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"Große Koalitionen sind besser als ihr Ruf"

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Trotz großer Mehrheit im Parlament unterscheide sich die Regierungspraxis in einer Großen Koalition kaum von der eines "normalgroßen" Bündnisses, sagt der Politikwissenschaftler Reimut Zohlnhöfer. Die Regierungen seien durchaus handlungsfähig, obwohl keine Partei ein solches Bündnis anstrebe.

SPD- und CDU-Parteifähnchen vor dem Reichstag in Berlin. (© picture-alliance/dpa)

Herr Zohlnhöfer, wenn Sie auf die bisherigen Großen Koalitionen auf Bundes- und Landesebene zurückblicken: Waren sie Notlösungen oder bewusst geschlossen?

Große Koalitionen sind in aller Regel keine Wunschbündnisse. In Deutschland ordnen sich die Parteien in zwei Blöcke ein: auf der bürgerlichen Seite Union und FDP, auf der Mitte-Links-Seite SPD und Grüne. Wenn einer dieser beiden Blöcke auf Bundes- oder auf Landesebene eine Mehrheit hat, dann bilden die jeweiligen Parteien in aller Regel eine Koalition. Davon gibt es nur ganz wenige Ausnahmen. Große Koalitionen kommen also normalerweise nur dann zustande, wenn andere Mehrheiten nicht möglich sind. Eine Ausnahme ist die erste Große Koalition auf Bundesebene: Nach der Bundestagswahl 1965 gab es eine Mehrheit für die Regierung des Kanzlers Ludwig Erhard (CDU) aus FDP und Union. Sie zerbrach allerdings kurz darauf, weil die Partner ihre Gemeinsamkeiten aufgebraucht hatten. Eine sozial-liberale Koalition aus SPD und FDP hätte ebenfalls eine Mehrheit gehabt, aber das trauten sich die Akteure noch nicht. Deshalb bildete sich dann eine Große Koalition. Diese ma rkierte einen Wendepunkt im Parteiensystem, die Lager waren aufgebrochen: Danach wagten sich die Akteure, auch sozial-liberale Koalitionen zu bilden. Lassen Sie uns auf die Erwartungen an eine Große Koalition schauen. Große Koalitionen verfügen über große Mehrheiten im Parlament. Auf Basis der bisherigen Erfahrungen: Haben Große Koalitionen dies zu umfassenden Reformen genutzt? Oder war es umgekehrt: Zwei große Parteien müssen inhaltlich Schnittmengen suchen, führte das zu vielen kleinen Kompromissen statt zu großen Würfen?

Große Koalitionen sind besser als ihr Ruf. Sie haben sich in vielen Fällen handlungsfähig gezeigt. Schauen Sie die Zweite Große Koalition von 2005 bis 2009 an: Es gab eine ganze Menge Bereiche, in denen sie weitreichende Reformen umgesetzt hat. Ein Beispiel ist die Familienpolitik mit der Einführung des Elterngeldes und des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung für Kinder ab einem Jahr. Oder die Steuerpolitik mit der Senkung des Körperschaftssteuersatzes - zuvor hat die deutsche Politik 20 Jahre lang beschäftigt, dass die Unternehmenssteuern weit über dem EU-Durchschnitt lagen. Ein weiteres Beispiel, ob man das nun mag oder nicht, ist die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Hinzu kommen die Föderalismusreformen. Oder denken Sie an die Reaktion auf die Finanzkrise, die alles in allem wahrscheinlich sehr erfolgreich war.

Also sind umfassende Reformen von einer neuen Großen Koalition zu erwarten?

Das muss man differenzieren. Große Koalitionen haben die Möglichkeit zu Verfassungsänderungen. Das Grundgesetz wurde tatsächlich besonders stark während der beiden bisherigen Großen Koalitionen auf Bundesebene verändert. Die Großen Koalitionen hatten schließlich die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag, und von den Ländern war im Bundesrat keine strategische Blockade zu erwarten, in jedem Land war einer der beiden Koalitionspartner an der Regierung beteiligt. Aber natürlich gibt es eine Reihe von grundsätzlichen Fragen, bei denen die beiden großen Parteien unterschiedliche Auffassungen vertreten - da werden sie es schwer haben, gemeinsame Antworten zu finden.

Was ist in Zeiten Großer Koalitionen mit Blick auf die Regierungspraxis anders als in Zeiten "normalgroßer" Koalitionen?

Die Regierungspraxis verändert sich nur in Nuancen. Die Bundeskanzlerin kann in einer Großen Koalition noch weniger als in normalen Koalitionen ihre Richtlinienkompetenz einsetzen. Aber die Richtlinienkompetenz ist ohnehin ein stumpfes Schwert, weil die Möglichkeit der Bundeskanzlerin, etwas im Konfliktfall zu entscheiden, immer auf die eigene Partei begrenzt ist - die Zustimmung des Koalitionspartners braucht sie ohnehin. Es wird viel darüber diskutiert, dass die Opposition in Zeiten Großer Koalitionen so klein ist, dass sie bestimmte Kontrollrechte nicht ausüben kann. Zur Anrufung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer abstrakten Normenkontrollklage braucht man beispielsweise 25 Prozent der Abgeordneten des Bundestags. Momentan könnte die Opposition dieses Quorum bei einer Großen Koalition nicht erfüllen. Das macht das Regieren für die Regierungskoalition aber nicht entscheidend einfacher. Eine große Mehrheit lässt es allerdings leichter erscheinen, bei Abstimmungen Abweichler in den eigenen Reihen zuzulassen. Man braucht also nicht so stark auf die Fraktionsdisziplin zu achten, weil die Regierung wegen einiger Abweichler nicht gleich ihre Mehrheit verliert. Allerdings gibt es in Deutschland ohnehin nur selten Abstimmungen, bei denen überhaupt Abgeordnete abweichend von ihrer Fraktion votieren. Ein bisschen wird die komfortable Mehrheit das Regieren zwar einfacher machen - aber die große Mehrheit kann auch dazu führen, dass mehr Abgeordnete abweichende Positionen prominenter vertreten, gerade bei europapolitischen Fragen. Das würde das Regieren erschweren.

Was bedeutet das für informelle Ebenen in der Regierungspraxis? Werden dadurch beispielsweise die Fraktionsvorsitzenden stärker oder gewinnt der Koalitionsausschuss an Bedeutung?

Die Koordination der Regierungsarbeit ist in einer Großen Koalition anspruchsvoller. Das liegt daran, dass man zwei große Fraktionen und zwei große Parteien auf eine Regierungslinie bringen muss. Weil insgesamt mehr Abgeordnete zum Regierungslager gehören, sind mehr Personen einzubinden, also davon zu überzeugen, dass die Kompromisse, die man machen muss, akzeptabel sind. Man darf nicht vergessen, dass die beiden großen Parteien traditionell einen Führungsanspruch in einer Regierungskoalition erheben. Das spielt eine große Rolle, weil eine ganze Reihe mächtiger Akteure in beiden Parteien faktisch nicht direkt der Regierung angehören werden, sonst müssten einige zusätzliche Ressorts eingerichtet werden. Deshalb ist auch für die kommende Große Koalition anzunehmen, dass nicht-institutionalisierte informelle Gremien, "Küchenkabinette" wie beispielsweise der Koalitionsausschuss, eine größere Rolle spielen. Eine so prominente Rolle, wie sie der Kressbronner Kreis, also der Koalitionsausschuss, in der ersten Großen Koalition auf Bundesebene gespielt hat, der zu einem erheblichen Teil die Arbeit der Regierung steuerte, erwarte ich aber nicht.

Spielen Akteure wie der Bundesrat oder das Bundesverfassungsgericht in Zeiten Großer Koalitionen andere Rollen als sonst?

Wenn man die vergangene Große Koalition von 2005 bis 2009 anschaut, dann hätte man erwartet, dass diese beiden Akteure keine große Rolle spielen. Das Bundesverfassungsgericht wurde aber zu einer ganzen Reihe von Fragen angerufen. Und erstaunlicherweise wurde sogar der Vermittlungsausschuss, der bei Streitfällen im Gesetzgebungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat vermittelt, relativ regelmäßig angerufen. Er blockierte zwar kein Gesetz komplett - aber die Länder vertraten auf diese Weise ihre Eigeninteressen.

Es gibt die These, Große Koalitionen führen nicht zu einer Integration, sondern zu einer Polarisierung - also einer Stärkung der Ränder des politischen Systems.

Wenn man auf die Bundesebene schaut, hat man eine gemischte Bilanz zu ziehen. Schauen Sie die erste Große Koalition von 1966 bis 1969 an: Bei der folgenden Bundestagswahl mussten die großen Parteien erstaunlicherweise keine Niederlagen einstecken. Aber die NPD kam nah an die Fünf-Prozent-Hürde heran, sie scheiterte daran nur knapp. Neben der Großen Koalition waren allerdings vermutlich die Ereignisse des besonderen Jahres 1968 eine Ursache für das Wahlergebnis. Für die zweite Große Koalition gilt die These nicht. Bei den Wahlen 2009 kamen keine Parteien der politischen Ränder auch nur in die Nähe des Einzugs in den Bundestag. Für Bundes- und Landesebene gilt: Wenn eine Große Koalition keine Dauereinrichtung wird, dann sind die Effekte auf die politischen Ränder und auf das Abschneiden der außerparlamentarischen Parteien grundsätzlich gering. Bisweilen wird behauptet, eine Große Koalition schade dem kleineren Partner, weil die Wähler Erfolge in der Regierungsarbeit eher dem großen Partner zuschreiben würden. Eine solche Gesetzmäßigkeit lässt sich nicht grundsätzlich feststellen. Für die erste Große Koalition auf Bundesebene wird man dies gar nicht sagen können: Die Union war die größere Partei, stellte den Kanzler - aber nach der nächsten Wahl gab es eine Mehrheit für eine sozial-liberale Koalition, weil die SPD deutlich dazu gewonnen hatte. Was Sie ansprechen, wird häufig für die zweite Große Koalition diskutiert. Die Politik der Großen Koalition spiegelte viele Positionen der SPD wider, zum Beispiel die Wende in der Familienpolitik. Die Wähler schrieben die Erfolge des Regierungsbündnisses aber tatsächlich überwiegend CDU und CSU zu.

Zu Beginn sprachen Sie davon, dass die erste Große Koalition einen Wendepunkt im Parteiensystem markierte. Wie ist das momentan: Könnte eine neue Große Koalition ebenfalls einen Wendepunkt markieren, falls die Parteien in der Folge schwarz-grüne oder rot-rot-grüne Bündnisse auf Bundesebene eingehen?

Eine kommende Große Koalition könnte eher einen Schlusspunkt des aktuellen Parteiensystems markieren. Wenn die Parteien Große Koalitionen dauerhaft verhindern wollen, müssen sie sich bewegen. Zwei Richtungen sind denkbar. Geht die SPD eine rot-rot-grüne Koalition ein, dann verstärkt sich die bipolare Struktur des Parteiensystems - mit SPD, Grünen und Linkspartei als Mitte-Links-Block. Das würde uns Große Koalitionen ersparen, dann hätte immer einer der beiden Blöcke eine Mehrheit im Bundestag, zumindest solange nicht künftig Parteien wie die Alternative für Deutschland oder die Piratenpartei ins Parlament einziehen. Eine andere Option wäre eine schwarz-grüne Koalition: Damit würde sich die Lagerpolarisation auflockern. Dann könnten Regierungsbündnisse über die Blockgrenzen hinaus gebildet werden. Im Augenblick wissen die Parteiführungen aber noch nicht, ob sie sich das trauen sollen.

Prof. Dr. Reimut Zohlnhöfer

Reimut Zohlnhöfer (© Reimut Zohlnhöfer )

Reimut Zohlnhöfer ist Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Regierungspraxis, die Politikfeldanalyse sowie die Wirtschafts- und Sozialpolitik der entwickelten westlichen Demokratien.

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