1. Begriff
Die Deutschlandpolitik umfasste jenen Bereich politischer Konzeptionen und Aktionen, der sich aus der Tatsache der deutschen Teilung und insbesondere der Existenz zweier deutscher Staaten zwischen 1949 und 1990 ergab. Die Deutschlandpolitik war dabei sowohl im programmatischen Anspruch ihrer Akteure als auch in der politischen Wirklichkeit zwischen Außen- und Innenpolitik angesiedelt. Auf der einen Seite war die Deutschlandpolitik stets in die Ost-West-Beziehungen und die Bündnispolitik der beiden Blöcke eingebettet, auf der anderen Seite stand sie in einem engen Bezug zur Innenpolitik des jeweiligen deutschen Staates und insbesondere deren Legitimationsbedürfnissen. Daher verknüpften sich in der Deutschlandpolitik eine Vielzahl von politischen, juristischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten.
2. Gründung zweier deutscher Staaten (1945-1949)
Die eigentliche Ursache für die deutsche Teilung war die Welteroberungspolitik des Dritten Reiches, die eine sehr heterogene Allianz zwischen den westlichen Demokratien und der kommunistischen Sowjetunion hervorrief. Nach dem Sieg dieses Zweckbündnisses über das Großdeutsche Reich im Mai 1945 hielten die Alliierten zunächst offiziell an der politischen und wirtschaftlichen Einheit Ds fest. Doch die wachsenden Interessengegensätze zwischen den Siegermächten führten 1947/48 zum Kalten Krieg, der in D die Etablierung von gegensätzlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen in den drei westlichen Besatzungszonen und der sowjetischen Besatzungszone zur Folge hatte. Die Konsequenz dieser Entwicklung war schließlich am 23.5.1949 die Konstituierung der BRD und am 7.10.1949 die Ausrufung der DDR.
3. Wiedervereinigungshoffnungen (1949-1960)
Deutschlandpolitik in den 50er Jahren bestand auf Seiten beider deutschen Staaten darin, sich jeweils als eigentlicher deutscher Kernstaat zu verstehen, den Legitimitätsanspruch des Kontrahenten zu bezweifeln und seine Stabilität zu untergraben. Die DDR stilisierte sich zum antifaschistischen Deutschland und prangerte faschistische Kontinuitäten in der BRD an. Die BRD sprach der DDR die demokratische Legitimität ab und beanspruchte für sich, für alle Deutschen zu sprechen. Die führenden Repräsentanten der DDR, W. Pieck und W. Ulbricht, bemühten sich im Rahmen gesamtdeutscher Kontaktversuche erfolglos um die Aufwertung und Anerkennung ihres Staates; die BRD beharrte auf ihrem Alleinvertretungsanspruch und setzte ihn auf internationaler Ebene mit der Hallstein-Doktrin durch. Bundeskanzler K. Adenauer strebte an erster Stelle die Wiedergewinnung der Souveränität und damit verbunden die Westintegration der BRD an, die Wiederherstellung der deutschen Einheit war diesen Zielen nachgeordnet (Außenpolitik). Die meisten Politiker und große Teile der Öffentlichkeit in Westdeutschland erwarteten die baldige Wiedervereinigung durch einen Kollaps der DDR und setzten auf die wirtschaftliche und soziale Anziehungskraft der BRD (Magnettheorie K. Schumachers) und eine Politik der Stärke (Adenauer). Diese Erwartungen waren, wie der Arbeiteraufstand vom 16./17.6.1953 und die ökonomische Krise der DDR zu Ende der 50er Jahre zeigten, nicht unbegründet.
4. Entspannungsbemühungen (1961-1969)
Durch den Bau der Berliner Mauer und die Errichtung von kaum überwindbaren Grenzanlagen im August 1961 gelang es der Führung der DDR, ihr wirtschaftliches und politisches System zu stabilisieren. Gleichzeitig leiteten die beiden Weltmächte, auch im Gefolge der Berlin- und der Kuba-Krise, Bemühungen um eine Entspannung zwischen den Blöcken ein. Diese veränderten Rahmenbedingungen mussten sich auch auf die Deutschlandpolitik auswirken. Als erster bundesdeutscher Politiker propagierte E. Bahr im Juli 1963 einen "Wandel durch Annäherung". W. Brandt leitete zunächst als Regierender Bürgermeister von Berlin und dann seit 1966 als Bundesaußenminister in der Großen Koalition eine Politik der "kleinen Schritte" in der Deutschlandpolitik ein, durch welche die menschlichen Folgen der staatlichen Teilung Ds gemildert werden sollten. So wurde im Dezember 1963 ein Passierscheinabkommen ausgehandelt, das den Westberlinern erstmals seit dem Mauerbau wieder einen Besuch ihrer Verwandten und Freunde in Ost-Berlin ermöglichte. Die Bundesregierung der Großen Koalition bemühte sich in der zweiten Hälfte der 60er Jahre um Verständigung mit der Sowjetunion und den übrigen osteuropäischen Staaten. Der DDR verweigerte sie jedoch weiterhin die Anerkennung, erklärte sich aber zu informellen Kontakten bereit. So waren die 60er Jahre auch in der Deutschlandpolitik eine Zeit des Suchens nach neuen Lösungen.
5. Neue Deutschlandpolitik (1969-1982)
Die Übernahme der Bundesregierung durch eine SPD-FDP-Koalition im Oktober 1969 leitete eine Wende in der Deutschlandpolitik ein. Bundeskanzler Brandt erkannte in der Regierungserklärung erstmals die DDR an, auch wenn er an der Einheit der deutschen Nation festhielt: "Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland". Die sozialliberale Bundesregierung ging von den realen Verhältnissen in D aus, um diese schrittweise zu verändern. Die DDR-Führung hingegen hielt zunächst an ihrer Maximalforderung einer völkerrechtlichen Anerkennung fest und ging erst auf Druck der Sowjetunion und nach Ablösung Ulbrichts durch E. Honecker auf Verhandlungs- und Kompromissbemühungen ein. Das Ergebnis war schließlich der Grundlagenvertrag vom 21.12.1972, der zum Fundament der Deutschlandpolitik in den 70er und 80er Jahren wurde. In diesem Vertrag erkannten sich die beiden deutschen Staaten staatsrechtlich an, hielten aber an einem Sonderstatus der innerdeutschen Beziehungen fest. Sie strebten weitere vertragliche Regelungen auf den Gebieten von Wirtschaft, Verkehr, Umwelt und Kultur an. Große praktische Bedeutung hatten vor allem die Vereinbarungen über den in den Jahren des Kalten Krieges immer wieder neuralgischen Transit zwischen Westdeutschland und Westberlin. Gleichzeitig stimmten die beiden deutschen Staaten in der Präambel des Grundlagenvertrages darin überein, dass sie in der Frage der Nation und der deutschen Staatsbürgerschaft (Staatsangehörigkeit) unterschiedlicher Auffassung waren.
Nicht alle mit dem Abschluss des Grundlagenvertrages verbundenen Hoffnungen erfüllten sich. Die Enttarnung eines DDR-Spions im Kanzleramt führte 1974 nicht nur zum Rücktritt Brandts, sondern auch zu einem Klimasturz in den zwischen-deutschen Beziehungen. Während der BRD insbesondere an den im Grundlagenvertrag avisierten innerdeutschen Verbesserungen gelegen war, stellte die DDR vor allem die Aspekte ihrer internationalen Statusverbesserung heraus und schottete sich innenpolitisch durch eine rigorose Abgrenzungspolitik ab. So erweiterte die neue Deutschlandpolitik zwar den internationalen Handlungsspielraum beider deutschen Staaten, doch in zwischendeutscher Hinsicht war sie eher von begrenztem Erfolg.
6. Deutschlandpolitische Kontinuität (1982-1989)
Obwohl die CDU/CSU zuvor die neue Deutschlandpolitik der sozialliberalen Koalition bis vor das Bundesverfassungsgericht angefochten hatte, hielt sie nach ihrer Regierungsübernahme im Herbst 1982 an den Grundzügen dieser Politik fest. Zusammen mit der DDR- Führung unter E. Honecker bemühte sich die Bundesregierung unter H. Kohl Anfang der 80er Jahre um eine Begrenzung des Schadens, der durch die Nachrüstungskrise zwischen den Militärblöcken drohte. Als eine vertrauensbildende Maßnahme gewährte die Bundesregierung auf Anregung von F.J. Strauß im Juni 1983 der DDR eine Bürgschaft für einen Milliardenkredit. Im Rahmen der durch den Amtsantritt M. Gorbatschows 1985 verbesserten internationalen Großwetterlage konnte schließlich im September 1987 Honecker als Staatsratsvorsitzender der DDR erstmals die BRD besuchen. Bei seinem Empfang in der Bundeshauptstadt Bonn bemühte sich die Bundesregierung unter Kohl um Konzilianz in praktischen Fragen, hielt aber entschieden an dem Wiedervereinigungspostulat des Grundgesetzes fest. Insgesamt war die Deutschlandpolitik der Bundesregierung Kohl in den 80er Jahren durch Kontinuität auf der Ebene des Umgangs mit dem anderen deutschen Staat und stärkeres Beharren auf der "offenen deutschen Frage" charakterisiert.
7. Bilanz
Nicht die deutschlandpolitischen Bemühungen und Deklamationen der wechselnden Bundesregierungen, sondern die internationalen Veränderungen im Sowjetblock sowie die inneren Krisen und Protestbewegungen in der DDR haben 1989/90 zum Zusammenbruch des zweiten deutschen Staates und damit zur deutschen Vereinigung geführt. Auch wenn die Deutschlandpolitik der BRD in den 40 Jahren der Teilung das Ziel der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Ds nicht erreichte, so trug sie doch dazu bei, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden deutschen Staaten nicht völlig verblasste. Nach der staatlichen Vereinigung Ds am 3.10.1990 ist die Deutschlandpolitik als Handlungsfeld zwischen zwei Staaten und ihren Regierungen hinfällig geworden. Das Zusammenwachsen der alten und neuen Bundesländer ist heute eine innenpolitische Aufgabe, die von den politisch Verantwortlichen angeleitet, aber letztlich von den Deutschen in Ost und West im Prozess der deutschen Vereinigung verwirklicht werden muss.