Von Bonn nach Berlin
Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth verkündet das Ergebnis der Abstimmung über Deutschlands Hauptstadt: 337:320 Stimmen zugunsten Berlins. Blick in den Bundestag im Bonner Wasserwerk am 20. Juni 1991. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00046742, Foto: Arne Schambeck)
Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth verkündet das Ergebnis der Abstimmung über Deutschlands Hauptstadt: 337:320 Stimmen zugunsten Berlins. Blick in den Bundestag im Bonner Wasserwerk am 20. Juni 1991. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00046742, Foto: Arne Schambeck)
Es wirkt schon skurril, das ehemalige Regierungsviertel am Rheinufer südlich der Bonner Innenstadt. Es ist heute kaum vorstellbar, dass noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt die Machtzentrale eines der wirtschaftsstärksten Staaten der Erde hier ihren Sitz hatte. Selbst jene, die einst noch im Bonner Bundeshaus oder in diversen Ministerien saßen, scheinen den Gedanken geradezu absurd zu finden, Deutschland könnte heute noch von diesem beschaulichen Flecken aus regiert werden. 20 Jahre ist es dieser Tage her, dass der Bundestag im alten Bonner Wasserwerk den Beschluss fasste, den Sitz von Parlament und Regierung nach Berlin zu verlegen. Aus diesem Anlass entdecken auch die Medien die Bundesstadt am Rhein wieder, stellen diese jedoch eher als ein liebens-, aber bemitleidenswertes Kuriosum längst vergangener deutscher Geschichte dar. Die Abgeordneten, die seinerzeit für Bonn stimmten, werden nun erneut ins mediale Rampenlicht gezerrt, wo sie glaubhaft beteuern, sich damals geirrt zu haben und wie faszinierend die Metropole Berlin doch sei.
Blick auf das Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestages. Foto von 1999. (© Bundesregierung, B145 Bild-00101439, Foto: Bernd Kühler)
Blick auf das Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des Deutschen Bundestages. Foto von 1999. (© Bundesregierung, B145 Bild-00101439, Foto: Bernd Kühler)
Doch so selbstverständlich Berlin heute als Hauptstadt erscheint, so erklärungsbedürftig ist immer noch die Frage, weshalb in jener spektakulären Sitzung des Deutschen Bundestages am 20. Juni 1991 nur eine knappe Mehrheit von 18 Stimmen den Ausschlag für Berlin gab. Die Emotionalität der Debatte von einst scheint heute kaum noch nachvollziehbar. Möglicherweise besaß der Streit um den Regierungssitz jedoch eine tiefer liegende Bedeutung, war vielleicht sogar das entscheidende Vorspiel im Kampf um die Diskurshoheit in der Republik. Zudem muss der Debatte aus ostdeutscher Perspektive gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Auseinandersetzung um Bonn oder Berlin kann im Nachhinein als Vorbote eines Paradigmenwechsels von der Bonner zur Berliner Republik gedeutet werden. Dabei kommt der Hauptstadtfrage, den Städten selbst, ein symbolischer Bedeutungsgehalt zu, der auf Kontinuität der alten Bundesrepublik oder auf eine grundlegende Erneuerung der politischen Agenda einer Berliner Republik setzt.
Bonn und Berlin:
Symbolkraft zweier deutscher Hauptstädte bis 1989
Regierungsviertel in Bonn: vorn der Bundestag, im Hintergrund das Abgeordnetenhochhaus "Langer Eugen", 1987. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00160090, Foto: Arne Schambeck)
Regierungsviertel in Bonn: vorn der Bundestag, im Hintergrund das Abgeordnetenhochhaus "Langer Eugen", 1987. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00160090, Foto: Arne Schambeck)
Bonn war zu allererst ein Provisorium. Kaum einer der Politiker, die am Rhein arbeiteten oder regierten, gab der Stadt das Gefühl, mehr zu sein als eine Übergangs-, bestenfalls eine Notlösung. Trotz dieser Wahrnehmung besaß Bonn seit Gründung der Bundesrepublik auch einen spezifischen Symbolcharakter. Die Wahl Bonns als provisorische Hauptstadt sollte für eine historische Umkehr in der deutschen Geschichte stehen. Die Stadt signalisierte in Konrad Adenauers Kalkül nach innen, aber noch mehr über die Landesgrenzen hinaus, dass die Bundesrepublik ein bescheidener, föderaler Staat sei, der auf Machtinsignien und repräsentative Darstellung von Größe bewusst verzichte. Bonn war das Symbol zur Herstellung von Vertrauen in Deutschland innerhalb der westlichen Welt. Es kontrastierte damit mit Berlin, das in jenen Jahren vor allem im Ausland vielfach mit Preußentum, Militarismus, Nazismus und Zentralismus identifiziert wurde.
Blick auf das Berliner Reichstagsgebäude von der Westseite des Brandenburger Tores, um 1962. (© Ullsteinbild, Foto: Herbert Maschke)
Blick auf das Berliner Reichstagsgebäude von der Westseite des Brandenburger Tores, um 1962. (© Ullsteinbild, Foto: Herbert Maschke)
Andererseits wurde mit dem Bau der Mauer in Berlin die deutsche Teilung zementiert. Die Westdeutschen arrangierten sich allmählich mit Bonn. Das Provisorium erweiterte seine Qualitäten. Bonn stand nun auch für das Wirtschaftswunder, einen funktionierenden Sozialstaat und eine stabile Demokratie, die so viel Flexibilität aufwies, Protestbewegungen zu integrieren. Die alte Bundesrepublik galt alsbald als international geachtetes Erfolgsmodell. Berlin hingegen rückte allmählich aus dem Fokus der Westdeutschen. Besonders Helmut Kohl förderte die Stadt Bonn in den 1980er-Jahren nachhaltig und zog die Bundespräsenz als Zeichen der Entspannung an die SED-Führung immer mehr aus Berlin ab.
Transparent einer Kundgebung in Berlin, 9. Dezember 1989. (© Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr. DG 90/6408.1.)
Transparent einer Kundgebung in Berlin, 9. Dezember 1989. (© Deutsches Historisches Museum, Berlin, Inv.-Nr. DG 90/6408.1.)
Die DDR rückte in der Spätphase der Bonner Republik aus dem Blickfeld. Eine Vereinigung beider Staaten schien zu Ende der 1980er-Jahre nicht nur unmöglich, sondern auch nicht unbedingt gewollt.
Bonn versus Berlin:
Die Debatte um den Regierungssitz
Gleichwohl die Hauptstadtfrage schon im Verlauf der Verhandlungen um den Einigungsvertrag eine zentrale Rolle spielte, entschärften die Unterhändler die Problematik zunächst durch Vertagung: Bundeshauptstadt wurde zum 3. Oktober 1990 – wie von der DDR-Regierung gewünscht – Berlin, die Frage von Parlaments- und Regierungssitz blieb jedoch bis nach der Bundestagswahl 1990 offen.
Nach der knappen Entscheidung für Berlin, im Anschluss an eine zehnstündige Redeschlacht, wurde immer wieder die Frage danach gestellt, ob ein Muster erkennbar sei, nach welchem die Abgeordneten für eine bestimmte Stadt votierten. Die Tatsache, dass der Beschluss in einer namentlichen Abstimmung gefällt wurde, ließ ausreichend Raum zur Interpretation des Vorgangs. Udo Wengst stellte im Zuge einer Analyse des Abstimmungsverhaltens schon 1991 fest, "daß in dieser Abstimmung der Westen dem Osten und der Süden dem Norden unterlegen sind, daß die Katholiken gegen die Protestanten und die Jüngeren gegen die Älteren"
Blick in den provisorischen Plenarsaal des Bundestages im Bonner Wasserwerk, 1987. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00160074, Foto: Ulrich Weichert)
Blick in den provisorischen Plenarsaal des Bundestages im Bonner Wasserwerk, 1987. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00160074, Foto: Ulrich Weichert)
Der Bonner Diskurs nahm Bezug auf die Bewährtheit der westdeutschen Republik, Bonn galt dabei als Symbol und Vorbild einer erfolgreichen Demokratie. Im Zentrum des politischen Diskurses des Bonner Lagers stand jedoch das rational-sachliche Argument der Kosten, auf das unter anderem die Abgeordneten Ingrid Roitzsch (CDU), Ingrid Matthäus-Maier (SPD) und Gerhart Baum (FDP) in der Bundestagsdebatte abzielten. Ingrid Roitzsch brachte die Bonner Ratio auf den Punkt: Auch ihr Herz schlage für Berlin, doch "die Vernunft gebietet mir, mich heute für Bonn [...] auszusprechen."
Der westdeutsche Berliner Diskurs sah in den Debatten gänzlich andere Aspekte als relevant an. Die Befürworter des Umzugs nach Berlin argumentierten in dramatischem Duktus, es ginge bei dieser Abstimmung um Deutschlands Zukunft. Diese Aussage wurde jedoch kaum konkretisiert.
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble während der Hauptstadtdebatte des Bundestages, 20. Juni 1991. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00046743, Foto: Christian Stutterheim)
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble während der Hauptstadtdebatte des Bundestages, 20. Juni 1991. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00046743, Foto: Christian Stutterheim)
So betonte Wolfgang Schäuble in seiner Rede vor dem Bundestag, es ginge bei der Hauptstadtfrage nicht zuerst um die Wirtschaft oder um Arbeitsplätze, sondern eben "um die Zukunft Deutschlands". Ähnlich sah der Berliner FDP-Abgeordnete Wolfgang Lüder Deutschland vor einer Abstimmung, in der regionale Interessen hinter eine Entscheidung von historisch-nationaler Tragweite zurückzutreten hätten. Der CSU-Mann Oscar Schneider erwartete vom Plenum, über die Tagespolitik hinauszublicken. Bundespräsident Richard von Weizsäcker verfasste schon im Frühjahr 1991 ein "Memorandum zur Hauptstadt". Weizsäcker hob die Frage darin auf die internationale Ebene: Berlin fungiere als europäische "Drehscheibe", womit er implizierte, die Entscheidung der Parlamentarier besitze nicht einfach eine nationale Bedeutung, sondern erfordere Verantwortung im europäischen Kontext.
Außerhalb des Bundestages wurde von Berlin-Befürwortern eine zum Teil noch deutlichere Ansprache gewählt. So machte der "taz"-Journalist Klaus Hartung deutlich, dass ein Ja zu Berlin auch das Symbol eines Aufbruchs im Westen sei.
Die ostdeutsche Perspektive auf die Bundeshauptstadt Berlin war eine weitaus bescheidenere. In diesem Diskurs ging es zwar auch um einen grundlegenden Wandel der alten Bundesrepublik, aber nur insofern, als die Ostdeutschen ein gleichwertiges Zusammengehen beider Staaten erwarteten. Die Bonner Republik sollte lediglich aus gesamtdeutscher Perspektive in einigen Fragen neu justiert werden. In den Worten des Historikers Heinrich August Winkler ging es beim Regierungsumzug letztlich um die Frage, ob "aus dem Anschluss der DDR doch eine echte Vereinigung" werden würde.
Der mit knapper Mehrheit erreichte Hauptstadtumzug sollte schließlich der einzige echte Sieg der Ostdeutschen im Rahmen des Vereinigungsprozesses bleiben. Eine neue Verfassung erhielten die Deutschen nicht. Nach dem Umzugsbeschluss schienen ostdeutsche Befindlichkeiten zumindest in begrenztem Maße beruhigt. So bestritt der Berliner Schriftsteller Friedrich Dieckmann, dass Berlin einen Zentralisierungsschub auslöse, er erhoffe sich nun aber eine "Entprovinzialisierung des deutschen politischen Bewußtseins".
Abschied von Bonn, angekommen in Berlin –
entstand eine neue Republik?
Blick in den neuen Plenarsaal des Bundestages in Bonn, 1997. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00048975, Foto: Julia Fassbender)
Blick in den neuen Plenarsaal des Bundestages in Bonn, 1997. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00048975, Foto: Julia Fassbender)
Während die Bonner Fraktion also eine Position der Stabilisierung der alten Bundesrepublik vertrat und Bonn als symbolischen Ort dafür wahren wollte, zielten – nicht alle, aber doch einige – Kräfte, die sich für Berlin einsetzten auf eine Neujustierung der Republik. Joannah Caborn macht diesen Wandel an der Symbolik der beiden Städte diskurstheoretisch fest: Im Verlauf der 1990er-Jahre durchlebte das Berlin-Image eine positive Wendung, die nicht zuletzt das anfänglich skizzierte Abrücken zahlreicher einstiger Bonn-Befürworter in späteren Jahren erklären kann. Berlin wurde zum Symbol einer dynamischen, modernen Metropole. Es signalisierte Aufbruch, Fortschritt und Bewegung, während Bonn eher Behäbigkeit, wenn nicht gar Stillstand symbolisierte.
Eröffnung des Bundestages nach dem Umzug von Bonn nach Berlin, 19. April 1999. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00014195, Foto: Bernd Kühler)
Eröffnung des Bundestages nach dem Umzug von Bonn nach Berlin, 19. April 1999. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00014195, Foto: Bernd Kühler)
Gesellschaftlich ist Berlin mittlerweile die in der gesamten Republik akzeptierte Kapitale geworden. Noch im Dezember 1990 zeigte sich eine tiefe Spaltung zwischen Ost und West. Waren seinerzeit nur rund 31 Prozent der Westdeutschen für Berlin – jeder zweite wollte Bonn als Regierungssitz behalten – so forderten 65 Prozent der Ostdeutschen den Umzug nach Berlin, nur 16 Prozent votierten für den Verbleib in Bonn.
Drei Jahre, nachdem der Bundestag über die künftige Hauptstadt des vereinten Deutschlands entschieden hatte, stimmte er der Verhüllung des Reichstagsgebäudes zu. "Wrapped Reichstag" von Christo und Jeanne-Claude, Sommer 1995. (© laif, Foto: Wolfgang Volz. )
Drei Jahre, nachdem der Bundestag über die künftige Hauptstadt des vereinten Deutschlands entschieden hatte, stimmte er der Verhüllung des Reichstagsgebäudes zu. "Wrapped Reichstag" von Christo und Jeanne-Claude, Sommer 1995. (© laif, Foto: Wolfgang Volz. )
Aber ist es tatsächlich so, wie es Kurt Sontheimer anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Hauptstadtentscheidung verlauten ließ, nämlich, dass Berlin keine neue Republik geschaffen habe? Die Kontinuität der verfassungsmäßigen Grundlagen, so Sontheimer, verbürge auch die Kontinuität der Bundesrepublik. Das Label der Berliner Republik sei in einer Verwendung, die einen grundsätzlichen Wandel behauptet, irreführend.