Eine Umfrage unter den Abgeordneten sah Bonn noch vier Tage vorher klar vorne, doch dann kam alles anders: Am 20. Juni 1991 entschied sich der Bundestag für Berlin. Die Umzugsplanungen begannen. Und eine Debatte darüber, ob der Umzug den Stil des Regierens berühren werde – oder gar dessen Inhalte.
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 endete auch die Geschichte der "Bonner Republik", die sich seit 1949 durch eine bemerkenswerte innere Stabilität sowie durch wirtschaftliche Prosperität und außenpolitische Berechenbarkeit ausgezeichnet hatte. Dabei war nicht von Anfang an absehbar, wie groß der Einschnitt sein würde, der sich durch die "Wende" von 1989/90 ergab. Schon der Fortbestand der Verfassung und die Kontinuität der Westbindung ließen den Bruch als bedeutungsvoll, aber nicht als dramatisch erscheinen. Diesen Eindruck konnte man ebenfalls gewinnen, wenn man die Wirtschaftsordnung, das Parteiensystem und die politische Kultur der alten Bundesrepublik betrachtete. Alles, was die Bonner Republik so attraktiv gemacht hatte, war mit dem Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 auf das Gebiet der ehemaligen DDR übertragen worden, ohne selbst größere Veränderungen zu erfahren – so schien es jedenfalls. Erst im Rückblick wird deutlich, dass die Zäsur tiefer war als zunächst angenommen.
Die Bundestagsdebatte vom 20. Juni 1991
Ein erstes Zeichen für den Wandel war die Debatte über die Frage, wo Parlament und Regierung im wiedervereinigten Deutschland ihren Sitz haben sollten. Am 10. Mai 1949 hatte der Parlamentarische Rat Bonn zum "vorläufigen Sitz der Bundesorgane " bestimmt. Der erste Deutsche Bundestag hatte die Entscheidung am 3. November 1949 bestätigt, seinen Beschluss jedoch mit dem Zusatz versehen: "Die leitenden Bundesorgane verlegen ihren Sitz in die Hauptstadt Deutschlands, Berlin, sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind. Der Bundestag versammelt sich alsdann in Berlin."(1)
Dieses Bekenntnis zu Berlin war allerdings schon damals keineswegs selbstverständlich. Denn nicht nur die alliierten Siegermächte, sondern auch viele Deutsche hegten nach 1945 große Bedenken, ob das ehemalige Machtzentrum des "Dritten Reiches "als politischer Kristallisationspunkt eines neuen demokratischen Deutschlands geeignet sei.(2) Jetzt, vier Jahrzehnte später, hatte Bonn seinen Status als provisorischer "Bundessitz" längst verloren und wurde im In- und Ausland weithin mit der zweiten deutschen Republik identifiziert. Es fiel daher schwer, sich mit dem Gedanken zu befreunden, dass die Hauptstadtfunktion wieder uneingeschränkt auf Berlin übertragen werden würde.(3) Orte standen dabei für Inhalte: Bonn für Bescheidenheit und demokratische Verlässlichkeit, Berlin für Größenwahn und eine obrigkeitshörige Staatsauffassung.(4)
Es verwundert somit kaum, dass vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden Wiedervereinigung eine Diskussion um die Hauptstadtfrage begann. Als Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3. Juli 1990 anlässlich seiner Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch die Stadt, in der er von 1981 bis 1984 Regierender Bürgermeister gewesen war, erklärte, hier sei "der Platz für die politisch verantwortliche Führung Deutschlands", hielt ihm Horst Ehmke entgegen: "Was soll der Satz eigentlich bedeuten: einen Präsidialerlass, eine Beschwörung oder eine Tatsachen-Behauptung? Wann ist denn Deutschland von Berlin aus politisch verantwortlich regiert worden? Die Antwort muss leider lauten: selten oder nie."(5)
Die damit ausgelöste Debatte fand sogleich eine breite publizistische Resonanz. Nationale Symbolik und historische Befindlichkeiten mischten sich dabei mit provinzieller Eitelkeit und finanziellen Interessen. Allerdings war die Diskussion nicht zu vermeiden. In dem Maße, in dem die deutsch-deutschen Verhandlungen voranschritten und die Wiedervereinigung näher rückte, bedurfte auch die Hauptstadtfrage einer Klärung. In Nordrhein-Westfalen befürchtete man, eine Regelung könne bereits bei den Verhandlungen über den Einheitsvertrag im Sinne Berlins getroffen werden. Dann hätte sich der Abschied von Bonn nicht mehr vermeiden lassen. Der Chef der Staatskanzlei in Düsseldorf, Wolfgang Clement, erinnerte Kanzleramtsminister Rudolf Seiters deshalb am 30. Juni 1990 vorsorglich an die Zusicherung des Bundeskanzlers, dass die Frage des Sitzes von Regierung und Parlament erst "nach Herstellung der Einheit" von den zuständigen Verfassungsorganen entschieden werde. Nordrhein-Westfalen verlasse sich darauf, so Clement, "dass dieses klare Wort des Bundeskanzlers und der Bundesregierung gilt".(6)
Tatsächlich vertraten DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière und sein Parlamentarischer Staatssekretär Günther Krause bei den Verhandlungen mit Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble über den Einigungsvertrag die Auffassung, dass "Berlin als Hauptstadt des geeinten Deutschlands"(7) in den Vertrag aufgenommen werden sollte, um den Einigungsprozess nicht zu gefährden. Schäuble hielt sich jedoch an die von Clement angemahnte Linie und erklärte schon in der ersten Verhandlungsrunde am 6. Juli 1990, "dass die Entscheidung über die Hauptstadt des geeinten Deutschlands dem künftigen gesamtdeutschen Gesetzgeber vorbehalten bleiben müsse". Sie solle "nicht durch einen Vertrag der beiden Regierungen geregelt werden, der nur einheitlich angenommen oder abgelehnt werden könne".(8) Da de Maizière und Krause hartnäckig blieben, schlug Schäuble schließlich als Kompromiss vor, nur das in den Vertrag aufzunehmen, was ohnehin "unbestritten" sei: dass Berlin die "Hauptstadt" sei und bleibe; alles andere möge man später entscheiden.(9) In Artikel 2 des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 hieß es dementsprechend: "Hauptstadt Deutschlands ist Berlin. Die Frage des Sitzes von Parlament und Regierung wird nach der Herstellung der Einheit Deutschlands entschieden."(10)
Die eigentliche Entscheidung war damit vertagt. Und wiederum war es der Bundespräsident, der die Diskussion neu entfachte. In einem an die Partei- und Fraktionsvorsitzenden des Bundestages gerichteten Memorandum vom 24. Februar 1991 setzte er sich nochmals für Berlin ein. Zugleich ermahnte er die Parteien und die Regierung, ihre Pflicht zur politischen Führung auch in dieser Frage ernst zu nehmen, da er nicht gedenke, allein nach Berlin zu ziehen.(11) Bereits am 27. Februar beschloss daraufhin das Bundestagspräsidium, eine Entscheidung noch vor der Sommerpause herbeizuführen und die Angelegenheit in einem Gesetz zu regeln. Am 23. April trafen sich die Repräsentanten aller Verfassungsorgane sowie die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen und einigten sich auf den 20. Juni 1991 als Tag der Entscheidung. Der Bundesrat sollte einen Tag später, am 21. Juni, über die Frage seines künftigen Sitzes beraten.(12)
Nun legte sich auch Bundeskanzler Kohl fest. Vor der CDU/CSU-Bundestagsfraktion am 23. April im Berliner Reichstagsgebäude kündigte er an, für Berlin als Sitz von Parlament und Regierung stimmen zu wollen.(13) Auch Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel erklärten sich für Berlin. Dennoch sprach alles für Bonn. Vier Tage vor der Debatte erbrachte eine Umfrage unter allen 662 Bundestagsabgeordneten das eindeutige Ergebnis, dass nur 267 Abgeordnete für Berlin votieren wollten, aber 343 für die bestehende Hauptstadt; das war die absolute Mehrheit.(14) Bonn war somit siegesgewiss und ging als klarer Favorit ins Rennen.(15)
Doch als nach einer elfstündigen, "von Würde und hohem Ernst" geprägten Debatte (16) mit 107 gehaltenen und zahlreichen zu Protokoll gegebenen Reden die Stimmzettel ausgezählt wurden, hatten von den 660 Abgeordneten 337 [Amtliches Endergebnis: 338 Stimmen; Anm. d. Red.] für den Berlin-Antrag gestimmt, der mit "Vollendung der Einheit Deutschlands" überschrieben war, und nur 320 für den konkurrierenden Bonn-Antrag ("Bundesstaatslösung"). Zwei Abgeordnete hatten sich der Stimme enthalten; eine Stimme war ungültig.(17) Damit war die Entscheidung für Berlin gefallen: denkbar knapp, aber unmissverständlich. Dagegen beschloss der Bundesrat am 5. Juli 1991, seinen Sitz vorerst in Bonn zu belassen, diese Entscheidung aber später "im Lichte der noch zu gewinnenden Erfahrungen sowie der tatsächlichen Entwicklung der föderativen Struktur"(18) zu überprüfen.
Eine Erklärung für das überraschende Ergebnis der Abstimmung im Bundestag liegt wohl darin, dass vielen Abgeordneten erst während der Debatte das ganze Ausmaß der historischen Dimension ihrer Entscheidung bewusst geworden war. Wolfgang Schäuble hatte diesen Aspekt in seiner Rede besonders hervorgehoben: "Für mich ist es – bei allem Respekt – nicht ein Wettkampf zwischen zwei Städten, zwischen Bonn und Berlin.
Es geht auch nicht um Arbeitsplätze, Umzugs- oder Reisekosten, um Regionalpolitik oder Strukturpolitik. Das alles ist zwar wichtig, aber in Wahrheit geht es um die Zukunft Deutschlands, [...] unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will."(19) Ein weiterer Grund für die Tatsache, dass sich die Berlin-Befürworter durchsetzten, dürfte darin bestehen, dass sie ihren Erfolg nicht für möglich gehalten hatten und deshalb zu zahlreichen Modifizierungen ihres Antrages bereit gewesen waren, um schwankenden Abgeordneten die Zustimmung zu erlauben. Insbesondere das Versprechen einer "fairen Arbeitsteilung" zwischen Berlin und Bonn sowie die Zusage eines finanziellen Ausgleichs für die alte Hauptstadt und ihre Region nach den "Funktionsänderungen ", aber auch die Empfehlung, den Sitz des Bundesrates in Bonn zu belassen, dürften das Ergebnis maßgeblich zugunsten Berlins beeinflusst haben.(20)
Die Bonn-Befürworter hatten sich dagegen – in Erwartung eines sicheren Sieges – weniger kompromissbereit gezeigt und waren damit am Ende unterlegen.(21) Die Entscheidung ließ jedoch einen gespaltenen Bundestag zurück und blieb die Antwort auf viele Fragen schuldig. "Eine wunderbare Katastrophe", urteilte deshalb das Nachrichtenmagazin Der Spiegel: "Weinende Verlierer, weinende Sieger: Seit dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen [...] Willy Brandt hat keine Entscheidung des Parlaments so viele Emotionen geweckt, doch anders als 1972 und wie noch nie zuvor ging der Riss quer durch die Fraktionen."(22) In der Tat hatte die Gespaltenheit der Abstimmung deutlich gemacht, dass die Deutschen von der inneren Wiedervereinigung noch weit entfernt waren. "Noch nicht daheim im deutschen Haus" seien die Deutschen, meinte daher der Chefredakteur der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit, Theo Sommer. Der Hauptstadtstreit sei eigentlich ein "Stellvertreterkrieg", in dem sich die Orientierungsprobleme der Westdeutschen nach der Einheit ausdrückten: "Sie ahnen, dass die Bundesrepublik nicht nur größer geworden ist, sondern dass sich auch zwangsläufig die Gesellschaft verändern wird. Wie viel wird von dem alten Bonner Staat Bestand haben? Welchen Wandel wird das Zusammenleben im vereinten Staat den Westdeutschen abzwingen?"(23)
Im Ausland wurde dagegen vor allem die historische Dimension der Entscheidung gewürdigt. In Frankreich kommentierte Le Monde, die Wahl Berlins müsse nicht als "die leidenschaftliche Rückkehr eines deutschen Nationalismus" interpretiert werden. Die geopolitischen Erschütterungen des Jahres 1989 in Mittelund Osteuropa hätten den Deutschen vielmehr "das Bewusstsein ihrer Scharnier-Lage in Europa" zurückgegeben.(24) Der britische Guardian bemerkte, es sei "eine glückliche Lösung", dass Berlin jetzt in einem "ausgesprochen demokratischen Umfeld" wieder Hauptstadt geworden sei. Noch wichtiger sei aber, "dass die Deutschen es später einmal zumindest bedauert hätten, wenn dieser Schritt jetzt nicht gemacht worden wäre". Die Einheit, nach der sie fast ein halbes Jahrhundert gestrebt hätten, sei nun "so komplett, wie sie nur sein kann".(25)
Aus deutscher Sicht ging es indessen erst einmal darum, die Entscheidung in die Wirklichkeit zu übersetzen. Unklar war vor allem, was unter der versprochenen "fairen Arbeitsteilung" zu verstehen war und in welchen zeitlichen Dimensionen sich der Umzug vollziehen sollte. In dem vom Bundestag angenommenen Antrag hieß es dazu widersprüchlich, dass die Arbeitsfähigkeit von Parlament und Regierung in Berlin "in vier Jahren hergestellt " sein solle und dass man anstrebe, "in spätestens 10 bis 12 Jahren" die "volle Funktionsfähigkeit Berlins als Parlaments- und Regierungssitz" zu erreichen. Schon bei der Erarbeitung des ersten Umzugskonzepts – dem zahlreiche weitere folgen sollten – wurde aber deutlich, dass Verzögerungen nicht zu vermeiden waren. Immer wieder gab es Vorbehalte und Widerstände, nicht zuletzt aus Kostengründen.(26) Nahezu "zehn leidvolle und leidenschaftliche Jahre" seien dem Umzugsbeschluss gefolgt, bemerkte dazu 2001 rückblickend eine Berliner Tageszeitung.(27) Tatsächlich konnten Bundestag und Bundesregierung erst Ende der 1990er Jahre ihre Arbeit in Berlin aufnehmen.
Der Umzug von Parlament und Regierung
Wegweisend für die Planungen war die Entscheidung des Ältestenrats des Bundestages vom 30. Oktober 1991, das Reichstagsgebäude als künftigen Tagungsort des Parlaments zu nutzen. Erst danach wurden die weiteren Entscheidungen über den Umzug getroffen. Zur Frage, wer überhaupt übersiedeln sollte, billigte das Bundeskabinett am 3. Juni 1992 einen Vorschlag des Innenministeriums, wonach zehn der 19 Ministerien sowie das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung und das Kanzleramt nach Berlin verlagert werden sollten. Der Rest, mit zwei Dritteln der Beamten, würde in Bonn bleiben.
In zwei nahezu identischen Kooperationsverträgen zwischen dem Bund und den Ländern Berlin und Brandenburg vom 25. August 1992 wurden Einzelheiten zum Ausbau Berlins als Bundeshauptstadt und zur Erfüllung seiner Funktion als Sitz des Bundestages und der Bundesregierung geregelt.(28) Dazu zählten auch baurechtliche Änderungen, um die hauptstadtbedingte Leitplanung zu beschleunigen. Die ersten Bauarbeiten begannen am 7. Januar 1993: Das ehemalige Volksbildungsministerium der DDR in der Straße Unter den Linden, unweit vom Brandenburger Tor, wurde zu einem Bürogebäude für den Bundestag umgebaut. Anfang 1993 wurden auch der Wettbewerb für die Umgestaltung des Reichstages und der "Städtebauliche Ideenwettbewerb Spreebogen" entschieden. Für den Spreebogen setzten sich der Berliner Architekt Axel Schultes und seine Mitarbeiterin Charlotte Frank mit ihrem Entwurf "Band des Bundes" gegen 834 Konkurrenten aus 44 Ländern durch.
Für die Planung des Reichstages wurden gleich drei erste Preise vergeben. Am Ende kam der Entwurf von Sir Norman Foster zum Zuge. Allerdings musste er an seinem ursprünglichen Konzept, das eine das gesamte Reichstagsgebäude überragende Dachkonstruktion vorsah, wesentliche Veränderungen vornehmen. Insbesondere der Streit um die Kuppel bestimmte lange Zeit die Diskussion.(29)
Besondere Bedeutung erhielt in diesem Zusammenhang das Berlin-Bonn-Gesetz, das am 26. April 1994 verabschiedet wurde und die Unsicherheit über Umfang und Zeitpunkt des Umzuges beseitigte. Zuvor war von der Bundesregierung noch eine "Kostendeckelung " für den Umzug beschlossen worden. Nach einer Aufstellung des Bundesfinanzministeriums vom 14. Januar 1994 durften die Gesamtkosten 20 Milliarden DM nicht überschreiten. Davon sollten 16 Milliarden DM auf den eigentlichen Umzug entfallen; vier Milliarden DM waren als Ausgleichsmaßnahmen für die Region Bonn vorgesehen.(30) Klaus Töpfer, der am 18. November 1994 von Bundeskanzler Kohl zum Bundesbauminister und Beauftragten für den Berlin-Umzug und den Bonn-Ausgleich ernannt wurde, legte in rascher Folge Unterbringungskonzepte für die Ministerien in Berlin und Bonn vor, so dass die Planungen nun immer konkreter wurden. Seit 1995 glich die Mitte Berlins, wo künftig das politische Zentrum der Bundesrepublik seinen Sitz erhalten sollte, einer riesigen Baustelle.
Am 4. Februar 1997 erfolgte auch der erste Spatenstich für den Neubau des Kanzleramtes im Spreebogen gegenüber dem Reichstag. Als erstes Verfassungsorgan zog der Bundespräsident vollständig nach Berlin um. Richard von Weizsäcker hatte seinen Dienstsitz bereits am 11. Januar 1994 aus der Bonner Villa Hammerschmidt in das Berliner Schloss Bellevue verlegt. Das Bundespräsidialamt nahm am 23. November 1998 unter dem neuen Bundespräsidenten Roman Herzog, der inzwischen die Nachfolge von Weizsäckers angetreten hatte, in einem neuen Gebäude im Tiergarten in unmittelbarer Nähe des Schlosses Bellevue seine Arbeit auf.
Von den Bundesministern bezog Bauminister Franz Müntefering am 28. Juni 1999 als erster seinen provisorischen Sitz in der Krausenstraße. Der Hauptumzug des Bundestages nach Berlin begann am 5. Juli 1999, als die ersten Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung in ihre Berliner Büros übersiedelten. Bundeskanzler Gerhard Schröder residierte seit dem 23. August 1999 in einem Übergangsquartier am Schlossplatz 1, der historischen Mitte Berlins, wo das 1964 eingeweihte, ehemalige Staatsratsgebäude der DDR als provisorisches Kanzleramt diente.31 Der Bundestag, der sich bereits am 19. April 1999 zu seiner ersten Sitzung im umgebauten Reichstag versammelt hatte, folgte nach der Sommerpause am 6. September 1999. Inzwischen hatte auch der Bundesrat seine Entscheidung vom 5. Juli 1991 korrigiert und am 27. September 1996 beschlossen, nach Berlin umzuziehen. Ende September 2000 nahm die Ländervertretung im Gebäude des ehemaligen Preußischen Herrenhauses in der Leipziger Straße ihren Sitzungsbetrieb auf.
Regieren an der Spree: Kontinuität oder Neubeginn?
Die Frage, inwieweit der Umzug von Parlament und Regierung den Stil des Regierens oder gar dessen Inhalte tangieren werde, wurde schon früh thematisiert. So veröffentlichte der Journalist und Publizist Johannes Gross, selbst Rheinländer, 1995 ein Buch unter dem Titel Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, in dem er die Behauptung aufstellte, die Bundesrepublik sei "durch die Wiedervereinigung nicht nur größer, sondern dank auch der sie begleitenden Veränderungen der internationalen Politik von Grund auf anders geworden". Zwar sei die Berliner Republik mit der Bonner Republik staatsrechtlich identisch – jedoch: "gesellschaftlich, politisch, kulturell ist sie es nicht".(32)
Mit dem Umzug nach Berlin, meinte Gross, werde "die Binnenisolation der deutschen Politik", die zu den Charakteristika Bonns zählte, wo die Politik "wie eine Einquartierung" lebte, beendet: "Zu den Funktionen einer großen Hauptstadt hat immer die gehört, nicht nur Arena von Entscheidungen zu sein, sondern der erste Ort der öffentlichen Meinung eines Landes und die Börse, an der politische und gesellschaftliche Ideen gehandelt und bewertet werden und wo die Eliten eines Landes sich messen." Für die alte Bundesrepublik sei die Kommunikationsschwäche unter den Eliten kennzeichnend gewesen, weil es eine Vielzahl von Zentren, aber eben keine Hauptstadt im Vollsinn des Wortes gab. Berlin als Hauptstadt werde eine besondere Sogwirkung entfalten und "nicht nur Hauptquartier der Bundespolitik sein, sondern auch Lebensmittelpunkt der sie gestaltenden Personen" – und das werde sich auf die Atmosphäre des Regierens auswirken.(33)
Dieser Argumentation, die von einer Änderung der Politik wie von einem Wandel des Politikstils ausging, wurde im Folgenden häufig widersprochen, selten zugestimmt. Vor allem jene Politiker, die für Berlin als Hauptstadt votiert hatten, schienen im Nachhinein ein Interesse daran zu haben, die politischen Wirkungen ihres Votums herunterzuspielen. Insbesondere der Begriff "Berliner Republik" fand keine Gnade. Helmut Kohl nannte ihn einen "ausgemachten Unsinn", der Umzug sei kein Umzug in eine "andere Republik". Wolfgang Schäuble bekannte im Juni 1997 vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, er halte wenig von derartigen "Wortungetümen", eine Berliner Republik werde es ebenso wenig geben, wie es eine Bonner Republik gegeben habe. Und Bundespräsident Roman Herzog betonte, er halte von dem Begriff "überhaupt nichts", denn er sehe nicht, "dass die Berliner eine andere Republik sein sollte als die von Bonn".(34)
Auch die Politikwissenschaft tat sich lange schwer, die Zäsur anzuerkennen, die durch die Wegscheide von 1989 markiert worden war und die sich im Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin widerspiegelte.(35) Unbestritten waren von Anfang an die grundlegenden Veränderungen in der Außenpolitik. Weitgehend unstrittig sind inzwischen ebenfalls die Veränderungen im Parteiensystem. Auf die Zunahme sozialer und politischer Konflikte und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Mentalitäten als Ausdruck einer "heterogener" gewordenen Gesellschaft hat überzeugend der Historiker Gerhard A. Ritter hingewiesen.(36)
Nicht zuletzt bildete sich in den 1990er Jahren "ein neuer medialer Überbau" heraus, der sich – so der Medienwissenschaftler Lutz Hachmeister – "von den vergleichsweise idyllischen Bonner Verhältnissen" deutlich unterscheide.(37) "Phantome werden manchmal Realität", erklärte Hachmeister, "so wie das Geistige und Seelische ins Körperliche übergehen und die Welt durch das Gedachte verändert werden kann". Nicht anders verhalte es sich mit der Berliner Republik, die zuerst nur Bezeichnung für das größere Deutschland nach 1989 gewesen sei, dann soziologisches Konzept und sich nun als Lifestyle, "digitale Boheme" und mediale Aneignung entpuppe.(38)
Diese Veränderungen sind nicht allein mit der Wiedervereinigung zu erklären, sondern bedurften der Effekte des Umzugs, um wirksam werden zu können – den Gegebenheiten der Metropole, die es mit sich bringen, dass sich "publizistische und politische Milieus auffächern und neu verdichten"(39). Mit dem Wechsel von der Bonner zur Berliner Republik ging zudem ein Generationswechsel in der deutschen Publizistik einher, Journalisten übernahmen einen Teil der intellektuellen Deutungsmacht, die zuvor von den Politikern selbst oder von Professoren und Schriftstellern ausgeübt worden war.(40)
Die Frage bleibt, wie tiefgreifend der Einschnitt von 1990 wirklich war und ob überhaupt von einer "Berliner Republik" gesprochen werden sollte. Angesichts der Tatsache, dass weder von Kontinuität noch von einem Neubeginn die Rede sein kann, plädiert Lothar de Maizière für einen pragmatischen Umgang mit dem Begriff. Zwar sollte dieser nicht gegen die Bonner Republik verwendet werden, aber er sei hilfreich, um die Zäsur von 1990 zu verdeutlichen: "Für alle Ostdeutschen teilt sich doch das Leben in zwei Phasen, die vor der Wende und die nach der Wende. Wenn der Begriff Berliner Republik dazu beiträgt, dass auch den Westdeutschen klar wird, dass sich 1990 etwas verändert hat, begrüße ich das sehr."(41)
Ähnlich sieht es auch Hermann Rudolph, der 1998 im Berliner Tagesspiegel notierte, in Wahrheit gehe es darum, wie und in welchem Maße die Republik ihre Bonner Erfahrungen nach Berlin mitnehme. Vielleicht stütze nichts so sehr die Absicht, das vereinte Deutschland bewusst als Berliner Republik zu begreifen, wie die Aussicht, dass sie sonst doch nur die alte Bonner Republik bleiben werde – erweitert um ein paar Tausend Quadratkilometer, versetzt an einen neuen Standort. Berlin also als eine Art Bonn. Dann, so Rudolph, fehle nicht viel zu der Einsicht, dass man sich die ganze Mühe hätte sparen können.(42)
Anmerkungen
(1) Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenographische Protokolle, 3. November 1949, S. 341 B-347 A.
(2) Vgl. Reiner Pommerin: Von Berlin nach Bonn. Die Alliierten, die Deutschen und die Hauptstadtfrage nach 1945, Köln, Wien 1989, S. 214.
(3) Vgl. Erich Nickel: Der Streit um die deutsche Hauptstadt, in: Berlinische Monatsschrift, H. 7, 2001, S. 20.
(4) In den 1950er Jahren hatte der Schweizer Publizist Fritz René Allemann mit seinem Buch »Bonn ist nicht Weimar« (Köln und Berlin 1956) eine ähnliche Diskussion ausgelöst, als er die Bundesrepublik mit der Weimarer Republik verglich.
(5) Bundespräsident Richard von Weizsäcker: Verleihung der Ehrenbürgerwürde von Berlin an den Bundespräsidenten, in: Bulletin, 3. Juli 1990, Nr. 85, S. 736; Horst Ehmke: Nur keine Neuauflage preußisch-deutscher Mystik!, in: Alois Rummel (Hrsg.): Bonn. Sinnbild deutscher Demokratie. Zur Debatte um Hauptstadt und Regierungssitz, Bonn 1990, S. 110. Vgl. auch Peter Glotz: Der Irrtum des Präsidenten – Ein Offener Brief, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, August 1990, S. 749.
(6) Schreiben des Ministers Clement an Bundesminister Seiters, Düsseldorf, 30. Juni 1990, in: Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, S. 1284.
(7) Vgl. Wolfgang Schäuble: Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 131.
(8) Erste Verhandlungsrunde über den Vertrag zur Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), 6. Juli 1990, in: Deutsche Einheit (wie Anm. 6), S. 1326.
(9) Schäuble: Der Vertrag (wie Anm. 7), S. 87.
(10) Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands – Einigungsvertrag – vom 31. August 1990, in: Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, hrsg. von Ingo von Münch, Stuttgart 1991, S. 328.
(11) Wortlaut des Memorandums in: Die Welt, 11. März 1991, S. 5.
(12) Vgl. Andreas Salz: Bonn-Berlin. Die Debatte um Parlaments- und Regierungssitz im Deutschen Bundestag und die Folgen, Münster 2006, S. 50 f.
(13) Vgl. Dietmar Kansy: Zitterpartie. Der Umzug des Bundestages von Bonn nach Berlin, Hamburg 2003, S. 28.
(14) Vgl. Franz Möller: Der Beschluss. Bonn/Berlin-Entscheidungen von 1990 bis 1994, Bonn 2002, S. 65 f.
(15) Zu den Bemühungen, eine Kampfabstimmung zu vermeiden und einen Kompromiss zu finden, vgl. Volker Tschirch: Der Kampf um Bonn, hrsg. vom Oberkreisdirektor des Rhein-Sieg-Kreis, Bonn 1999, S. 68 ff.
(16) Vgl. Andreas Kießling: Hauptstadt Berlin, in: Werner Weidenfeld/Karl- Rudolf Korte (Hrsg.):, Handbuch zur deutschen Einheit 1949 –1989 –1999, Bonn 1999, S. 63.
(17) Vgl. Berlin-Bonn. Die Debatte. Alle Bundestagsreden vom 20. Juni 1991, Köln 1991, S. 375. Ein Konsensantrag, demzufolge der Bundestag nach Berlin umziehen, die Bundesregierung aber in Bonn bleiben sollte, war zuvor mit 147 gegen 489 Stimmen gescheitert; die Abgeordneten hatten sich also deutlich gegen eine Trennung von Parlaments- und Regierungssitz entschieden. Vgl. ebd., S. 352.
(18) Das Parlament, 12. Juli 1991.
(19) Berlin-Bonn (wie Anm. 17), S. 53 u. 55. Vgl. hierzu auch Ekkehard Kohrs: Die Stimmung kippte nach der Rede Schäubles, in: General-Anzeiger (Bonn), 21. Juni 1991, S. 3.
(20) Salz: Bonn-Berlin (wie Anm. 12), S. 69.
(21) Vgl. Tschirch: Kampf um Bonn (wie Anm. 15), S. 90.
(22) »Eine wunderbare Katastrophe«, in: Der Spiegel, 24. Juni 1991.
(23) Die Zeit, 21. Juni 1991.
(24) Le Monde, 22. Juni 1991.
(25) The Guardian, 22. Juni 1991.
(26) Vgl. Herbert Schwenk: Vom Rhein an die Spree. Der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin, in: Berlinische Monatsschrift, H. 7, 2001, S. 28.
(27) Berliner Morgenpost, 21. Juni 2001.
(28) Vgl. Christine Lutz: Berlin als Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Symbol für ein neues deutsches Selbstverständnis?, Berlin 2002, S. 58 ff.
(29) Vgl. hierzu ausführlich Michael S. Cullen: Der Reichstag. Parlament, Denkmal, Symbol, 2., vollst. überarb. u. erw. Aufl., Berlin 1999, S. 291–305.
(30) Vgl. Kießling: Hauptstadt Berlin (wie Anm. 16), S. 65.
(31) Der Neubau des Kanzleramtes im Spreebogen war erst im April 2001 bezugsfertig und ist seit dem 30. April 2001 offizieller Dienstsitz des Bundeskanzlers. Vgl. hierzu ausführlich Manfred Görtemaker (mit Michael Bienert und Marko Leps): Orte der Demokratie in Berlin. Ein historisch-politischer Wegweiser, Berlin 2004, S. 211 ff.
(32) Johannes Gross: Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 1995, S. 7 f.
(33) Ebd., S. 92 f.
(34) Zit. n.: Michael Sontheimer: Berlin, Berlin. Der Umzug in die Hauptstadt, Hamburg 1999, S. 222.
(35) Vg. Klaus von Beyme: Die »Berliner Republik«?, in: Gegenwartskunde, H. 1, 1999, S. 135–139; Eckhard Jesse: Von der »Bonner Republik« zur »Berliner Republik «? Mehr Kontinuität als Wandel, in: Karl Eckert/Eckhard Jesse (Hrsg.): Das wiedervereinigte Deutschland – eine erweiterte oder eine neue Bundesrepublik?, Berlin 1999, S. 21–33.
(36) Vgl. Gerhard A. Ritter, Continuity and Change. Political and Social Developments in Germany after 1945 and 1989/90, London 2000, S. 25. Vgl. auch umfassend Gerhard A. Ritter: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006.
(37) Lutz Hachmeister: Nervöse Zone. Politik und Journalismus in der Berliner Republik, München 2007, S. 24.
(38) Ebd., S. 15.
(39) Ebd., S. 24. Vgl. auch Beate Schneider: Massenmedien im Prozess der deutschen Vereinigung, in: Jürgen Wilke (Hrsg.): Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999, S. 602–629.
(40) Hachmeister: Nervöse Zone (wie Anm. 37), S. 77 f.
(41) Zit. n.: Sontheimer: Berlin (wie Anm. 34), S. 233.
(42) Hermann Rudolph: Der Argwohn um die Berliner Republik, in: Der Tagesspiegel, 6. September 1998, vgl. auch ders.: Das erste Jahrzehnt. Die Deutschen zwischen Euphorie und Enttäuschung. Mit einem Vorwort von Lothar de Maizière, Stuttgart, München 2000, S. 250.
aus: Manfred Görtemaker: Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung. Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, 2009.
geb. 1951, Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Publizistik in Münster und Berlin. 1975-80 Wissenschaftlicher Assistent und 1983-89 Hochschulassistent an der Freien Universität Berlin. 1980-81 John F. Kennedy Memorial Fellow an der Harvard University. 1982-83 Visiting Assistant Professor of Overseas Studies der Stanford University. 1989-90 Krupp Foundation Senior Associate am Institute for East-West Security Studies in New York. Seit 1992 o. Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. 1994-95 Prorektor und 2001-04 Vorsitzender des Senats der Universität Potsdam.
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