Es war eine Debatte, die in die Geschichte des deutschen Parlamentarismus einging. Mit seltener Ernsthaftigkeit und Verantwortungskraft stritten die Abgeordneten jenseits parteipolitischer Zwänge und bis zur Erschöpfung fast zwölf Stunden über die Frage: Welchen Weg nimmt das neue, vereinigte Deutschland? Versteht es sich nur als eine geographisch erweiterte West-Republik oder wagt es den riskanten Aufbruch in den Osten – und in ein ungeteiltes Europa? Darum ging es an jenem 20.Juni 1991,als der Deutsche Bundestag am späten Abend mit knapper Mehrheit beschloss, dass Berlin nicht nur symbolisch Hauptstadt sein soll, sondern Parlaments- und Regierungssitz.
Wer heute, als eingesessener Berliner oder als Tourist aus Schwaben, an einem schönen Sommertag zwischen Kanzleramt und Reichstagsgebäude durch das Hauptstadtviertel radelt, braucht viel Fantasie, um sich in den dramatischen Streit vor zwei Jahrzehnten hineinzuversetzen. Wenige Tage vor der alles entscheidenden Plenarsitzung hatte die SPD auf einem Parteitag in Bremen mit einer Stimme Mehrheit für Bonn gestimmt. Auch die Christdemokraten waren in sich zerrissen. Die PDS brachte den Vorschlag einer Volksabstimmung ins Spiel und es wurde sogar erwogen, die Hauptstadtentscheidung um vier Jahre zu verschieben. Dazu kam es glücklicherweise nicht. Vor der internationalen Gemeinschaft, vor den Partnern in Europa und den USA hätte sich die politische Klasse in Deutschland nicht besser blamieren können.
In Berlin, weit weg vom Rhein, herrschte damals eine Art Endzeitstimmung. Eine Woche vor der Bundestagsdebatte beschloss das Abgeordnetenhaus - hoffend und bangend - eine "Entschließung über den Sitz der Verfassungsorgane". Der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen verwies auf den Einigungsvertrag, der Berlin als deutsche Hauptstadt bestätigt habe. Doch eine Hauptstadt ohne Funktion mache keinen Sinn. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums legte die PDS-Abgeordnete Gesine Lötzsch den Finger in die Wunde: In den alten Bundesländern dächten viele, der Osten sei weit, fremd, mit Problemen beladen; "geht es nicht besser ohne ihn?" Unabhängig von der politischen Couleur fühlten sich die Berliner allein gelassen von der noch rheinischen Republik.
Ein Gefühl, dass nur zum kleinen Teil einem trotzigen Lokalpatriotismus entsprang. In West-Berlin war die Euphorie des Mauerfall angesichts der enormen Belastungen des Zusammenwachens einer wachsenden Rat- und Perspektivlosigkeit gewichen. Im Osten der Stadt war die Hauptstadt der DDR gerade abgewickelt worden. Was sollte aus Berlin werden, das nur über einen Bruchteil der finanziellen und wirtschaftlichen Ressourcen verfügte, die eigentlich benötigt wurden? Was noch schwerer wog: Der Stadt war die Identität verloren gegangen – als Schaufenster und nationales Symbol des Westens und als politisches Zentrum und Attraktion des Ostens. Gemeinsam beladen mit einer deutschen Geschichte, die längst noch nicht aufgearbeitet war.
Wer diese Zeit aus Berliner Sicht miterlebt hat, ist nicht peinlich berührt über jene Szenen, die sich am 20.Juni 1991 um 21.47 Uhr im Rathaus Schöneberg abspielten. Als die Sektkorken knallten, sich hartgesottene Fraktionschefs mit Tränen in den Augen um den Hals fielen und die Freiheitsglocke läutete. Es war mehr als die Freude über einen unvermuteten Sieg. Es war eine ungeheure Erleichterung, die sich überschwänglich Luft machte. Es war das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein, überlebt zu haben, neuen Mut schöpfen zu können. Die Gefühle schwappten hoch, so war die Stimmung damals.
Es hätte anders kommen können. Der Respekt vor der mutigen Entscheidung, die der Bundestag vor zwei Jahrzehnten traf, beruht deshalb auch auf der intellektuellen Leistung, die die Abgeordneten vollbrachten. Man hörte sich zu, man bedachte die Argumente und entschied dann, nach der 104. Rede am späten Abend. "Ersparen wir Berlin den Weg in eine Megastadt!", rief der CDU-Bundesminister Norbert Blüm aus. Berlin als lediglich repräsentative Hauptstadt wäre eine Beleidigung der Berliner und eine "Erniedrigung der Bürger im Osten Deutschlands", hielt der SPD-Spitzenmann Wolfgang Thierse gegen. Viele andere Argumente wurden bemüht: Die hohen Kosten eines Umzugs von Parlament und Regierung, die Ersetzung des Föderalismus durch einen Zentralstaat, die ungewisse Zukunft Bonns ohne wichtige Hauptstadtfunktionen, die drohende Re-Nationalisierung Deutschlands usw. Versöhnliche und harte Worte wechselten einander ab. Mancher hatte sogar die Kraft, die Parlamentskollegen zum Lachen zu bringen, aber es gab kein Häme oder kleinliche Pöbeleien. Alle spürten, dass hier etwas Besonderes geschah.
Die Abstimmung selbst, das Auszählen der Stimmen war nichts für schwache Nerven. "Die Spannung ist riesengroß", sagte die Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth und gab das Ergebnis bekannt. Mit 338 Ja- zu 320 Nein-Stimmen wurde der Antrag zur "Vollendung der Einheit Deutschlands" angenommen. Ein Votum gegen den Meinungstrend in Deutschland, jedenfalls im Westen der Republik. Noch 1993 sprachen sich in einer repräsentativen Umfrage 57 Prozent der wahlberechtigten Bürger gegen den Wechsel der Verfassungsorgane von Bonn nach Berlin aus. Ausschlaggebend für die knappe Mehrheit im Bundestag war, dass politische Schwergewichte wie Willy Brandt und Helmut Kohl, Dietrich Genscher, Wolfgang Schäuble und Hans-Jochen Vogel, aber auch die Vertreter der DDR-Bürgerbewegung wie Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß energisch für Berlin plädierten."Für Bonn spricht viel", hatte Weiß gesagt. "Aber für Berlin spricht alles".
Und auch das gehört zur Wahrheit: PDS und Bündnis 90/Die Grünen stimmten fast komplett, die FDP mit großer Mehrheit für Berlin. Sozialdemokraten und Union waren mehrheitlich für Bonn. Diese schwierige Gemengelage in beiden großen Volksparteien sollte sich in den Folgejahren folgenschwer bemerkbar machen, als es darum ging, den gefassten Beschluss mit Leben zu erfüllen. Ein Beschluss für Berlin als Sitz von Bundestag und Bundesregierung, der den Kompromiss bereits in sich trug. Denn Bonn sollte als künftige Bundesstadt in "fairer und dauerhafter Arbeitsteilung" mit der Bundeshauptstadt Berlin vieles behalten dürfen. Ohne dieses Zugeständnis an eine Stadt und Region, die sich nach 41 Jahren im Dienste der alten Bundesrepublik Deutschland nicht so einfach abhängen lassen wollte, wäre das Bundestagsvotum zugunsten Berlins niemals zustande gekommen.
Es war im Grunde auch vernünftig und nur gerecht, der Stadt Bonn mit bundesstaatlicher Hilfe eine neue Perspektive zu geben und einen sanften Übergang von der politischen Kleinmetropole zu einem wichtigen Standort der Entwicklungshilfe und internationaler Institutionen zu ermöglichen. Aber es war damals schon rational nicht nachvollziehbar, warum sechs Bundesministerien zeitlich unbefristet ihren Dienstsitz in Bonn behielten und außerdem das Bundeskartellamt vom Spree an den Rhein umzog. Die "kleine Rache" derer, die am 20. Juni 1991 unterlegen waren, manifestierte sich drei Jahre später im Berlin-Bonn-Gesetz, das die sonderbare Rollenverteilung zwischen beiden Städten bis heute zementierte.
Nein, es soll an dieser Stelle nicht nachgetreten werden. Nicht nur Bonn geht es heute erfreulich gut, auch Berlin hat sich von der zunächst ungeliebten Hauptstadt zur Attraktion der deutschen Republik gemausert. Welcher Unsinn wurde nach der Grundsatzentscheidung vor 20 Jahren über die werdende Metropole verbreitet! Berlin sei miefige Provinz, ein teurer Kostgänger und lasse in neuem Größenwahn die Arroganz des Preußentums wieder aufleben. Das Wort von der "Berliner Republik", zuerst geprägt vom renommierten Publizisten Johannes Gross, wurde zum Schimpfwort. Und die neugeborene Hauptstadt der Fußabtreter der Nation. Keine Metropole hat es leicht. Wie sagte einst Seneca über Rom: "Alle Klassen von Menschen strömen in der Hauptstadt zusammen, welche für Laster wie für die Tugenden hohe Preise aussetzt." Doch es hat eine Weile gedauert, bis auch die Tugenden Berlins bei der Mehrheit der Bundesbürger Beachtung fanden. Als die Meinungsforscher im Jahr 2000 erneut nachfragten, begrüßten immerhin 57% den Hauptstadtumzug, in den ostdeutschen Ländern sogar 71%. Zwischen Bodensee und Kieler Förde, Cottbus und Aachen dürfte 2011 eine neue Befragung, ob Berlin tatsächlich die richtige Hauptstadt sei, wohl nur noch Befremden auslösen.
Der Stimmungsumschwung setzte, wenn auch zögerlich, 1999 ein, als der Deutsche Bundestag aus Bonn wegzog. Nach dem Bundespräsidenten. Seitdem schlug das Herz der parlamentarischen Demokratie in Berlin, der politische Diskurs verlagerte sich in die geheimnisvollen Regionen östlich der Elbe. Die Reichstagskuppel Normann Fosters wurde von den Bundesbürgern erobert, die fasziniert in gewaltige Baugruben schauten, die sich quer durch die Millionenstadt zogen. Dann nahmen die Bundesministerien ihre Arbeit auf. Das Parlaments- und Regierungsviertel im Spreebogen ist immer noch nicht ganz fertig, aber ein schöner, öffentlicher Raum für alle Bürger. Berlin wurde zur Hauptstadt, der man beim Wachsen zugucken konnte. Produktiv unruhig, unverkrampft, eine manchmal chaotische Werkstatt der Einheit, und nach Mittel- und Osteuropa wurden Brücken gebaut. Aber das Schönste ist: Die Republik ist so föderal wie nie zuvor.
Was wir heute vorfinden, ist das Ergebnis einer gewaltigen Kraftanstrengung, das darf der beschwingte Blick auf die Hauptstadt nicht übersehen. Zweistellige Milliardensummen hat der Umzug verschlungen, Berlin erhält eine - zunächst magere, inzwischen respektable - Hauptstadtfinanzierung durch den Bund, von der nicht zuletzt das kulturelle Erbe Preußens profitiert. Noch immer fehlt es an Finanz- und Wirtschaftskraft, aber die Experten sehen Silberstreifen am Horizont. Botschaften, tausende Verbände und Stiftungen haben sich in Berlin eingefunden, öffentliche und private Medien belagern die Stadt, demnächst zieht der Bundesnachrichtendienst auf das Gelände des früheren Stadions der Weltjugend in Berlin-Mitte. Der Hauptstadtbeschluss hat mit seiner Verwirklichung eine gewaltige Sogkraft entfacht, die 1991 selbst große Optimisten so nicht erwarten konnten.
Wagen wir eine Prognose: Auch wenn sich das große Nordrhein-Westfalen immer noch schützend vor seine Bundesstadt stellt, wird das Berlin-Bonn-Gesetz über die nächste Wahlperiode hinaus (2013 bis 2018) in einem wesentlichen Punkt keinen Bestand haben. Die verbliebenen sechs Bundesministerien werden in den nächsten Jahren nach Berlin umziehen, wo sie hingehören. Die merkwürdige Vorgabe, dass die Mehrheit der ministeriellen Arbeitsplätze in Bonn verbleiben sollen, wird jetzt schon nicht mehr eingehalten. Der Rutschbahneffekt wirkt. Für die Hauptstadt ist das der letzte Schritt zur Normalität. Das prosperierende Bonn wird es souverän verkraften.