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"Wort halten": faire Arbeitsteilung zwischen Bonn und Berlin Meinungsbeitrag von Bernd Leyendecker

Bernd Leyendecker

/ 11 Minuten zu lesen

In den vergangenen 20 Jahren hat sich Bonn auf den Bund verlassen können, meint Bernd Leyendecker. Dennoch: Laut Teilungsbericht für 2010 sind mittlerweile 54,3 Prozent der Beamten und Angestellten in Berlin - das sei ein klarer Verstoß gegen das Berlin/Bonn-Gesetz.

Bernd Leyendecker (© Bernd Leyendecker)

Schon interessant. Denn eine ostdeutsche Zeitung war es, die wenige Tage vor dem denkwürdigen 20. Juni 1991 schrieb: "Bonn steht für ein modernes, europäisches Deutschland. Um die Millionen-Metropole Berlin muss man auch ohne Regierung und Parlament nicht bange sein", hieß es in der Thüringer Allgemeinen. Die Bonner, von Natur aus optimistisch ("Et hätt noch immer joot jejange"), wussten es längst. Zumal sie sich auf zahlreiche Umfragen stützen konnten, die in den Monaten zuvor durchgeführt wurden und die stets zu dem Ergebnis kamen: Bonn soll Sitz von Parlament und Regierung bleiben.

Und dann kam der 20. Juni 1991. Um 10 Uhr rief Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth den Tagesordnungspunkt 15 auf – den einzigen an jenem Tag –: "Beratung der Anträge zum Parlaments- und Regierungssitz". Fünf Anträge standen zur Abstimmung:

  • Konsens-Antrag, begründet vom Vizechef der Unionsfraktion, Heiner Geißler: Er sah vor, die Regierung in Bonn zu lassen und mit dem Parlament nach Berlin umzuziehen.

  • Gegenantrag: Parlament und Regierung auf keinen Fall trennen. Er wurde von einer Gruppe um die SPD-Abgeordneten Otto Schily und Peter Conradi eingebracht

  • Pro-Bonn-Antrag (er trug die meisten Unterschriften): Parlament und Bundesregierung sollen in Bonn bleiben.

  • Pro-Berlin-Antrag mit dem pathetischen Titel: "Vollendung der deutschen Einheit". Ihn hatte die Politik-Prominenz unterzeichnet - von Willy Brandt (SPD) bis Wolfgang Schäuble (CDU).

  • Antrag "Sofort-Umzug von Parlament und Regierung" der PDS: Er wurde am Ende der Aussprache zurückgezogen.

Nach der Sitzung ist oft von einer "Sternstunde des Parlaments" gesprochen und geschrieben worden. Mag zutreffen. Denn während man in "normalen" Parlamentssitzungen oft von vornherein weiß, wer für oder gegen etwas plädiert, wandelte sich an jenem 20. Juni von Rede zu Rede das Meinungsklima. Einmal schien sich eine Mehrheit für den "Bonn-Antrag" abzuzeichnen, ein andermal wähnten sich die Berliner vorne. 107 Volksvertreter waren ans Rednerpult getreten; quer durch die Fraktionen gingen die Statements der Pro-Berlin/Pro-Bonn-Kämpfer.

Eine mit großem Pathos vorgetragene Rede – die von Wolfgang Schäuble – blieb letztlich im Gedächtnis, zumal sie wohl zum Stimmungswandel pro Berlin beitrug. Schäubles Kernaussage: "Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin. Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands. Das ist die entscheidende Frage... Es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will. Deswegen bitte ich Sie herzlich: Stimmen Sie für Berlin."

Um 21.47 Uhr gab die Bundestagspräsidentin das Ergebnis bekannt: 337 Stimmen [Amtliches Endergebnis: 338 Stimmen; Anm. d. Red.] für den Berlin-Antrag, 320 für den Bonn-Antrag. Tags zuvor hatten die Pro-Berlin-Protagonisten noch bis tief in die Nacht hinein an ihrem Antrag gefeilt, wobei sie vor allem die unentschlossenen Kolleginnen und Kollegen im Auge hatten; ihnen wollten sie einen "Abschied von Bonn" erleichtern, indem sie der Noch-Bundeshauptstadt einige Trostpflästerchen andienten, ohne an ihrer Forderung "Parlament und Regierung nach Berlin" zu rütteln. Trostpflästerchen? Letztlich war es mehr, viel mehr. Es war quasi die Basis für den weitgehend gelungenen Strukturwandel der ehemaligen Bundeshauptstadt, der zwar das "Haupt" genommen (sie darf sich seitdem Bundesstadt nennen), die ihrer Tatkraft und Kreativität aber nicht beraubt wurde.

Denn die Zugeständnisse an Bonn, also jener Stadt, deren Namen "als Überschrift über einem großen Kapitel deutscher Geschichte bestehen bleiben wird" (Richard von Weizsäcker), waren die Grundlagen für das drei Jahre später verabschiedete Berlin/Bonn-Gesetz. So heißt es unter Punkt 4.: "Zwischen Berlin und Bonn soll eine faire Arbeitsteilung vereinbart werden, so dass Bonn auch nach dem Umzug des Parlaments nach Berlin Verwaltungszentrum der Bundesrepublik Deutschland bleibt, indem insbesondere die Bereiche in den Ministerien und die Teile der Regierung, die primär verwaltenden Charakter haben, ihren Sitz in Bonn behalten; dadurch bleibt der größte Teil der Arbeitsplätze erhalten. Darüber hinaus werden für die Region Bonn ... Vorschläge erarbeitet, die als Ausgleich für den Verlust des Parlamentssitzes und Regierungsfunktionen die Übernahme und Ansiedlung neuer Funktionen und Institutionen von nationaler und internationaler Bedeutung im politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich zum Ziel haben." Und Punkt 5 enthält die Zusage, dass "der Hauptstadtvertrag zwischen der Bundesregierung und der Stadt Bonn zu einem Bonn-Vertrag fortentwickelt werden soll zum Ausgleich der finanziellen Sonderbelastung Bonns und der Region durch die Funktionsänderungen." Diese Sätze haben in Bonn nach wie vor einen Stellenwert, als wären sie in Stein gemeißelt. "Wort halten" heißt es denn auch bis heute, wenn mal wieder einige Hinterbänkler im Reichstagsgebäude die Forderung "Alles-nach-Berlin!" erheben. Ihnen sei die stetige Lektüre des Berlin-Antrages empfohlen.

Zurück zum 20. Juni 1991. "Die umgekehrte Mehrheit – 337 für Bonn, 320 für Berlin – wäre besser für alle Deutschen, vor allem die Landsleute in den neuen Bundesländern und die Berliner selbst gewesen", schrieb der damalige Chefredakteur des Bonner General-Anzeigers, Helmut Herles, tags darauf in seinem Kommentar. Er hat(te) Recht: Braucht ein föderaler Staat wie die Bundesrepublik Deutschland überhaupt eine Mega-Hauptstadt? In Artikel 2 (1) des Einigungsvertrages war Berlin als "Hauptstadt Deutschlands" ohnehin bereits unumstößlich festgeschrieben worden. Natürlich mit dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue, mit allen repräsentativen Aufgaben, die dieser Staat wahrzunehmen hat. Aber müssen auch Parlament und Regierung dort ihrer Arbeit nachgehen? Gefestigte und traditionelle Demokratien wie die Niederlande, die Schweiz oder Australien zeigen, dass die Aufteilung von Hauptstadt und Parlaments- und Regierungssitz gut funktioniert und nicht in Frage gestellt wird.

Auch Deutschland hätte politisch ausgezeichnet mit zwei Schwerpunkten – der Ellipse Berlin/Bonn – leben können: das wäre die Vollendung der Einheit gewesen. Zumal sich das Pro-Berlin-Argument, wonach die Volksvertreter von Berlin aus "näher dran wären an den Problemen im Osten", als ebenso falsch erwiesen hat wie die Vermutung, die wirtschaftliche und politische Entwicklung Berlins und der neuen Bundesländer würde von der Präsenz des Parlaments und der Regierung an der Spree erheblichen Nutzen haben. Das zeigt sich auch jetzt, 20 Jahre danach. So ist denn auch Bundestagspräsident Norbert Lammert beizupflichten, der vor zwei Jahren in einem Interview des Bonner General-Anzeigers sagte: "Ich bin im zehnten Jahr nach dem Umzug verblüfft, wie marginal die Änderungen sind; das parlamentarische Leben in Berlin spielt sich gewissermaßen nach Bonner Muster ab." Und geht man nochmals an den Beginn der neunziger Jahre zurück, findet man eine zutreffende Aussage des leidenschaftlichen Berlin-Befürworters und Bonner Ehrenbürgers Richard von Weizsäcker: ein Beschluss gegen Bonn träfe die Menschen in der Region am Rhein tiefer als der Verzicht auf ein Super-Berlin die Landsleute an der Spree.

Übrigens hat sich ein weiteres Argument der "Berlin-Fraktion" als Trugschluss erwiesen – damals wie heute. "Die Komplett-Präsenz der Regierung an der Spree ist preiswerter als die Aufteilung auf die beiden Städte", hieß und heißt es. Die neuesten Zahl der Bundesregierung belegen eindeutig, dass es sich hierbei um einen Trugschluss handelt: Der 1999 vollzogene Umzug hat mit all seinen Facetten rund zehn Milliarden Euro gekostet. Nach vorsichtigen Schätzungen müsste der aufs Sparen fixierte Finanzminister Wolfgang Schäuble, der am 20. Juni 1991 sagte, "es geht nicht um Umzugs- oder Reisekosten", für die Verlagerung der Bonn-Ministerien an die Spree etwa fünf Milliarden Euro einplanen. Die Ausgaben aufgrund der Aufgabenteilung der Regierungsfunktionen belaufen sich laut Regierung für 2011 voraussichtlich auf 9,16 Millionen Euro – 1,44 Millionen Euro weniger als im Vorjahr. Mit den 9,16 Millionen könnte die Bundesregierung nicht einmal ansatzweise die Zinsen zahlen, die ein kreditfinanzierter Totalumzug verursachen würde, wie sich sehr schnell ermitteln lässt.

Nun: Trotz aller tiefer Enttäuschung wären die Bonner die letzten, die Beschlüsse des Deutschen Bundestages nicht respektierten. Zwar gab es eine Zeitlang Stimmen, die eine Revision forderten, doch die verstummten relativ bald. "Das ist der Todesstoß für Bonn". Oder: "In Bonn gehen die Lichter aus": So lauteten einige der (eher hämischen) Überschriften in den überregionalen Gazetten nach dem 20. Juni 1991. Die Autoren irrten. Die Rheinländer, per se mit dem lebensbejahenden Gen "Ett hätt och schlimmer kumme könne" ("Es hätte auch schlimmer kommen können") ausgestattet, krempelten die Ärmel hoch und entwickelten innerhalb von wenigen Tagen ein "Bonner Zukunftsmodell".

Danach solle der Schwerpunkt des Strukturwandels – dieses Wort wurde in den kommenden Jahren geradezu zum Mantra der Neuausrichtung der einstigen Bundeshauptstadt – auf den Gebieten Wissenschaft/Bildung/Kultur, Gesundheit, Umwelt und Internationales liegen. Dass die Stadtoberen mit diesen Akzenten genau richtig lagen, lässt sich am ehesten am Berlin/Bonn-Gesetz ablesen, das knapp drei Jahre nach dem 1991er-Beschluss, am 26. April 1994, verabschiedet wurde. Darin heißt es in Paragraph 1: "Zweck des Gesetzes ist es, ... die Wahrnehmung von Regierungstätigkeiten in der Bundeshauptstadt Berlin und in der Bundesstadt Bonn zu sichern und einen Ausgleich für die Region Bonn zu gewährleisten." Und weiter: "Sicherstellung einer dauerhaften und fairen Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn. Erhalt und Förderung politischer Funktionen in der Bundesstadt Bonn in folgenden Politikbereichen:

  • Bildung und Wissenschaft, Kultur, Forschung und Technologie, Telekommunikation

  • Umwelt und Gesundheit

  • Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

  • Entwicklungspolitik, nationale, internationale und supranationale Einrichtungen

  • Verteidigung".

Unter den Absätzen 5 und 6 ist zu lesen: "Unterstützung der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn bei der ihnen vom Bund zur Wahrnehmung der gesamtstaatlichen Repräsentationen vereinbarungsgemäß übertragenen besonderen Aufgaben. Angemessener Ausgleich für die Region Bonn für die Verlagerung der Verfassungsorgane Deutscher Bundestag und Bundesregierung nach Berlin."

Damit wurden fast wortgleich jene Zusagen in das Gesetz übernommen, die der Bundestag am 20. Juni 1991 mit 18 Stimmen Mehrheit beschlossen hat. Und Parlament und Regierung haben (bisher weitgehend) Wort gehalten:

  • Die "faire Arbeitsteilung" findet im Grundsatz statt. Auch wenn immer wieder von "Pro-Berlinern" versucht wird, diese in Frage zu stellen oder gar außer Kraft setzen zu wollen.

  • Der "Erhalt" und die "Förderung" der genannten Politikbereiche wird im Großen und Ganzen eingehalten – was sich auch in der Umsetzung von Paragraph 4 (1.) des Gesetzes ("Bundesministerien befinden sich in der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn") manifestiert: die Ministerien für Verteidigung, Bildung/Forschung, Verbraucherschutz/Landwirtschaft, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Gesundheit und Umweltschutz haben nach wie vor ihre ersten Dienstsitze am Rhein; die übrigen Ressorts sind hier mit zweiten Dienstsitzen vertreten.

  • Die in Paragraph 6 (1) des Gesetzes gegebene Zusage, wonach die Folgen des 1991er-Beschlusses für die Region Bonn auch "durch die Übernahme und Ansiedlung neuer Funktionen und Institutionen ... ausgeglichen" werden, wurde umgesetzt: 22 Bundesbehörden aus Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet – vom Bundesrechnungshof über das Bundeskartellamt bis zum Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) – verlegten bis Anfang des neuen Jahrtausends ihre Sitze nach Bonn. Was sich der Bund auch einiges hat kosten lassen. So investierte er in den vergangenen 20 Jahren rund eine Milliarde Euro in seine Bonner Immobilien, darunter Neubauten für das Gesundheitsministerium und das BfArM sowie den Um- und Ausbau des ehemaligen Bundeshauses samt angrenzendem Langen Eugen zum stetig wachsenden UN-Campus.

Dass in Bonn nach dem 20. Juni 1991 die Lichter weiterhin strahlten, verdankt die Region nicht nur den ihr im Gesetz gegebenen Zusagen, sondern auch einem Vertrag, den am 29. Juni desselben Jahres das komplette Bundeskabinett, die Spitzen der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie der Stadt Bonn und des angrenzenden Rhein-Sieg-Kreises unterschrieben haben. In diesem für die Region geradezu existenzsichernden Kontrakt sicherte der Bund seiner ehemaligen Hauptstadt und ihrer Nachbarkreise 2,8 Milliarden Mark (rund 1,45 Milliarden Euro) zu – in erster Linie für die Schaffung neuer Arbeitsplätze.

Parallel zu dem mit diesem Geld in Gang gesetzten Strukturwandel musste der Bund den "Umzug nach Berlin" auf den Weg bringen – "eine Jahrhundertaufgabe", wie Klaus Töpfer, seinerzeit Bundesbauminister und zugleich Beauftragter der Bundesregierung für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich, bemerkte. Dabei wurde die im Berlin-Antrag und im Berlin/Bonn-Gesetz gegebene Zusage, wonach "der größte Teil der Arbeitsplätze in Bonn erhalten bleibt", weitgehend eingehalten. Einige Zahlen: Rund 12.000 Arbeitsplätze mussten von Bonn nach Berlin verlagert werden; etwa 6.800 Arbeitsplätze aus Berlin und dem Rhein-Main-Gebiet kamen nach Bonn. Summa summarum ging es somit um knapp 19.000 Arbeitsplätze. Tatsächlich die Koffer packen mussten aber lediglich gut 10.000 Bundesbedienstete; die übrigen fanden durch ein geschicktes Personaltausch-Management in Bundesbehörden ihrer Heimatstädte Bonn oder Berlin einen neuen Job beim Bund. Unterm Strich waren nach dem Umzug, Ende 1999, rund 10.000 Beamte und Angestellte in den Ministerien am Rhein beschäftigt, an der Spree etwa 9.400.

Inzwischen hat sich das "Kräfteverhältnis" geändert: Laut aktuellem "Teilungsbericht 2010" der Bundesregierung waren im Vorjahr 9.878 Stellen in der Bundeshauptstadt angesiedelt (54,3 Prozent), 8.328 Stellen (45,7 Prozent) in der Bundesstadt. Damit wurde gegen das Berlin/Bonn-Gesetz verstoßen, wie denn auch die Bundestagsabgeordneten aus der Region Bonn unisono kritisierten. Gleichwohl fiel der Protest relativ moderat aus – was durchaus klug war und auch ist. Zwar gilt es natürlich, einem schleichenden Prozess in Richtung "Alles nach Berlin" entgegenzuwirken; da sind Vorsicht und Achtsamkeit geboten, ja zwingend notwendig. In erster Linie geht es aber um den Geist des Gesetzes: faire Arbeitsteilung zwischen Bundeshauptstadt und Bundesstadt; weiterer Ausbau der wichtigen Politikbereiche Bildung/Forschung, Umwelt/Gesundheit sowie Internationales mit Unterstützung der Regierung; sichere Arbeitsplätze des Bundes in Bonn. An der Frage, ob Bundesministerien am Rhein verbleiben müssen/sollen oder ob das "Modell Zypries" (die ehemalige Justizministerin hatte Teile ihres Hauses in Bonn zu einem Bundesjustizamt zusammengefasst) eine zukunftsweisende Lösung für Bonn sein könnte, scheiden sich derweil die Geister: Einerseits wird argumentiert, dass Organisationen wie die Vereinten Nationen, die inzwischen mit rund 800 Mitarbeitern am Rhein tätig sind und somit Bonn zur einzigen deutschen UN-Stadt gemacht haben, sich ebenso auf den Sitz von Ministerien in Bonn verlassen haben wie die mehr als 200 Institutionen aus den Bereichen Bildung und Entwicklungspolitik. Andererseits gibt es Stimmen, die im "Modell Zypries" eine sicherere Basis sehen für eine langfristige Präsenz des Bundes in Bonn.

In den vergangenen 20 Jahren konnte sich Bonn auf den Bund verlassen. So heißt es auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und FDP vom 26. Oktober 2009: "Wir bekennen uns zum Bonn-Berlin-Gesetz, insbesondere zu den kulturellen Verpflichtungen des Bundes." So will der Bund 39 Millionen Euro zum Betrieb des geplanten Festspielhauses Beethoven beisteuern. Rechtzeitig zum 250. Geburtstag von Bonns größtem Sohn (2020), Ludwig van Beethoven, wollen die drei Bonner Konzerne Post, Telekom und Postbank der Stadt ein derartiges architektonisches Schmuckstück schenken, das internationale Vergleiche nicht zu scheuen bräuchte. Doch Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch (SPD) hat, vorerst jedenfalls, dankend abgelehnt. Er will zunächst den größten Bauskandal in der Geschichte Bonns vom Tisch haben – das World Conference Center Bonn (WCCB), das auch mit finanzieller Unterstützung des Bundes gegenüber dem Plenarsaal gebaut wird. Doch seit fast zwei Jahren steht das Kongresszentrum lediglich als Torso am Rhein: Die Stadt ist auf kriminelle Investoren hereingefallen; es steht zu befürchten, dass sie einen dreistelligen Millionenbetrag zahlen muss, um dem Bau fertig stellen zu können. Wie ein Damoklesschwert hängt dieses Projekt über Bonn. Bonn lahmt. Ausgerechnet jetzt, da der Strukturwandel erfolgreich abgeschlossen zu sein schien. Ende gut, alles gut? Noch nicht ganz.

Indes: wer den 20. Juni 1991 ff. gemeistert hat, sollte auch den WCCB-Skandal – wenn auch mit argen Blessuren – aus dem Weg räumen können. Denn die Stadt kann es sich nicht leisten, in Lethargie zu verfallen. Zumal sie seit der Umzugsentscheidung eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen hat. Sie hat sich ein neues, eigenständiges Profil erarbeitet als Hauptsitz von Weltunternehmen in den Zukunftsbranchen Telekommunikation und Logistik (Post, Telekom), als Zentrum einer bedeutenden Wirtschaftsregion und als UN-Stadt. Die Einwohnerzahl der Stadt ist seit 1991 um rund fünf Prozent auf derzeit gut 318.000 gestiegen, sie hat sehr viel mehr Arbeitsplätze, eine moderne Wirtschaftsstruktur, eine der geringsten Arbeitslosenzahlen in NRW und nach wie vor eine weit überdurchschnittliche Kaufkraft. Als "Stadt der kurzen Wege" verbindet Bonn die Annehmlichkeiten einer mittleren Großstadt mit denen größerer Metropolen, beispielsweise im kulturellen Bereich, wobei der hohe Wohn- und Freizeitwert ein wesentlicher Standortvorteil ist. In zahlreichen Städterankings belegt Bonn stets einen der vorderen Plätze. So hat das Schweizer Forschungsinstitut prognos der Stadt Bonn "hohe Zukunftsperspektiven" attestiert.

Damit Bonn weiterhin in der Champions League spielt, ist die Stadt auch – um im Bild zu bleiben – auf den "Spieler Bund" als einen ihrer wichtigen und großen Arbeitgeber angewiesen. Denn die ehemalige Bundeshauptstadt steht auch weiterhin für ein "modernes, europäisches Deutschland".

Bernd Leyendecker, geb. 1947, war Redakteur bei der Kölnischen/Bonner Rundschau und beim Bonner Express. Im April 1980 wechselte er zum Bonner General-Anzeiger und ist seit April 2010 im Ruhestand.