Heute konstituiert sich der neue Bundestag, aber eine neue Regierungskoalition ist noch nicht geschlossen, ein Kanzler wird vorerst nicht gewählt – was passiert nun eigentlich mit der Regierung?
Das klärt ein Blick in das Grundgesetz, und zwar in den Artikel 69. Die Amtszeit der Regierung endet mit dem Zusammentritt des neuen Bundestages, nach der diesjährigen Wahl also am 22. Oktober. Der Bundespräsident kann aber die bisherige Regierung ersuchen, die Geschäfte bis zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers weiterzuführen. „Ersuchen“ ist ein Begriff, den wir im Alltag nicht so häufig benutzen. Diese Formulierung bedeutet, dass der bisherige Kanzler und die Minister in der Regel verpflichtet sind, die Regierungsgeschäfte weiterzuführen. Bis ein neuer Regierungschef gewählt ist, haben wir eine geschäftsführende Regierung.
Könnte Deutschland theoretisch ganz ohne Regierung dastehen?
Nein, aufgrund der Regelung über eine geschäftsführende Regierung gibt es keinen Zustand der Regierungslosigkeit. Dies soll Zeiten ohne handlungsfähige Regierung vermeiden.
Gab es eine solche längere Phase ohne neue Regierung nach einer Wahl schon einmal in der Geschichte der Bundesrepublik?
Wir können zum Beispiel auf die Entstehung der Großen Koalition, also des Regierungsbündnisses zwischen CDU und SPD, im Jahr 2005 schauen. Damals wurde Mitte September ein neuer Bundestag gewählt. Rot-Grün unter dem SPD-Kanzler Gerhard Schröder erhielt keine Mehrheit mehr. Nach dem Grundgesetz muss der neue Bundestag spätestens 30 Tage nach der Wahl zusammentreten. Das war Mitte Oktober. Zu dem Zeitpunkt waren die Koalitionsverhandlungen aber noch längst nicht abgeschlossen. Erst am 22. November, also zwei Monate nach der Wahl und einen Monat nach der ersten Bundestagssitzung, die ja das offizielle Amtsende der rot-grünen Regierung bedeutete, wurde Angela Merkel zum ersten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt. Bis dahin war für einen Monat die Regierung Schröder geschäftsführend im Amt.
Welche Befugnisse hat eine geschäftsführende Bundesregierung eigentlich?
Rechtlich hat sie alle Befugnisse einer regulären Regierung. Sie kann also das tun, was Regierungen üblicherweise tun: Vorschläge für Gesetze unterbreiten, einen Haushalt einbringen und Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften erlassen oder Personalentscheidungen treffen. Da die geschäftsführende Regierung aber im Parlament keine eigene Mehrheit mehr hat, stößt ihre Gestaltungskraft schnell an Grenzen. Nehmen wir zum Beispiel an, die geschäftsführende Regierung mit CDU- und FDP-Ministern würde einen Gesetzesvorschlag unterbreiten: Sehr wahrscheinlich würde sich dafür im neuen Bundestag keine Mehrheit finden.
Was heißt das konkret für die Arbeit der Regierung, muss sie sich politisch zurückhalten?
Richtig. Von Rechts wegen ist eine geschäftsführende Regierung voll handlungsfähig, es wird aber von ihr erwartet, dass sie sich mit Blick auf die kommende Regierung zurückhaltend verhält und nur die notwendigsten Amtsgeschäfte erfüllt. Sie ist also sozusagen dafür da, den "Laden am Laufen" zu halten.
Gibt es bestimmte Aufgaben, die eine geschäftsführende Bundesregierung sofort erfüllen muss?
Bislang waren die Amtszeiten geschäftsführender Bundesregierungen sehr überschaubar. Wirklich wichtige Entscheidungen konnten da auch warten. Die Handlungsfähigkeit einer geschäftsführenden Regierung ist vor allem in Krisenzeiten von Bedeutung, wenn es auf schnelle Entscheidungen ankommt, etwa im Fall einer Naturkatastrophe oder eines Terroranschlages. Natürlich ruhen auch die internationalen Beziehungen nicht, nur weil in Deutschland gewählt wurde. Aber auch hier gilt, dass ein geschäftsführender Außenminister Deutschland zwar weiter repräsentiert, wichtige internationale Abmachungen aber von der neuen Regierung geschlossen werden.
Die FDP ist nicht mehr im Bundestag vertreten. Wäre es möglich, dass ihre Minister aus dem Kabinett ausscheiden und die Kanzlerin diese Ämter neu besetzt?
Theoretisch ja. Die Regel ist aber, dass die bisherigen Regierungsmitglieder auch die geschäftsführende Regierung bilden. Bliebe ein FDP-Minister nicht geschäftsführend im Amt, müssten andere CDU/CSU-Minister den Job mit übernehmen. Neue Minister können nicht berufen werden. Das nennt man Versteinerungsprinzip.
Ausblick: Im Gegensatz zur Konstituierung des Bundestags definiert das Grundgesetz für die Wahl eines neuen Bundeskanzlers keine Frist nach der Wahl. Das heißt, es könnte theoretisch noch Monate dauern, bis ein neuer Kanzler gewählt ist?
Das stimmt, es wird aber nicht ewig dauern – aus zwei Gründen: Erstens ging es, schaut man in die Geschichte der Bundesrepublik, mit den Koalitionsverhandlungen bislang immer verhältnismäßig zügig. Zweitens würde sich, könnten sich die Parteien auf keine Koalition einigen, der Bundespräsident einschalten. Er kann von sich aus einen Kandidaten zur Wahl als Bundeskanzler vorschlagen.
Wenn es im Bundestag dauerhaft keine Mehrheit für einen neuen Kanzler gibt – was passiert dann? Ein Selbstauflösungsrecht hat das Parlament ja nicht.
Der eben schon erwähnte Bundespräsident ist hier von Bedeutung. Stellen wir uns vor, ein Kanzlerkandidat erhält auch in einem dritten Wahlgang keine Stimmenmehrheit. Dann kann der Bundespräsident entweder den Kandidaten, der die meisten Stimmen errungen hat, zum Minderheitenkanzler ernennen oder den Bundestag auflösen und Neuwahlen ansetzen.
Prof. Dr. Helmar Schöne
Helmar Schöne ist Professor für Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Er hat sich in seinen Forschungsarbeiten mit dem Deutschen Bundestag und dem Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt.