Alles dies änderte sich - wenn auch nicht über Nacht - mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows am 10. März 1985. Der neue Generalsekretär der KPdSU besaß zwar über die Eckpfeiler seiner Politik Glasnost und Perestroika hinaus noch kein endgültiges Gesamtkonzept für Reformen, so dass seine Politik oft widersprüchlich und wenig homogen wirkte. Aber die Stoßrichtung seiner grundsätzlichen Abkehr vom Stil und von den Denkweisen seiner Vorgänger war nicht zu übersehen. Dabei ging es im Kern nicht um die Beseitigung, sondern um die Stärkung des Sozialismus.
Wie Gorbatschow und seine Mitstreiter erkannt hatten, war das sowjetische System in seiner bisherigen Form zwar durchaus geeignet gewesen, der Industrialisierung im rückständigen Russland und den angrenzenden Gebieten zum Durchbruch zu verhelfen und Massengüter zu produzieren. An der Schwelle zu einer modernen Kommunikationsgesellschaft waren jedoch neue Anforderungen entstanden, denen das bürokratisch verkrustete sowjetische System kaum gewachsen war. Die neue Welt basierte auf Computern, auf der weitgehenden Vernetzung aller relevanten Informationsträger sowie auf Kreativität und Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit aller Ebenen - das heißt auf einer Struktur, die in einer abgeschotteten Gesellschaft undenkbar war.
Die Verwirklichung von Glasnost im Sinne einer Öffnung der sowjetischen Gesellschaft war daher ein primäres Anliegen der Gorbatschowschen Politik. Durch größere Offenheit und Transparenz sollte die UdSSR auf die Ansprüche und Bedürfnisse der modernen Kommunikationsgesellschaft vorbereitet werden. Dies war allerdings nur möglich, wenn zugleich eine grundlegende Umgestaltung des politischen, ökonomischen und sozialen Systems der Sowjetunion (Perestroika) erfolgte, bei der vor allem der wirtschaftliche Bereich durch eine Neustrukturierung und personalpolitische Wechsel auf vielen Ebenen reformiert und flexibilisiert wurde.
Denn das sowjetische System war in seinen Fundamenten von der Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei geprägt, die ihre diktatorischen Einflüsse in alle Bereiche ausgedehnt hatte und nicht nur die Politik und das Militär, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft bestimmte. Aus dieser Tatsache resultierte eine Inflexibilität, die den Anforderungen der modernen Zeit nicht mehr entsprach. Perestroika sollte deshalb die Möglichkeit eröffnen, der diktatorischen Einengung zu entkommen und eine Differenzierung und Regionalisierung der Entscheidungen und Handlungsabläufe zu ermöglichen. Zugleich sollte mit dieser Abwendung von der bisherigen Parteidiktatur die Kooperation des Westens zurückgewonnen werden, die unter Staatschef Breschnew und seinen Nachfolgern Andropow und Tschernenko verloren gegangen war. Ein "neues Denken" war angesagt, das eine Demokratisierung von Staat und Gesellschaft im Blick hatte.
Aufgabe der Breschnew-Doktrin
Entscheidend für die DDR war indessen die Tatsache, dass eine solche Politik der Reformen, die Gorbatschow selbst vieldeutig und prophetisch als "zweite Revolution" bezeichnete, aus zwei Gründen in höchstem Maße bedrohlich war: Zum einen gefährdeten innere Reformen, die auf eine Schwächung der repressiven Macht des Partei- und Staatsapparates hinausliefen, den inneren Zusammenhalt der DDR, die sich noch nie auf politische Legitimität durch freie Wahlen hatte stützen können. Zum anderen war spätestens seit 1987 absehbar, dass die Umsetzung dieser Politik auf außenpolitischer Ebene zu einer Revision der "Breschnew-Doktrin" führen würde. Diese war nach dem Einmarsch von Truppen aus fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zur Beendigung des "Prager Frühlings" im August 1968 von sowjetischen Parteiideologen entwickelt und danach von Generalsekretär Breschnew zur nachträglichen Rechtfertigung der Intervention verkündet worden. Die Doktrin erhob mit der Begründung einer "begrenzten Souveränität sozialistischer Länder" und einem "beschränkten Selbstbestimmungsrecht" einen militärischen Interventionsanspruch für die Sowjetunion, falls die kommunistische Herrschaftsordnung in einem Land ihres Machtbereichs bedroht schien.
Gorbatschow glaubte offenbar nicht, dass die Aufhebung der Breschnew-Doktrin und damit die Rücknahme der sowjetischen Bestandsgarantie für die sozialistischen Systeme in den osteuropäischen Ländern zu schwerwiegenden Konsequenzen führen werde. Er hielt die These von der "beschränkten Souveränität" und dem "beschränkten Selbstbestimmungsrecht" sozialistischer Staaten für ein entbehrliches Instrument aus der Vergangenheit. Auch im Verhältnis zu den osteuropäischen Ländern, so meinte Gorbatschow, seien Reformen - vor allem aus wirtschaftlichen Gründen - dringend notwendig. Die damit verbundene Neugestaltung des Verhältnisses der sozialistischen Länder unterei- nander werde sogar zu einem weiteren Aufschwung des Sozialismus beitragen.
In den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit blieben die Konturen von Gorbatschows Politik gegenüber Osteuropa allerdings noch vage und widersprüchlich. Bekenntnisse zu größerer nationaler Eigenständigkeit wechselten mit Forderungen nach Aufrechterhaltung der Einheit, wobei der Akzent zumeist auf der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Integration als Mittel zur Stärkung der "sozialistischen Gemeinschaft" lag. Doch am 10. April 1987 deutete sich erstmals in der Öffentlichkeit eine Positionsveränderung an, als Gorbatschow in einer Rede in Prag erklärte: "Wir sind weit davon entfernt, von jedem zu erwarten, uns zu kopieren. Jedes sozialistische Land hat seine spezielle Gestalt, und jede Bruderpartei entscheidet vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalen Bedingungen selbst über ihre politische Linie [...]. Niemand hat das Recht, einen Sonderstatus in der sozialistischen Welt für sich zu beanspruchen. Die Unabhängigkeit jeder Partei, ihre Verantwortung für ihrVolk und das Recht, die Probleme der Entwicklung ihres Landes auf souveräne Weise zu lösen - das sind für uns unumstößliche Prinzipien."
Eine ähnliche Auffassung vertrat Gorbatschow auch bei anderen Gelegenheiten in den folgenden Jahren noch mehrfach. So bemerkte er etwa in einer Rede vor dem Europarat in Straßburg am 7. Juli 1989 unter direkter Bezugnahme auf die Breschnew-Doktrin, "jede Einmischung in innere Angelegenheiten, alle Versuche, die Souveränität von Staaten - sowohl von Freunden und Verbündeten als auch von jedem sonst - zu beeinträchtigen", seien "unzulässig". Die "Philosophie des gemeinsamen europäischen Hauses" schließe die Möglichkeit eines bewaffneten Zusammenstoßes und "die Anwendung von Gewalt, vor allem militärischer Gewalt, zwischen den Bündnissen, innerhalb der Bündnisse oder wo auch immer" aus.
Im Oktober 1989 schließlich verkündete der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums, Gennadi Gerassimow, am Rande eines Besuches von Gorbatschow in Finnland gut gelaunt, die Breschnew-Doktrin werde durch die "Sinatra-Doktrin" ersetzt. Er spielte damit auf den amerikanischen Sänger Frank Sinatra an, der sich mit seinem in aller Welt populären Song "My Way" auf sehr persönliche Weise zu einem "eigenen Weg" - also zur Selbstbestimmung - bekannte. Der Hinweis auf dieses Lied war mithin eine indirekte Aufforderung an die Länder im bisherigen sowjetischen Machtbereich, nunmehr ohne Furcht vor sowjetischer Intervention eigene politische, wirtschaftliche und soziale Reformen einzuleiten.
DDR als Insel der Orthodoxie
Bei der DDR-Spitze riefen diese Entwicklungen große Besorgnis hervor. Zwar war die Regierung in Ostberlin mehr als ein Jahrzehnt lang in der Lage gewesen, durch ihre Politik der Abgrenzung die Kontakte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger mit dem Westen zu begrenzen und die destabilisierenden Folgen der Entspannung durch eine Mischung aus sozialer Bedürfnisbefriedigung und Kontrolle abzufangen, so dass Beobachter schon dazu verleitet wurden, die innere Stabilität und den relativen Erfolg der DDR viel zu hoch zu veranschlagen. Aber nachdem die Sowjetunion, die für die Rückendeckung des SED-Regimes in jeder Hinsicht unverzichtbar war, nun selbst eine "Revolution von oben" forderte und andere Ostblockstaaten wie Polen, Ungarn und selbst die Tschechoslowakei bereits Auflösungserscheinungen zeigten, wurde die Lage für die DDR kritisch.
Natürlich sah sich die DDR-Führung durch diese "reformistische Einkreisung" bedroht. Aber sie reagierte darauf nicht mit eigenen Reformen, sondern mit Selbstisolierung: Das SED-Regime wurde zu einer Insel der Orthodoxie in einem Meer politischer, ökonomischer und ideologischer Strukturveränderungen. Honecker bestand sogar ausdrücklich darauf, dass die DDR nicht gezwungen werden dürfe, dem sowjetischen Modell zu folgen, sondern dass es ihr erlaubt sein müsse, einen Sozialismus "in den Farben der DDR" zu entwickeln. Kurt Hager, Mitglied des Politbüros der SED und Chefideologe der Partei, stellte in diesem Zusammenhang in einem Interview mit der Zeitschrift "Der Stern" vom 9. April 1987 die vielzitierte rhetorische Frage, ob man sich denn verpflichtet fühlen müsse, seinem Nachbarn zu folgen, wenn dieser beschließe, in seinem Haus die Wände neu zu tapezieren. Die DDR-Führung jedenfalls - so ließ sich den Äußerungen Honeckers und Hagers entnehmen - verspürte keineVerpflichtung zu inneren Reformen. Im Gegenteil, man hielt sie für höchst überflüssig und schädlich, ja gefährlich.
Aus der begrenzten Sicht einer kommunistischen Kaderpartei war diese Einschätzung sogar zutreffend. Denn vor allem die improvisierten Bemühungen Gorbatschows, Glasnost und Perestroika in die Tat umzusetzen, ermutigten Reformer in anderen Ländern Osteuropas, weiter voranzuschreiten, zumal man ein militärisches Eingreifen der Sowjetunion immer weniger befürchten musste. Im April und Mai 1988 kam es deshalb in Polen zu neuen Streiks der Stahl- und Werftarbeiter, die sich zunächst zu einer Kraftprobe zwischen der offiziell immer noch verbotenen Gewerkschaft "Solidarität" und dem Regime von General Jaruzelski entwickelten, dann aber im Februar 1989 - ganz auf der Linie Gorbatschows - zu Gesprächen zwischen Innenminister Ceslaw Kiszczak, Vertretern des offiziellen Gewerkschaftsbundes und dem Führer der "Solidarität", Lech Walesa, führten, um die Situation zu entschärfen.
Um schon von der Atmosphäre her keine Frontenbildung aufkommen zu lassen, wurden die Verhandlungen an einem "Runden Tisch" geführt, der bald symbolische Bedeutung erlangen sollte. Wichtigste Ergebnisse waren im April 1989 eine Verfassungsreform und die Wiederzulassung der "Solidarität" sowie im Juni 1989 die ersten Parlamentswahlen in Polen nach dem Kriege mit teilweise freier Kandidatenaufstellung.
In Ungarn wurde Ministerpräsident Károly Grósz am 22. Mai 1988 als Verfechter weitreichender politischer und wirtschaftlicher Reformen zum neuen Generalsekretär der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei ernannt, während der langjährige Partei- und Staatschef János Kádár zunächst auf das neu geschaffene Amt eines Ehrenpräsidenten abgeschoben wurde, ehe man ihn im Mai 1989 aller Ämter enthob. Zugleich wurde - auch dies ein Affront für alle überzeugten Kommunisten - Imre Nagy, der 1958 in einem Geheimprozess zum Tode verurteilte und hingerichtete Führer des ungarischen Volksaufstandes von 1956, rehabilitiert und feierlich neu bestattet.
In der Tschechoslowakei war die Auflösung noch nicht so weit fortgeschritten wie in Polen und Ungarn. Aber auch hier wurde Staats- und Parteichef Gustav Husák im Dezember 1987 durch den jüngeren und flexibleren Miló? Jaké? ersetzt. Selbst wenn dies noch keine unmittelbare Liberalisierung des Regimes bedeutete, bewirkte der wachsende Ruf nach Demokratie und Freiheit auch hier eine Beschleunigung des Reformprozesses.
1987/88 war es daher schon fraglich geworden, wie lange sich das SED-Regime noch gegen die Öffnungs- und Liberalisierungstendenzen, die auch im eigenen Lande immer deutlicher wurden, würde abschirmen können. Immerhin verriet die DDR-Regierung ihre wachsende Nervosität, als sie im November 1988 fünf sowjetische Filme und den Vertrieb der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" in der DDR verbot, die von vielen reformorientierten Ostdeutschen als Ausdruck sowjetischer Offenheit gern gelesen wurde.
QuellentextReaktionen auf das Sputnik-Verbot - MfS-Bericht vom 30. November 1988
In der Mehrzahl der Meinungsäußerungen widerspiegelt sich nach wie vor Unverständnis bis hin zu prinzipieller Ablehnung mit dem Grundtenor, dass diese Entscheidung politisch falsch sei.
In diesem Sinne äußern sich besonders heftig, teilweise außerordentlich aggressiv, Angehörige der wissenschaftlich-technischen, medizinischen, künstlerischen und pädagogischen Intelligenz sowie Studenten an allen Universitäten und Hochschulen der DDR. [...]
Hauptargument der sich mit Unverständnis und Ablehnung äußernden Personen ist, damit werde die Bevölkerung der DDR politisch entmündigt. Eine solche Maßnahme sei Ausdruck mangelnden Vertrauens der Partei- und Staatsführung in die politische Reife und das Staatsbewusstsein der Bürger der DDR. Progressive Kräfte, besonders im wissenschaftlichen Bereich Tätige, vertreten die Auffassung, dass damit der denkbar ungeeignetste Weg der Auseinandersetzung mit falschen Geschichtsauffassungen gewählt worden sei. [...]
Die Maßnahme der DDR sei Ausdruck der grundsätzlichen zwiespältigen bzw. ablehnenden Haltung der Partei- und Staatsführung der DDR zur Politik der Umgestaltung in der UdSSR überhaupt. [...]
Vorliegenden Hinweisen zufolge münden die ablehnenden Haltungen und damit verbundenen Erwartungen hinsichtlich einer Korrektur dieser Entscheidung in erheblichem Umfang in folgende beachtenswerte Verhaltensweisen und Aktivitäten:
Anbringen ablehnender Stellungnahmen an Wandzeitungen bzw. Aushängen selbstgefertigter Plakate und Handzettel an öffentlichkeitswirksamen Stellen. [...]
Einzel- und Kollektiveingaben an zentrale Partei- und Staatsorgane sowie an den Zentralvorstand der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, Briefe an Redaktionen;
Sammlung von Unterschriften unter Protestschreiben bzw. ablehnende Stellungnahmen;
zahlreiche angekündigte, zum Teil bereits vollzogene Austritte aus der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft (in Einzelfällen Brigaden in Betrieben);
Einzelbeispiele von Austritten aus der SED unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Entscheidung.
Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 53 ff.
Die Selbstisolierung der DDR, die auch in diesen Maßnahmen wieder zum Ausdruck kam, sowie der antireformistische Kurs Honeckers waren innerhalb der SED-Führung nicht unumstritten. Doch die meisten Funktionäre zogen es vor zu schweigen, auch wenn sie vielfach insgeheim mit der offiziellen Politik ihrer Regierung nicht mehr übereinstimmten.
Politik des Westens
Auf westlicher Seite blieb man in den achtziger Jahren bei der Ausnutzung der Chancen, die sich durch die Reformprozesse in den osteuropäischen Ländern zu bieten schienen, bis zum Zusammenbruch der dortigen Regime außerordentlich vorsichtig. Da grundlegende Strukturveränderungen in Osteuropa unmöglich waren, solange die sowjetischen Streitkräfte an Elbe und Werra standen, und man sich andererseits nicht vorzustellen vermochte, dass die Westgruppe der Roten Armee in absehbarer Zeit friedlich abziehen würde, hätte eine Aufheizung der Situation von außen leicht zu einer Katastrophe führen können. Die Westmächte betrieben daher eine behutsame Politik des Status quo, die sich an den Bedingungen der Entspannung orientierte und sich auf dieser Grundlage weiter um Fortschritte bemühte.
So hieß es im Bericht zur Lage der Nation, den Bundeskanzler Helmut Kohl im März 1984 - ein Jahr vor Gorbatschows Amtsantritt, aber lange nach Beginn der Liberalisierungsbestrebungen in Polen und Ungarn - vor dem Deutschen Bundestag abgab, wörtlich: "Wir wollen das Erreichte bewahren und ausbauen, wir wollen die Chancen des Grundlagenvertrages und der anderen innerdeutschen Verträge und Vereinbarungen nutzen. Wir sind bereit, die Beziehungen zur DDR auf der Basis von Ausgewogenheit, Vertragstreue und Berechenbarkeit und mit dem Ziel praktischer, für die Menschen unmittelbar nützlicher Ergebnisse weiterzuentwickeln. Die Bundesrepublik Deutschland und die DDR stehen in einer Verantwortungsgemeinschaft für den Frieden und die Sicherheit in Europa, beide müssen sich um eine Entschärfung der internationalen Lage bemühen."
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als die inneren Schwierigkeiten und die Isolation der DDR innerhalb des eigenen Lagers erheblich zugenommen hatten, wurde die Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der DDR-Führung keineswegs geringer. So konnte auch der Besuch von SED-Generalsekretär Honecker, der bereits 1980 geplant gewesen war und nach der Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen im Gefolge des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan und nach dem Streit um die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa immer wieder hatte verschoben werden müssen, 1987 schließlich noch stattfinden.
Verständigungswille
Im gemeinsamen Kommuniqué von Honecker und Kohl wurde erneut betont, dass das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander ein "stabilisierender Faktor für konstruktive Ost-West-Beziehungen" bleiben müsse. Die Wiedervereinigung Deutschlands war überhaupt kein Thema. Zwar wurden "Unterschiede in den Auffassungen zu grundsätzlichen Fragen, darunter der nationalen Frage", festgestellt. Im Anschluss daran wurde allerdings sogleich hervorgehoben, "dass beide Staaten die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit jedes der beiden Staaten in seinen inneren und äußeren Angelegenheiten respektieren". Verständigungswille und Realismus sollten Richtschnur für eine konstruktive, auf praktische Ergebnisse gerichtete Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten sein.
Einen wie immer gearteten Wunsch nach Veränderung oder auch nur die Andeutung von Wiedervereinigungshoffnungen angesichts wachsender innerer Schwierigkeiten der DDR ließ sich diesen Ausführungen kaum entnehmen. Vielmehr bewies die Bundesrepublik ein hohes Maß an Verantwortungsbereitschaft, indem sie zugunsten der Vermeidung unnötiger Komplikationen in den osteuropäischen Reformprozessen auf die Propagierung und unmittelbare Durchsetzung langfristiger eigener politischer Ziele verzichtete, die sich beispielsweise aus dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes ergaben. Die Liberalisierung der kommunistischen Regime - darüber herrschte in den achtziger Jahren in Bonn, wie in den westlichen Hauptstädten überhaupt, weitgehend Einigkeit - musste von innen erfolgen und konnte von außen höchstens gefährdet, aber kaum gefördert werden. Dies galt in besonderem Maße für die DDR, wo nicht nur das Schicksal des SED-Regimes, sondern auch die sowjetische Präsenz im Herzen Europas auf dem Spiel standen.
Das hieß allerdings keineswegs, dass man die bestehenden Verhältnisse billigte. Das Dilemma der Bundesregierung bestand vielmehr darin, im Augenblick für den Status quo eintreten zu müssen, um längerfristig angestrebte Änderungen zu erreichen. Dies war bereits das Grundprinzip der neuen Ostpolitik Willy Brandts nach 1969 gewesen ("Wandel durch Annäherung" - also schrittweise Reformen, ausgehend vom Bestehenden) und hatte damals zu harten innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt, weil die CDU/CSU-Opposition seinerzeit den Erfolg eines solchen Kurses bezweifelt hatte. Inzwischen war das Prinzip jedoch weithin als einzig mögliche Veränderungsstrategie akzeptiert und wurde jetzt auch von der Regierung Kohl aus innerer Überzeugung vertreten.
aus: Der Weg zur Einheit, Informationen zur politischen Bildung (Heft 250)