Sind Lobbyisten eine Gefahr für die Demokratie in Europa? Auf diese Frage könnte man einfach mit einem kräftigen Ja antworten. Doch damit würde man es sich zu leicht machen. Denn mit diesem Ja wird zugleich vorausgesetzt, dass die Demokratie in der Europäischen Union bereits vollständig verwirklicht sei und erst durch die Tätigkeit der Lobbyisten untergraben beziehungsweise in Gefahr gebracht werden würde.
Demokratie im Prozess
Zudem ist Demokratie kein für ein Mal erreichter Zustand, sondern muss in der Praxis immer wieder hergestellt werden. Daher möchte ich hier vorschlagen, Demokratie prozesshaft als Demokratisierung zu verstehen. Mit diesem Verständnis wird der Blick auf die konkrete Praxis - die Verfahren, Entscheidungen, Machtkonstellationen ‒ gelenkt und auf Defizite hingewiesen. Diese betreffen ganz besonders die Art und Weise, wie zurzeit Interessen innerhalb der EU vertreten werden. Es wurde zwar schon Einiges erreicht, den Lobbyismus in der EU demokratischer zu gestalten, es wird aber auch deutlich, was noch zu tun ist.
Denn Lobbyisten als Vertreter von Interessengruppen haben noch einen zu großen Einfluss auf politische Entscheidungen der Europäischen Union. Generell kann davon gesprochen werden, dass ökonomische Interessen sehr wirkungsvoll vertreten werden, weil die EU vor allem auf eine Vereinheitlichung der verschiedenen ökonomischen Bereiche der Mitgliedsländer abzielt - auf die Zirkulation von Arbeitskräften, Waren, Dienstleistungen und Kapital, Zölle oder den Datenschutz.
Lobbyismus - die Fünfte Gewalt? Interview mit Rudolf Speth
Die Entscheidungen des EU-Parlaments und der Kommission zur Ausgestaltung des Binnenmarktes wirken daher wie ein Magnet auf Interessengruppen aus ganz Europa und darüber hinaus. Dies lässt sich gut an der EU-Chemikalienverordnung REACH von 2007 zeigen. Bei REACH haben viele Chemieunternehmen darauf gedrungen, dass möglichst viele chemische Stoffe als unbedenklich eingestuft werden. Ähnlich die EU-Verordnung zu CO2-Emmissionen von 2009. Auch hier haben die deutschen Autohersteller über die Bundesregierung in ihrem Sinne auf die EU-Gesetzgebung eingewirkt.
Eine Stärkung der Verbände auf europäischer Ebene bringt mehr Transparenz
Ein Charakteristikum der Interessenvertretung auf EU-Ebene ist zweitens die starke Präsenz einzelner Unternehmen, Think Tanks ("Denkfabriken“) und Law Firms ("Anwaltskanzleien“). Spiegelbildlich dazu sind die Verbände in der politischen Arena eher schwach vertreten. Verbände sind aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte weitgehend nationalstaatlich orientierte Organisationen. Im deutschen politischen System haben sie zudem eine besondere Stellung inne.
Sie sind - je größer und umfassender, desto stärker - politische Organisationen, die den Ausgleich der Interessen zwischen ihren Mitgliedern organisieren und auf dieser Grundlage dann beispielsweise eine gemeinsame Branchenposition gegenüber den politischen Entscheidern vertreten. Eine Stärkung der Verbände auf europäischer Ebene könnte dafür sorgen, dass sie auch dort als "Regierungen im Kleinen“ mehr Transparenz und Ausgleich bringen.
Da die Verbände auf der europäischen Ebene schwach sind, vertreten die Unternehmen ihre Interessen selbst. Es sind vor allem transnational tätige Großunternehmen mit erheblichen finanziellen Ressourcen, die in Brüssel präsent sind. Dies hat mehrere demokratiegefährdende Folgen: die Interessenspositionen vermehren sich und die ressourcenstarken Akteure bekommen mehr Einfluss. Die Gefahr, dass sich Einzelinteressen durchsetzen, steigt. Der Abgleich der Vielzahl von Positionen mit den übergeordneten allgemeinen Belangen bleibt allein den Abgeordneten des Europäischen Parlaments überlassen.
Die Abgeordneten haben aber zu wenige Ressourcen und sind auf die Informationen der Interessengruppen und Lobbyisten angewiesen. Hinzu kommt, dass die Ressourcen und Verbindungen der Think Tanks häufig im Graubereich bleiben. Zudem gibt es mit dem Ministerrat (den jeweiligen Fachministern der Mitgliedsstaaten) und dem Europäischen Rat (den Staats- und Regierungschefs) weitere Einflussmöglichkeiten für Interessengruppen.Welche Möglichkeiten gibt es nun, die Demokratisierung bei der Interessenvertretung auf der Ebene der Europäischen Union voranzubringen?