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1968 im Osten - was ging uns die Bundesrepublik an?

Lutz Kirchenwitz

/ 9 Minuten zu lesen

Die Jugendkultur Ende der 60er Jahre in der DDR und der Bundesrepublik waren grundverschieden und doch ähnlich.

Der Liedermacher Hannes Waader. (© AP)

Wann "68" war, wer "die 68er" im Osten waren und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es zwischen Ost und West gab, darüber ist viel publiziert und diskutiert worden. Oft werden die Unterschiede hervorgehoben, und es wird erklärt, dass es in der DDR keine explizite 68er-Generation und kaum Interesse für die Aktionen der westdeutschen Linken gegeben habe. Ich möchte auf einen Bereich verweisen, in dem es sehr wohl Gemeinsamkeiten, parallele Entwicklungen sowie Wechselwirkungen und in der DDR ein beständiges Interesse an der Entwicklung in der Bundesrepublik gegeben hat. Es geht um die Szene des politischen Liedes. Sie hatte in den der sechziger und siebziger Jahren in beiden deutschen Staaten eine Blütezeit, wurde in den Neunzigern für tot erklärt und ist mit der jüngsten Friedensbewegung wieder ins Gespräch gekommen.

Ich gehöre zu den Kindern der so genannten Hitlerjungen- oder Aufbaugeneration der DDR, von denen Dietrich Mühlberg meinte: "Sie waren um die Mitte der 60er Jahre das, was im Westen etwas später die 68er wurden. Allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Ihre Eltern waren mehrheitlich keine Nazis, ihr Problem bestand nicht darin, die beschwiegene NS-Vergangenheit protestierend ans Licht zu holen und die fortlebenden hierarchischen Strukturen anzugreifen. Sie dagegen mussten damit fertig werden, dass ihre Eltern, ihre Lehrer und deren Partei immer Recht hatten. Das gab nicht den Zündstoff für eine kulturelle Revolution ab, wie sie die Studierenden einiger großer Städte im Westen dann Ende der 60er durchspielten. Keine Kulturrevolution also (...), aber die Entwicklung eines neuen kulturellen Milieus, das in den Gesellschaftsvorstellungen der etablierten Älteren nicht vorgesehen war."

Dieser Teil der jungen Generation in der DDR betrachtete den Sozialismus meist als Selbstverständlichkeit, wollte ihn mitgestalten und begab sich dazu auf den "Marsch durch die Institutionen". Man fühlte sich der internationalen linken Protestkultur verbunden, versuchte, die "FDJ flott" (so hieß es in einem Titel des Liedermachers Bernd Rump)-zumachen, mehr Offenheit und Farbe ins Kulturleben der DDR zu bringen, und hoffte, unter dem Einfluss von "Tauwetter" und "Prager Frühling", auf eine "Parteielite im Wandel" (so die Bezeichnung im Westen).

"1968" als Chiffre für Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse in Ost und West steht für emanzipatorischen Aufbruch und für Solidarität mit den antiimperialistischen Unabhängigkeitsbewegungen. "1968" bezeichnet auch einen weltweiten kulturellen Aufbruch: In der Popmusik artikulierte sich ein neues Lebensgefühl. Und es entwickelte sich eine musikalische Protestkultur, die Elemente des traditionellen Volksliedes und der zeitgenössischen populären Musik vereinte und als "Folk Revival" bezeichnet wurde. Dazu gehörten das "Nueva Canción" in Chile (Violeta Parra), die griechische "volkstümliche Kunstmusik" (Mikis Theodorakis) und der "Nuovo Canzoniere Italiano" (Fausto Amodei).

Die musikalische Protestkultur ging von den USA aus, von den Bürgerrechtskämpfen der Afroamerikaner, der Studentenbewegung und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Folksänger und Liedermacher wie Bob Dylan, Joan Baez, Phil Ochs und Tom Paxton wurden international bekannt. Joan Baez besuchte mehrmals die Bundesrepublik und kam am 1. Mai 1966 zu einer Fernsehaufzeichnung nach Ost-Berlin. Pete Seeger trat im Januar 1967 in Ost- und in West-Berlin auf. Die neue musikalische Bewegung inspirierte viele. Wolf Biermann schickte im Juli 1966, ein halbes Jahr nach seinem Auftritts- und Publikationsverbot, einen Vietnam-Song an Walter Ulbricht und schrieb, dieser Song habe "alle Aussicht, ein zentrales Lied der internationalen Anti-Vietnamkriegs-Bewegung zu werden". Schlager entstanden, die den Stil der Folk- und Protestsongs imitierten, so zum Beispiel in der Bundesrepublik Drafi Deutschers "Welche Farbe hat die Welt". Der 15-jährige Pfarrerssohn Gerhard Schöne schrieb auf diese Melodie im sächsischen Coswig den Text "Sag mir, was ist deine Welt" und wurde damit in Kirchenkreisen sehr bekannt. Zur gleichen Zeit komponierte der 18-jährige Ost-Berliner Oberschüler Hartmut König in Anlehnung an den amerikanischen Song "Which Side Are You On" das Lied "Sag mir, wo du stehst", das zum bekanntesten Titel des damaligen "Hootenanny"- und späteren "Oktoberclubs" wurde. 1968 erschien im Ost-Berliner Eulenspiegel-Verlag das Buch "Protestsongs" mit Texten von Bob Dylan, Phil Ochs, Franz-Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hartmut König und anderen. Beigelegt war eine Schallplatte, auf der Manfred Krug neben einem eigenen Vietnam-Song Lieder aus Chile, Frankreich und den USA sang.

Was ging uns also die Bundesrepublik an? Was erfuhren wir überhaupt von dort? Hinfahren konnten nur wenige Künstler und Fachleute. Aber ein gewisser Austausch funktionierte dennoch. Schallplatten, Bücher, Zeitschriften und Zeitungen kamen in begrenztem Umfang von "drüben" und gingen in der Szene von Hand zu Hand. Was in den ost- und westdeutschen Medien zum Thema Folksong/Chanson erschien, wurde aufmerksam verfolgt.

Von offizieller Seite hatte es in der DDR in den fünfziger Jahren eine scharfe ideologische Ablehnung der angloamerikanisch geprägten Massenkultur gegeben. Nach dem Mauerbau zog zunächst eine gewisse Offenheit und Gelassenheit im Umgang mit musikalischen Einflüssen aus dem Westen ein. Mit den Folk- und Protestsongs kamen nun sogar "linke" Lieder von "drüben". Jan Koplowitz bezeichnete die westlichen Folksongs als "Lieder von Bundesgenossen" und schlug vor, die Sänger einzuladen und ihre Lieder von DDR-Interpreten singen zu lassen, "um endlich einmal bei einer fortschrittlichen Sache die ersten zu sein, statt später doch negativen Importen hinterherzuhinken". Einige Funktionäre glaubten, sie hätten mit den neuen Songs eine Alternative zur westlichen Rock- und Popmusik gefunden.

Am Anfang des neuen politischen Liedes in der Bundesrepublik standen Anfang der sechziger Jahre die nach englischem Vorbild durchgeführten Ostermärsche gegen Atombewaffnung. Im DDR-Rundfunk (Deutschlandsender) wurde ausführlich über die Ostermärsche und ihre Musik berichtet. Ostermarschlieder wurden von Mitgliedern des Berliner Hootenanny-Klubs Mitte der sechziger Jahre auch bei der Ost-Berliner Maidemonstration gespielt. Der Skifflesound der westlichen Ostermarschlieder wurde prägend für die Singebewegung der DDR in den sechziger Jahren.

Von 1964 bis 1969 fanden auf Burg Waldeck im Hunsrück die ersten westdeutschen Folk- und Liedermacherfestivals statt. Viele Liedermacher und Folksänger begannen hier ihre Karriere oder wurden einer größeren Öffentlichkeit bekannt, darunter Franz-Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Hannes Wader und Dieter Süverkrüp. Aus der DDR kamen Perry Friedman, Hermann Hähnel und Lin Jaldati auf die Burg Waldeck. Das Waldeck-Festival inspirierte auch das Ost-Berliner Festival des politischen Liedes. Als eine Art Bindeglied zwischen ost- und westdeutscher Musikszene fungierte der kanadische Folksänger Friedman, der seit 1959 in Ost-Berlin lebte und dort die ersten "Hootenannies" veranstaltete. Er war 1966 Mitbegründer des Ost-Berliner Hootenanny-Klubs (ab 1967 "Oktoberklub"), des ersten in der DDR. Die Atmosphäre war zwanglos: Amateure und Profis traten gemeinsam auf, neben Friedman Dorit Gäbler, Hartmut König, Reiner Schöne, die Beatgruppe Team 4 und viele andere. Bettina Wegner sagt über diese Zeit: "Das Prinzip war, dass jeder auf die Bühne kommen konnte - eine tolle Zeit! Die meisten haben was von Bob Dylan gespielt, aber manche auch von sich selber. Ich war 1966 18 Jahre alt, und ich wollte einfach singen, und mir hat es Spaß gemacht, aber politisch war für mich damals nur Vietnam ein Thema. 68 wurde das anders." Die Hootenanny-Bewegung war weder oppositionell noch inoffiziell. Aber es war keineswegs eine verordnete Kampagne, sondern eine Sache, die relativ spontan entstanden war, kollektiv betrieben wurde und ein für DDR-Verhältnisse ungewöhnliches Maß an Lockerheit aufwies. Während die FDJ-Bezirksleitung Berlin und der Jugendsender DT 64 den Klub förderten, blieb der FDJ-Zentralrat misstrauisch und erklärte: "Diese Musizierart hat Parallelen im kapitalistischen Ausland. (...) Es ist darauf Einfluß zu nehmen, daß diese jungen Sänger unsere politischen Kampfziele zum Inhalt ihrer Lieder und Programmgestaltung machen und das politische Niveau des pazifistischen Protestsongs überwinden."

Anfang 1967 wurde (eine Art Spätfolge des 11. Plenums des Zentralkomitees der SED von 1965) eine härtere ideologische Gangart angeschlagen. Die Singebewegung (von Hootenanny sollte nicht mehr gesprochen werden) wurde von der FDJ vereinnahmt und ihr spontaner, geselliger Charakter beschnitten. Doch sie entwickelte sich zu einer Laienmusizierbewegung von beachtlichem Ausmaß. Das politische Lied wurde musikalisch vielfältiger; es entstand ein kultureller Schmelztiegel, aus dem eine ganze Kunstszene hervorging. Zwar wurde versucht, alle Aktivitäten in die FDJ einzubinden, aber diese Einvernahme wurde immer wieder unterlaufen. Die Singebewegung generell als "Inszenierung einer künstlichen, sozialistischen Jugendkultur" abzutun greift sicherlich zu kurz.

Im Osten wie im Westen gab es unter den Liedermachern diejenigen, die zur Fundamentalopposition neigten, und andere, die den "Marsch durch die Institutionen" antraten. Wolf Biermann wurde zum Inbegriff des Oppositionellen, nachdem er nur noch in seiner Ost-Berliner Wohnung produzieren und im Westen veröffentlichen konnte. Er sagte später: "Das Verbot erwies sich als mein Glück", habe es ihn doch davor beschützt, seine "schwachen Kräfte in immer neuen Kompromissen zu verschleißen." Viele DDR-Künstler beschritten den schwierigen Weg der Kompromisse. So sagte Gerhard Schöne, er "habe es damals für richtig gehalten, lieber in kleinen Schritten zu verändern, als einmal die große Lippe zu riskieren und dann nicht wieder".

Von 1970 bis 1990 fand in Ost-Berlin das Festival des politischen Liedes statt. Der Oktoberklub hatte sich 1968 vorgenommen, seine Jubiläumsveranstaltungen im Februar jeden Jahres zu einem "sozialistischen Folksong-Festival" zu machen. War der Beginn noch eine eher regionale Veranstaltung, so wurde das Festival in späteren Jahren zu einer der größten Musikveranstaltungen der DDR. Es profitierte von der kulturpolitischen Öffnung und Liberalisierung der DDR in den siebziger Jahren und trug selbst dazu bei. Initiator war der Oktoberklub, offizieller Träger anfangs die FDJ-Bezirksleitung Berlin. 1975 wurde der FDJ-Zentralrat Hauptveranstalter, ausschlaggebend für Stil und Organisation war jedoch weiterhin eine große Zahl ehrenamtlicher Mitarbeiter. Eine nicht unwesentliche Seite des Festivals war, dass es hier ab 1971 kontinuierlich zu deutsch-deutschen Kontakten kam, allerdings lange Zeit "in DKP-formatierter Form", wie es Diether Dehm formuliert. Von Süverkrüp, Degenhardt und Wader über Flohde Cologne, Liederjan und Zupfgeigenhansel bis zu Ute Lemper, Heinz-Rudolf Kunze und Konstantin Wecker reicht die Namensliste der westdeutschen KünstlerInnen, die in Ost-Berlin auftraten.

In der DDR fiel die musikalische Protestkultur aus dem Westen bei politisch und kulturell interessierten Jugendlichen auf fruchtbaren Boden. Es gab große Sympathien für die Linke im Westen und ihren antikapitalistischen, emanzipatorischen Protest. Gewiss hatte diese Begeisterung auch schwärmerische Züge, und die krisenhafte Entwicklung des Staatssozialismus untergrub zunehmend ihre Glaubwürdigkeit.

Die Singebewegung und das Festival des politischen Liedes jedoch als Erscheinungen einer "Ersatzprotestkultur" zu bezeichnen, die sich "mit offizieller Duldung (...) der Posen und Accessoires westlicher Protestbewegungen" bedient habe, wie Stefan Wolle das tut, wird dem Gegenstand nicht gerecht. Vielmehr trifft es zu, dass es den Dogmatikern nie gelang, "das Festival zum ausschließlichen Instrument ihrer Politik zu machen". Es war ein "Fenster zur Welt", das "auch von Kulturfunktionären genutzt wurde, um frische Luft ins Land zu lassen". Die Solidarität mit der Dritten Welt und die Sympathie für die westlichen Protestbewegungen waren keineswegs verordnet, sondern echt. Das Festival war, wie Hans-Eckardt Wenzel meint, ein "politischer Karneval", der "den Alltag der DDR kurz außer Kraft" setzte.

aus: Deutsche Zeitgeschichte: 60er und 70er Jahre, Aus Politik und Zeitgeschichte (B 45/2003)

Fussnoten

Fußnoten

  1. Dietrich Mühlberg, Zur Eröffnung der Ausstellung "Wenn meine Lieder nicht mehr stimmen" - Lieder, Filme, Plakate und Dokumente aus der DDR (61 - 89), in: Festival Musik und Politik 2002, Berlin 2002, S. 5.

  2. Peter Christian Ludz, Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung. Eine empirisch-systematische Untersuchung, Köln 1968.

  3. Wolf Biermann, Brief an Walter Ulbricht vom 4. 7. 1966, in: Teurer Genosse, hrsg. von Jochen Staadt, Berlin 2000, S. 226.

  4. Jan Koplowitz, Warum singt Marlene Folksongs?, in: blick. Wochenendbeilage der Freiheit vom 18. 12. 1965.

  5. "Hootenanny" ist ein unübersetzbarer amerikanischer Nonsensbegriff; er bezeichnete zwanglose Folk-Abende.

  6. Bettina Wegner in der Sendung Zeitzeichen, WDR 2, 15. 2. 1991.

  7. Beschluss über die Entwicklung des Singens in der Freien Deutschen Jugend, in: Junge Generation, (1966) 11, S. 59.

  8. Dorothee Wierling, Geboren im Jahr 1. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002, S. 331.

  9. Wolf Biermann, Wie man Verse macht und Lieder. Eine Poetik in acht Gängen, Köln 1997, S. 236.

  10. Gerhard Schöne, Ein singender Erzähler. Interview mit Heinz-Peter Katlewski, in: folk-michel, (1992) 5, S. 25.

  11. Protokoll der Klubratssitzung des Oktoberklubs vom 7. 11. 1968. Im Besitz des Verfassers.

  12. Diether Dehm, in: Festival des politischen Liedes 2000. Vorträge und Protokolle, Berlin 2000, S. 12.

  13. Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 - 1989, Bonn 1998, S. 240. Vgl. auch ders., Die versäumte Revolte: Die DDR und das Jahr 1968", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22 - 23/2001, S. 37 - 46.

  14. Andreas Herbst u.a., So funktionierte die DDR, Reinbek 1994, S. 277.

  15. Hans-Eckardt Wenzel, Booklet-Text zur CD "Festival des politischen Liedes. Die Achtziger", PLÄNE 88839.

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Dr. phil., geb. 1945, Kulturwissenschaftler, Vorsitzender des Vereins "Lied und soziale Bewegungen" in Berlin.
Anschrift: Prenzlauer Berg 17/9.3, 10405 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: lkj.kiwi@t-online.de

Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg.) Lieder und Leute. Die Singebewegung der FDJ, Berlin (Ost) 1982; Folk, Chanson und Liedermacher in der DDR. Chronisten, Kritiker, Kaisergeburtstagssänger, Berlin 1993.