„Nice white parents“
Was mit der Suche nach einer Schule für ihr Kind begann, entwickelte sich für Chana Joffe-Walt, Journalistin und weiße Mutter in New York, zu einer paradoxen Selbsterkenntnis: Kann es sein, dass gerade wir, die liberalen, aufgeklärten und fortschrittlich denkenden Eltern - die „nice white parents“ - Teil des Problems sind und die soziale Spaltung der Schüler:innenschaft im Grunde vorantreiben?
Nice white parents – so nennt Joffe-Walt weiße Eltern aus der oberen Mittelschicht, die sich eigentlich dem Wert der Diversität, also der sozialen und kulturellen Durchmischung der Schulgemeinschaft verbunden fühlen und mit diesen Überzeugungen die Sisyphusarbeit aufnehmen, das Schulsystem für alle Kinder gerechter zu gestalten. Sie merken jedoch nicht, dass sie es sind, die den Felsbrocken immer wieder zum Rollen bringen und unbemerkt diejenigen überrollen, für deren Wohl sie zu kämpfen glauben. Denn das, wofür sie sich mit scheinbar besten Absichten einsetzen, so Joffe-Walts Erkenntnis, ist keineswegs immer im Interesse der weniger privilegierten Kinder und ihrer Eltern.
Dieser Podcast zeichnet in fünf Episoden ein Bild davon, wie der Einfluss engagierter Mittelschichtseltern das Ziel eines gerechten Schulsystems unterläuft.
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Zur Vorgeschichte
Seit mehr als 20 Jahren wird in New York, der Stadt mit den sozial am stärksten voneinander abgegrenzten Schulen in den USA, versucht, die Schullandschaft für alle gerechter zu gestalten. Doch wie auch hierzulande haben alle Bildungsreformen dieses Ziel letztlich nicht erreicht: Im Jahr 2015 beginnt die Journalistin Chana Joffe-Walt zu recherchieren, warum Amerikas öffentliches Schulsystem Schwarze und Kinder of Colour benachteiligt. Dafür besucht sie eine weiterführende Schule in einer sozial benachteiligten Nachbarschaft in Brooklyn, die „School for International Studies“ (SIS Middleschool), die einen unerwarteten Anstieg der Anmeldezahlen um 200 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Hatten sich zuletzt 30 Kinder aus latein- und afroamerikanischen sowie arabischen Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status für die sechste Klassenstufe angemeldet, kommen nun 70 weiße Kinder von Eltern mit hohem sozioökonomisch Status dazu, die es sich zum Ziel gemacht haben, diese Schule zu einer „besseren Schule“ zu machen – und daran scheitern. So sammeln sie zwar erfolgreich Spenden, um etwa ein Französischprogramm an der Schule zu etablieren, übergehen dabei aber das bereits bestehende Spendenkomitee der länger ansässigen Eltern. Das Programm zieht schließlich die Aufmerksamkeit renommierter Institutionen auf sich, nützt jedoch vor allem den eigenen, französischsprechenden Kindern. In dieser Kluft zwischen dem Denken und Handeln weißer Mittelschichteltern, die einerseits offensiv für Vielfalt und Integration eintreten, andererseits aber immer wieder in einer Weise handeln, die vor allem den eigenen Kindern zugutekommt, erkennt Joffe-Walt einen großen Teil des Problems.
Bei ihren Recherchen entdeckt sie, dass es bereits eine über 60 Jahre andauernde, wechselvolle Beziehung zwischen progressiven weißen Mittelschichtseltern und der SIS Middleschool gibt und vergleichbare Bemühungen bereits in der Vergangenheit aus ähnlichen Gründen scheiterten. Die Geschichte wiederholt sich. Wie Joffe-Walt lernt, ist die Schule ein Ort, an dem es schwer ist, Erinnerungen zu bewahren, da Schülerinnen und Schüler, Lehrkräfte und Eltern eben immer wieder wechseln. Das Muster, das Joffe-Walt hier am Beispiel einer einzelnen Schule beobachtet, findet sie auch auf der politischen Ebene wieder: Die Anliegen gut situierter weißer Eltern erhalten deutlich größeres Gewicht als die weniger privilegierter Familien – und bestimmen damit am Ende den Kurs.
Das Empfinden weißer Eltern hat Priorität: gestern und heute
Mitte der 1960er Jahre brachte die schlechte Qualität der New Yorker Schulen, die vor allem schwarze Kinder und Kinder of Colour besuchten, ihre Eltern dazu, einen Protest unter dem Namen „Freedom Day“ zu organisieren. An diesem Tag blieben eine halbe Millionen Kinder zu Hause, während ihre Eltern für Integration demonstrieren gingen. Ihr Argument: Ihre Schulen seien schlecht ausgestattet und ihre Kinder erhielten keinen guten Unterricht solange sie nicht zusammen mit weißen Kindern zur Schule gingen. Die Schulbehörde schenkte den Forderungen Gehör und stellte erste Pläne für eine stärkere soziale Durchmischung der Schüler:innenschaft vor. Das wiederum rief Eltern sozial privilegierter Milieus auf den Plan, die aus Sorge, dass sich damit die Lernbedingungen für ihre eigenen Kinder verschlechtern könnten, gegen diese Pläne auf die Straße gingen. Obwohl der Gegenprotest im Vergleich zum Freedom Day von einer sehr viel kleineren Gruppe getragen wurde, fand er in der Presse weitaus mehr Beachtung. Unter dem Druck dieser gut vernetzten und einflussreichen Eltern gab die Schulbehörde ihre Integrationspläne auf – und stellte sich damit auf die Seite einer Minderheit weißer Eltern.
Dabei ist die Tatsache, dass weiße Mütter in den 1960er Jahren ihren Teil zur Verfestigung der Segregation, also der Trennung von sozialen Gruppen, beitrugen, indem sie etwa gegen eine stärkere soziale Durchmischung der Schule und überfüllte Schulbusse protestierten, für Joffe-Walt nicht überraschend. Ihre These ist jedoch, dass die weniger lautstark auftretenden, progressiv gesinnten Nice White Parents ebenso Verantwortung für das Scheitern der Integration tragen. Denn allzu häufig gingen sie mit ihren Bemühungen über die Interessen und Wünsche derer hinweg, für die sie einzutreten glauben – oder träfen für ihre Kinder wider besseres Wissen am Ende eben doch Bildungsentscheidungen, die schlechtere Lernbedingungen für weniger privilegierte Kinder zur Folge haben.
In der Geschichte der SIS Middleschool, wird diese Dynamik in all ihren Facetten sichtbar – so auch schon bei ihrer Gründung.
Nicht weiße Eltern, sondern Nice White Parents sind das Problem
1960 plante die Stadt New York den Bau einer neuen Schule für einige Wohnsiedlungen, in denen vor allem schwarze und spanischstämmige Familien leben. 1963 erhielt die Schulbehörde passionierte Briefe von weißen, liberalen Müttern und Vätern, die sich für einen anderen Standort einsetzten, nämlich zwischen diesen Siedlungen und ihrem eigenen, überwiegend weißen Stadtviertel. Ihr Plädoyer: Mit einer Schule zwischen den Vierteln würden Schüler:innen aus beiden Stadtteilen dieselbe Schule besuchen und von Integration und Diversität profitieren. Die Schulbehörde baute die Schule schließlich näher an das weiße Viertel heran. Als sie fünf Jahre später eröffnet wurde, schickte aber keines der weißen Elternteile seine Kinder dorthin. Joffe-Walt fragte bei den Eltern nach und erhielt verschiedenste Begründungen: Der Bau der Schule dauerte zu lange, es war zu chaotisch, die dort lernenden Kinder seien zu laut und störend. Joffe-Walt macht hinter den wortreichen Begründungen der Eltern jedoch ein Leitmotiv aus: „Vielfalt ja! Aber bitte nicht auf Kosten meines Kindes“. Ihr Resümee: Mögen sie sich dem Kampf für ein gerechteres Schulsystem noch so verpflichtet sehen, letzten Endes sind die bürgerlichen Mittelschichteltern immer darum bemüht, ihre Kinder in die besten Schulen zu bringen und ihnen die größtmöglichen Bildungschancen zu sichern – auch wenn dies ein weniger anregungsreiches Lernmilieu und geringere Bildungschancen für andere Kinder bedeutet.
Im Ergebnis war die Schule, die von der Schulbehörde schließlich unter dem Namen „School for International Studies“ (SIS Middleschool) gegründet wurde, nicht nur sozial segregiert. Sie war zudem relativ weit entfernt von der Gemeinde, für die sie ursprünglich geplant worden war, sodass die Schule nur mit Bussen zu erreichen und der Schulweg somit unnötig lang war.
Aus den Fehlern lernen
Progressive Mittelschichtseltern, so Joffe-Walt, könnten nicht ihre eigenen Bildungsprivilegien schützen und zugleich ihre Identität als engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich für eine gerechtere Schulen einsetzen, aufrechterhalten. Und sie fährt fort: „Wir haben eine Wahl. Wir können uns dafür entscheiden, Ressourcen zu horten, uns abzugrenzen und zu fliehen, sobald es unangenehm wird. Oder wir können uns dafür entscheiden, die Menschen zu sein, für die wir uns ausgeben.“ Das Ziel der öffentlichen Schule seit ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts bestehe darin, jedem Kind gerecht zu werden. Dieses Ziel wurde bisher nicht erreicht. Doch die Hoffnung, dass ein solches Schulsystem möglich ist, so Joffe-Walt, dürfen wir nicht aufgeben.
Immer wieder springt Chana Joffe-Walt in ihrem Podcast gekonnt von der Vergangenheit in die Gegenwart, um zu verdeutlichen: Das Verständnis der Vergangenheit ist der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. Dabei entsteht eine scharfsinnige Aufarbeitung der Geschichte im Kampf um Gerechtigkeit an öffentlichen Schulen in New York und was ihr seit jeher im Weg steht.
Das deutsche Schulsystem ist in vielerlei Hinsicht ganz anders organisiert. Deshalb hat der Kampf um Chancengleichheit hierzulande eine andere Gestalt – und doch erscheint die Geschichte, die hier erzählt wird, alles andere als fremd: Schicken nicht progressive und reformorientierte Eltern ihr Kind am Ende doch lieber auf das Gymnasium als an die viel gelobte Gesamtschule? Meiden sie nicht auch systematisch die Grundschulen ihrer Nachbarschaft, die einen hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund haben? Die Geschichte, die Chana Joffe-Walt hier erzählt, ist zumindest im Kern irgendwie auch die unsere. Hören Sie selbst!