Wann "68" war, wer "die 68er" im Osten waren und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es zwischen Ost und West gab, darüber ist viel publiziert und diskutiert worden. Oft werden die Unterschiede hervorgehoben, und es wird erklärt, dass es in der DDR keine explizite 68er-Generation und kaum Interesse für die Aktionen der westdeutschen Linken gegeben habe. Ich möchte auf einen Bereich verweisen, in dem es sehr wohl Gemeinsamkeiten, parallele Entwicklungen sowie Wechselwirkungen und in der DDR ein beständiges Interesse an der Entwicklung in der Bundesrepublik gegeben hat. Es geht um die Szene des politischen Liedes. Sie hatte in den der sechziger und siebziger Jahren in beiden deutschen Staaten eine Blütezeit, wurde in den Neunzigern für tot erklärt und ist mit der jüngsten Friedensbewegung wieder ins Gespräch gekommen.
Ich gehöre zu den Kindern der so genannten Hitlerjungen- oder Aufbaugeneration der DDR, von denen Dietrich Mühlberg meinte: "Sie waren um die Mitte der 60er Jahre das, was im Westen etwas später die 68er wurden. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Ihre Eltern waren mehrheitlich keine Nazis, ihr Problem bestand nicht darin, die beschwiegene NS-Vergangenheit protestierend ans Licht zu holen und die fortlebenden hierarchischen Strukturen anzugreifen. Sie dagegen mussten damit fertig werden, dass ihre Eltern, ihre Lehrer und deren Partei immer Recht hatten. Das gab nicht den Zündstoff für eine kulturelle Revolution ab, wie sie die Studierenden einiger großer Städte im Westen dann Ende der 60er durchspielten. Keine Kulturrevolution also (...), aber die Entwicklung eines neuen kulturellen Milieus, das in den Gesellschaftsvorstellungen der etablierten Älteren nicht vorgesehen war."
Dieser Teil der jungen Generation in der DDR betrachtete den Sozialismus meist als Selbstverständlichkeit, wollte ihn mitgestalten und begab sich dazu auf den "Marsch durch die Institutionen". Man fühlte sich der internationalen linken Protestkultur verbunden, versuchte, die "FDJ flott" (so hieß es in einem Titel des Liedermachers Bernd Rump)-zumachen, mehr Offenheit und Farbe ins Kulturleben der DDR zu bringen, und hoffte, unter dem Einfluss von "Tauwetter" und "Prager Frühling", auf eine "Parteielite im Wandel"
"1968" als Chiffre für Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse in Ost und West steht für emanzipatorischen Aufbruch und für Solidarität mit den antiimperialistischen Unabhängigkeitsbewegungen. "1968" bezeichnet auch einen weltweiten kulturellen Aufbruch: In der Popmusik artikulierte sich ein neues Lebensgefühl. Und es entwickelte sich eine musikalische Protestkultur, die Elemente des traditionellen Volksliedes und der zeitgenössischen populären Musik vereinte und als "Folk Revival" bezeichnet wurde. Dazu gehörten das "Nueva Canción" in Chile (Violeta Parra), die griechische "volkstümliche Kunstmusik" (Mikis Theodorakis) und der "Nuovo Canzoniere Italiano" (Fausto Amodei).
Die musikalische Protestkultur ging von den USA aus, von den Bürgerrechtskämpfen der Afroamerikaner, der Studentenbewegung und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Folksänger und Liedermacher wie Bob Dylan, Joan Baez, Phil Ochs und Tom Paxton wurden international bekannt. Joan Baez besuchte mehrmals die Bundesrepublik und kam am 1. Mai 1966 zu einer Fernsehaufzeichnung nach Ost-Berlin. Pete Seeger trat im Januar 1967 in Ost- und in West-Berlin auf. Die neue musikalische Bewegung inspirierte viele. Wolf Biermann schickte im Juli 1966, ein halbes Jahr nach seinem Auftritts- und Publikationsverbot, einen Vietnam-Song an Walter Ulbricht und schrieb, dieser Song habe "alle Aussicht, ein zentrales Lied der internationalen Anti-Vietnamkriegs-Bewegung zu werden"
Was ging uns also die Bundesrepublik an? Was erfuhren wir überhaupt von dort? Hinfahren konnten nur wenige Künstler und Fachleute. Aber ein gewisser Austausch funktionierte dennoch. Schallplatten, Bücher, Zeitschriften und Zeitungen kamen in begrenztem Umfang von "drüben" und gingen in der Szene von Hand zu Hand. Was in den ost- und westdeutschen Medien zum Thema Folksong/Chanson erschien, wurde aufmerksam verfolgt.
Von offizieller Seite hatte es in der DDR in den fünfziger Jahren eine scharfe ideologische Ablehnung der angloamerikanisch geprägten Massenkultur gegeben. Nach dem Mauerbau zog zunächst eine gewisse Offenheit und Gelassenheit im Umgang mit musikalischen Einflüssen aus dem Westen ein. Mit den Folk- und Protestsongs kamen nun sogar "linke" Lieder von "drüben". Jan Koplowitz bezeichnete die westlichen Folksongs als "Lieder von Bundesgenossen" und schlug vor, die Sänger einzuladen und ihre Lieder von DDR-Interpreten singen zu lassen, "um endlich einmal bei einer fortschrittlichen Sache die ersten zu sein, statt später doch negativen Importen hinterherzuhinken"
Am Anfang des neuen politischen Liedes in der Bundesrepublik standen Anfang der sechziger Jahre die nach englischem Vorbild durchgeführten Ostermärsche gegen Atombewaffnung. Im DDR-Rundfunk (Deutschlandsender) wurde ausführlich über die Ostermärsche und ihre Musik berichtet. Ostermarschlieder wurden von Mitgliedern des Berliner Hootenanny-Klubs
Von 1964 bis 1969 fanden auf Burg Waldeck im Hunsrück die ersten westdeutschen Folk- und Liedermacherfestivals statt. Viele Liedermacher und Folksänger begannen hier ihre Karriere oder wurden einer größeren Öffentlichkeit bekannt, darunter Franz-Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Hannes Wader und Dieter Süverkrüp. Aus der DDR kamen Perry Friedman, Hermann Hähnel und Lin Jaldati auf die Burg Waldeck. Das Waldeck-Festival inspirierte auch das Ost-Berliner Festival des politischen Liedes. Als eine Art Bindeglied zwischen ost- und westdeutscher Musikszene fungierte der kanadische Folksänger Friedman, der seit 1959 in Ost-Berlin lebte und dort die ersten "Hootenannies" veranstaltete. Er war 1966 Mitbegründer des Ost-Berliner Hootenanny-Klubs (ab 1967 "Oktoberklub"), des ersten in der DDR. Die Atmosphäre war zwanglos: Amateure und Profis traten gemeinsam auf, neben Friedman Dorit Gäbler, Hartmut König, Reiner Schöne, die Beatgruppe Team 4 und viele andere. Bettina Wegner sagt über diese Zeit: "Das Prinzip war, dass jeder auf die Bühne kommen konnte - eine tolle Zeit! Die meisten haben was von Bob Dylan gespielt, aber manche auch von sich selber. Ich war 1966 18 Jahre alt, und ich wollte einfach singen, und mir hat es Spaß gemacht, aber politisch war für mich damals nur Vietnam ein Thema. 68 wurde das anders."
Anfang 1967 wurde (eine Art Spätfolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED von 1965) eine härtere ideologische Gangart angeschlagen. Die Singebewegung (von Hootenanny sollte nicht mehr gesprochen werden) wurde von der FDJ vereinnahmt und ihr spontaner, geselliger Charakter beschnitten. Doch sie entwickelte sich zu einer Laienmusizierbewegung von beachtlichem Ausmaß. Das politische Lied wurde musikalisch vielfältiger; es entstand ein kultureller Schmelztiegel, aus dem eine ganze Kunstszene hervorging. Zwar wurde versucht, alle Aktivitäten in die FDJ einzubinden, aber diese Einvernahme wurde immer wieder unterlaufen. Die Singebewegung generell als "Inszenierung einer künstlichen, sozialistischen Jugendkultur"
Im Osten wie im Westen gab es unter den Liedermachern diejenigen, die zur Fundamentalopposition neigten, und andere, die den "Marsch durch die Institutionen" antraten. Wolf Biermann wurde zum Inbegriff des Oppositionellen, nachdem er nur noch in seiner Ost-Berliner Wohnung produzieren und im Westen veröffentlichen konnte. Er sagte später: "Das Verbot erwies sich als mein Glück", habe es ihn doch davor beschützt, seine "schwachen Kräfte in immer neuen Kompromissen zu verschleißen."
Von 1970 bis 1990 fand in Ost-Berlin das Festival des politischen Liedes statt. Der Oktoberklub hatte sich 1968 vorgenommen, seine Jubiläumsveranstaltungen im Februar jeden Jahres zu einem "sozialistischen Folksong-Festival"
In der DDR fiel die musikalische Protestkultur aus dem Westen bei politisch und kulturell interessierten Jugendlichen auf fruchtbaren Boden. Es gab große Sympathien für die Linke im Westen und ihren antikapitalistischen, emanzipatorischen Protest. Gewiss hatte diese Begeisterung auch schwärmerische Züge, und die krisenhafte Entwicklung des Staatssozialismus untergrub zunehmend ihre Glaubwürdigkeit.
Die Singebewegung und das Festival des politischen Liedes jedoch als Erscheinungen einer "Ersatzprotestkultur" zu bezeichnen, die sich "mit offizieller Duldung (...) der Posen und Accessoires westlicher Protestbewegungen"
aus: Deutsche Zeitgeschichte: 60er und 70er Jahre, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 45/2003)